Parlamentskorrespondenz Nr. 882 vom 12.12.2001

NEUTRALITÄT VERSUS ALLIANZFREIHEIT

Nationalrat nimmt Sicherheitsdoktrin mehrheitlich zur Kenntnis

Wien (PK) - Die Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin bzw. deren Analyseteil stand im Mittelpunkt der Debatte des Nationalrats im Anschluss an die Behandlung des Dringlichen Antrags.

Abgeordneter Dr. EINEM (S) bedauerte, dass heute über eine neue österreichische Sicherheitsdoktrin diskutiert werde, die nicht von allen vier Parteien getragen wird. Gerade für ein kleines Land wäre es nämlich wichtig gewesen, eine gemeinsame Grundlage in dieser Frage zu finden, um mit einer Stimme zu sprechen. Im wesentlich sah er drei Gründe dafür, warum ein Konsens gescheitert ist. So wurde von ÖVP und FPÖ quasi gebetsmühlenartig darauf hingewiesen, dass Österreich  nicht neutral sei, sondern allianzfrei. Ein weiteres Problem war, dass vor allem die ÖVP unbedingt der Nato beitreten will. Überdies habe man den Eindruck gewonnen, dass den Regierungsfraktionen in der Frage der Anwendung von militärischer Macht die Herrschaft des Rechts nichts bedeute.

Wir gehen davon aus, betonte Einem, dass das neutrale Österreich schon im Frieden für den Frieden arbeiten muss. Deshalb stehe das SP-Konzept für die Herrschaft des Rechts, mehr Demokratisierung, den sozialen und wirtschaftlichen Ausgleich, für eine Kommunikation auf der Basis der gleichberechtigten Partnerschaft und für eine Vertiefung und Erweiterung der EU.

Abgeordneter Dr. SPINDELEGGER (V) konstatierte seinem Vorredner, konstruktiv an den Beratungen zur Sicherheitsdoktrin mitgearbeitet zu haben. Auch er stellte mit Bedauern fest, dass kein Konsens gefunden werden konnte, da sich, wie er sagte, die SPÖ aus dem Prozess ausgeklinkt hat. Den Sozialdemokraten fehle die staatspolitische Verantwortung, kritisierte Spindelegger, denn mit einer "Fata Morgana" und einem Trugbild werde man nicht weit kommen; zudem könne man Sicherheit nicht haben, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Letztlich war er allerdings nicht überrascht, denn die Sozialdemokraten haben seiner Meinung nach seit jeher ein gestörtes Verhältnis zur Landesverteidigung.

Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhanges war es klar, dass man einer Fortentwicklung der Sicherheitsdoktrin arbeiten müsse, führte der Redner weiter aus. Spindelegger zeigte sich erfreut darüber, dass nach achtmonatigen Gesprächen eine hervorragende und moderne Doktrin erarbeitet wurde, die u.a. auf die Risken eingeht, die seit dem 11. September bestehen, und die für die Ressorts klare Handlungsanleitungen enthält. Zudem werde ein Zeichen gegen internationalen Terrorismus, Schlepperei und Menschenhandel gesetzt und eine klare Planung in Richtung gemeinsame europäische Verteidigung vorgegeben. In der Verteidigungspolitik werde darauf abgezielt, dass die Ausrüstung des österreichischen Bundesheers ein sehr hohes technisches Niveau aufweist, was eine effiziente Luftraumüberwachung inkludiert.

Abgeordneter Dr. PILZ (G): Wir stehen wieder vor einem Optionenbericht, da es auf alle wesentlichen Fragen keine eindeutige Antworten gebe. Wenn man will, könne man aus der Doktrin einen Nato-Beitritt oder ein europäisches Bündnis oder auch eine Allianzfreiheit herauslesen. Es sei unbestritten, dass sich seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems die Sicherheitssituation in Europa grundlegend geändert hat. Es gehe nun um die grundsätzliche Frage, wird Europa die Verantwortung für die Sicherheit selbst übernehmen oder delegiert es sie an die USA.

Zudem müsse man sich entscheiden, ob die globalen Sicherheitsfragen von der letzten verbliebenen Supermacht oder einem neuen globalen System der Rechtsstaatlichkeit beantwortet werden. Dieses neue Regime bestehe seiner Meinung nach aus der UNO, aus Konventionen, aus einem reformierten Sicherheitsrat und sowie aus Mandaten. Was er sich erwarte, sei eine europäische Perspektive, d.h. eine solidarische und demokratisierte Sicherheitspolitik, die auf einer verfassungsmäßigen Grundlage basiert. Für Österreich gelte für das Motto, "alles abrüsten, was wir nicht mehr brauchen", denn dann werde man plötzlich 30 bis 40 Mrd. S mehr haben für Bildung, für Armutsbekämpfung und für Investitionen in die Zukunft.

Abgeordneter JUNG (F) warf der SPÖ vor, eine zwiespältige Linie zu vertreten. Er erinnerte die Sozialdemokraten u.a. daran, dass in der Vergangenheit mehrmals gegen die klassische Neutralitätsdefinition verstossen wurde. Die früheren Bundesregierungen haben es zudem verabsäumt, auf die völlig veränderte sicherheitspolitische Situation entsprechend zu reagieren. Aus diesem Grund habe man eine neue, fortschrittliche Doktrin erarbeitet und klar gestellt, dass es auch in Zukunft keine Bündnismitgliedschaft ohne vorheriger Durchführung einer Volksabstimmung gibt. Aber kleine Staaten können nicht mehr im Alleingang arbeiten, gab er zu bedenken, weshalb prioritär eine europäische Kooperation zwischen souveränen Staaten, d.h. ohne Aufgabe der Letztentscheidungsmöglichkeit, angestrebt werde.

Verteidigungsminister SCHEIBNER wertete den vorliegenden Entschließungsantrag als wichtigen Meilenstein für die österreichische Sicherheitspolitik. Es hätte auch ein historischer Moment sein können, meinte er, wenn alle über ihren parteipolitischen und ideologischen Schatten gesprungen wären und es gelungen wäre, zu einem Konsens zu kommen. Scheibner zufolge wird es aber auch ohne Konsens jedenfalls eine Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin geben, weil sie notwendig sei.

Der Verteidigungsminister betonte, es gebe eine Fülle neuer Bedrohungsszenarien für Österreich, wobei er etwa nationalistische und fundamentalistische Auseinandersetzungen in bzw. um Europa oder die Gefährdung durch nichtkonventionelle Waffen nannte. Die Regierung wolle den Schwerpunkt bei der Prävention setzen und alles tun, damit Krisen gar nicht entstehen bzw. im Vorfeld abgewendet werden können, sagte er, es bedürfe aber auch einer militärischen Komponente, wenn die Krisenbewältigung mit anderen Mitteln nicht möglich sei.

Zur Frage der Neutralität merkte Scheibner an, spätestens seit dem EU-Beitritt sei der Status eines dauerhaften neutralen Staates für Österreich nicht einzuhalten. Ihm zufolge besteht ein nicht zu vereinbarender Widerspruch zwischen der dauernden Neutralität und Art. 23f der Bundesverfassung, da dieser auch die Teilnahme des Bundesheeres an Kampfeinsätzen zur Friedensschaffung im Rahmen von EU-Aktionen ermögliche. Als längerfristige Vision sieht Scheibner eine Sicherheitsgemeinschaft aller demokratischen Staaten. 

Abgeordneter GAAL (S) gab der Koalition die Schuld am Nichtzustandekommen eines Konsenses über die Sicherheitsdoktrin. Die SPÖ habe sich bemüht, auf Grund der starren Haltung der Regierungsfraktionen, vor allem der ÖVP, sei es aber nicht möglich gewesen, auf breiter Basis einen Konsens zu erzielen. Nun werde es eine "schwarz-blaue Doktrin" geben, bedauerte Gaal.

Der Abgeordnete wandte sich strikt gegen einen Beitritt zur Nato und betonte, ein Nato-Beitritt bringe nicht mehr Sicherheit, sondern verringere vielmehr den sicherheitspolitischen Spielraum. "Wo ist der Nutzen für Österreich?" fragte er. Für Gaal ist die Nato zwar ein funktionierendes Militärbündnis, aber nicht für den Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems geeignet. Darüber hinaus mahnte er einen umfassenden Sicherheitsbegriff ein, der weit über den militärischen Bereich hinausgehe.  

Abgeordneter MURAUER (V) betonte in Richtung seines Vorredners, von einem Überfahren der Opposition bei der Ausarbeitung der Sicherheitsdoktrin könne keine Rede sein. Zudem warf er der SPÖ vor, in Sachen Neutralität ein "Mogelpaket" zu schnüren. Man lege den Österreichern eine Schachtel auf den Gabentisch und hoffe, dass niemand hineinschaue und merke, dass die Neutralität eine andere Entwicklung genommen habe, meinte er.

Murauer hält es für selbstverständlich, dass man sich in Österreich mit der Nato auseinandersetzt und sich an ihr ausrichtet. Schließlich müsse man im Ernstfall in letzter Konsequenz froh sein, dass es die Nato gebe. Dass die in Aussicht genommene Sicherheitsdoktrin eine umfassende und keine reine Verteidigungsdoktrin ist, zeigt sich für den Abgeordneten schon allein dadurch, dass der Prävention ein hoher Stellenwert eingeräumt werde und auch das Außen- und das Innenministerium in die Ausarbeitung miteingebunden gewesen seien.

Abgeordnete Dr. LICHTENBERGER (G) konstatierte hingegen, die Koalition habe sich längst vom angekündigten Plan, eine umfassende Sicherheitsdoktrin zu erstellen, verabschiedet und sich allein auf einen militärischen Sicherheitsbegriff konzentriert. Eine umfassende Definition von Sicherheit habe sich weder im Dokument noch in den Beratungen niedergeschlagen. So habe lediglich Verteidigungsminister Scheibner an den Beratungen im Ausschuss teilgenommen und auch heute sitze er alleine auf der Regierungsbank. "Eine verpasste Chance auf der ganzen Linie." Verärgert zeigte sich Lichtenberger außerdem über den Titel "Von der Neutralität zur Solidarität".

Abgeordneter Dr. BÖSCH (F) erklärte, es sei die SPÖ gewesen, die de facto die Neutralität abgeschafft habe. Die nunmehrige Regierung beschreibe lediglich die verfassungspolitische Realität, die von der SPÖ geschaffen worden sei, und schenke den Menschen reinen Wein ein, anstatt ihnen ein X für ein U vorzumachen, umriss er. Die vorliegende Sicherheitsdoktrin garantiert Bösch zufolge die Verfolgung einer modernen, umfassenden Sicherheitspolitik auch in Zukunft.

Abgeordneter PRÄHAUSER (S) führte aus, er verstehe nicht, warum FPÖ und ÖVP so vehement "aus der Neutralität heraus wollen ". Eine Erklärung dafür seien die beiden Parteien bisher schuldig geblieben. Die SPÖ wolle die Neutralität bewahren, bekräftigte der Abgeordnete, während die Regierung von Bündnisfreiheit spreche und als "Hintertürchen" den Weg in die Nato offen lassen möchte.

Abgeordnete Mag. FRIESER (V) bedauerte, wie sie sagte, zutiefst, dass es nicht zu einer Vier-Parteien-Einigung über die Sicherheitsdoktrin gekommen ist. Ein solcher Konsens wäre ihrer Meinung nach der Bedeutung und Tragweite des Themas angemessen gewesen und hätte auch die Geschlossenheit des Parlaments in Sicherheitsfragen aufzeigen können. Die Sicherheitspolitik sei aber immer schon ein Stiefkind der SPÖ gewesen, meinte sie. Für Frieser hatte die Neutralität früher Bedeutung, heute hingegen gelte es auf Solidarität zu setzen und sich den vielfältigen Bedrohungen gemeinsam zu stellen.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) klagte, die außenpolitischen Aspekte seien in der Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin zu kurz gekommen, stattdessen habe man die militärischen Aspekte in den Vordergrund gerückt. Gegenteilige Aussagen seitens der Koalition stimmten einfach nicht. So spiegle die Doktrin eine friedenspolitisch orientierte Außenpolitik, wie sie die Grünen wünschten, nicht wider.

Abgeordneter Dr. KURZMANN (F) zeigte sich erfreut darüber, dass Österreich nach mehr als 25 Jahren eine neue, "moderne", Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin erhalte. In nur wenigen Monaten sei eine sehr gute Arbeit geleistet worden, skizzierte er. Der SPÖ hielt Kurzmann vor, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu wollen und so zu tun, als habe sich seit dem Abschluss des Staatsvertrages 1955 nichts geändert. Dem gegenüber greife die neue Sicherheitsdoktrin aktuelle Entwicklungen auf und berücksichtige beispielsweise neue Bedrohungsformen.

Abgeordnete HAGENHOFER (S) wies darauf hin, dass die Regierung das Wort Neutralität vermeide und von Allianzfreiheit spreche. Sie wertet das als "ein Davonschleichen aus der Neutralität" und als Vorbereitung eines Nato-Beitritts. Warum sich die SPÖ aus den Verhandlungen "ausgeklinkt" habe, begründete Hagenhofer damit, dass die Koalition den Nato-Beitritt als Option festschreiben und als gleichwertige Möglichkeit wie die Beibehaltung der Neutralität nennen wollte.

Abgeordneter LOOS (V) machte geltend, Österreich habe sich auch in der Vergangenheit nicht immer als dauernd neutraler Staat verhalten. Die ÖVP sei aber realistisch genug zu wissen, dass eine Gesetzesänderung hinsichtlich der Neutralität nur mit Zweidrittel-Mehrheit möglich wäre, sagte er. Die Sicherheits- und Verteidigungsdoktrin beurteilte er als "eine sehr umfassende Angelegenheit".

Abgeordneter DI KUMMERER (S) wies die Aussage von Abgeordnetem Spindelegger striktest zurück, wonach die SPÖ ein gestörtes Verhältnis zum Bundesheer habe. Ihm zufolge ist "das letzte brauchbare Papier" für das Bundesheer zu Zeiten der Alleinregierung der SPÖ beschlossen worden. Zur Sicherheitsdoktrin merkte der Abgeordnete an, es sei sicher nicht alles, was dort drinnen stehe, nicht brauchbar. Die SPÖ werde jedenfalls für eine weitere Diskussion im Hinblick auf eine sinnvolle Landesverteidigung zur Verfügung stehen.

Abgeordneter Mag. HARTINGER (F) sprach von einer effizienten, gesamtheitlichen Doktrin. Es gehe nicht nur um militärische Bedrohungsszenarien, die es für Österreich de facto nicht mehr gebe, sondern auch um andere Bedrohungsszenarien wie internationalen Terror, Drogenhandel, Menschenhandel, atomare Bedrohung oder Waffenhandel. Für deren Bekämpfung bedarf es ihrer Auffassung nach aber vernetzter Strukturen und der Kooperation aller Beteiligten.

Abgeordneter PARNIGONI (S) meinte, die Regierung fasse den Sicherheitsbegriff zu eng, und bemängelte das Fehlen von Konzepten zur sozialen Sicherheit. Aber auch im Bereich der militärischen Sicherheit müssten die Überlegungen umfassender angestellt werden, monierte der Redner, der sich expressis verbis zur Neutralität, die im übrigen noch von keinem einzigen Staat der Welt in Frage gestellt worden sei und von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung nach wie vor gewünscht werde, bekannte.

Abgeordneter GRAF (F) erinnerte daran, dass Österreich der EU ohne Neutralitätsvorbehalt beigetreten sei und sich zur Mitarbeit in der GASP bekannt habe. Man müsse sich also weiterentwickeln. Der Sicherheitsbereich sei ein so wichtiger, dass sich alle dazu bekennen sollten, appellierte der Redner an die Opposition.

Der Bericht des Landesverteidigungsausschusses wurde mehrheitlich angenommen. (Schluss Sicherheitsdoktrin/Forts. NR)