Parlamentskorrespondenz Nr. 114 vom 06.02.2008

Bringt der EU-Reformvertrag im Grundrechtsbereich einen Mehrwert?

Verfassungsausschuss: Thema Grundrechte im EU-Reformvertrag

Wien (PK) - Im letzten Teil der Sitzung des Verfassungsausschusses behandelten die Abgeordneten das Thema "Stärkung der Grund- und Bürgerrechte", wobei vor allem die Frage im Mittelpunkt stand, ob und inwieweit der Vertrag in diesem Bereich einen Mehrwert gegenüber dem aktuellen Zustand darstellt. Mit dem EU-Reformvertrag mitverhandelt werden ein Antrag und zwei Entschließungsanträge der FPÖ (284/A(E), 407/A(E), 394/A) sowie ein Entschließungsantrag der Grünen (343/A(E)).

Die Stimmen der Experten

Walter Obwexer äußerte in der einleitenden Runde mit Statements von Experten die Ansicht, der Grundrechtsschutz werde gegenüber dem Status quo eindeutig verbessert, zumal die geltenden Rechte verbindlich festgeschrieben und inhaltlich ausgedehnt werden, ohne dass dadurch die nationalen Verfassungsgerichte ihre Grundrechtskompetenzen verlieren. Er hob insbesondere die nunmehrige Rechtsverbindlichkeit der Grundrechts-Charta hervor, sah es aber als kleinen Schönheitsfehler, dass sie nicht Teil der EU-Verträge werde. Von der Verankerung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze erwartete er sich generell eine Dynamisierung der Grundrechte durch die Rechtssprechung des EuGH. Positiv bewertete Obwexer auch den Umstand, dass die Grundrechts-Charta nun direkte Verbindlichkeit für die EU-Organe und die Mitgliedstaaten bei Anwendung von EU-Recht entfaltet. Als verfahrensrechtliche Verbesserungen begrüßte er ausdrücklich die Eil-Vorabentscheidung bei inhaftierten Personen sowie die individuelle Anfechtbarkeit von Verordnungen und Richtlinien durch den direkt Betroffenen. Als Mehrwert des Vertrages interpretierte er schließlich auch die Einführung von Bürgerrechten und die Stärkung der demokratischen Mitwirkung.

Bernd-Christian Funk qualifizierte den Vertrag ebenfalls als Fortschritt und sprach von Rechtssetzungsschritten mit sehr vielen Unbekannten, die längerfristig zu Veränderungen führen werden und der Rechtssprechung und Praxis weiten Spielraum einräumen. Den Mehrwert des Vertrages sah er vor allem im Beitritt der EU zur MRK gelegen, da sich die Union dadurch dem individuellen Rechtsschutz unterstellt. Mit konkreten Auswirkungen auf die österreichische Rechtsordnung rechnete Funk vor allem im Bereich des Asyl- und Fremdenrechts als Folge des nunmehr auf EU-Ebene verankerten Rechts auf Asyl und internationalen Schutz. Dies werde zu wesentlichen Veränderungen führen und neue Perspektiven des Rechtsschutzes öffnen, meinte er. Konflikte mit der österreichischen Rechtsordnung wiederum könnten sich seiner Meinung nach durch das Grundrecht auf gute Verwaltung ergeben, das im Gegensatz zum österreichischen Amtshaftungsgesetz auf eine verschuldensunabhängige Staatshaftung abstellt.

Adrian Hollaender bezeichnete die Einführung neuer Grundrechte als prinzipiell wünschenswert und erfreulich, nicht aber als unbedingt notwendig, zumal es, wie er zu bedenken gab, Grundrechte und Individualbeschwerde bereits auf Basis der Menschenrechtskonvention gibt. Für Hollaender stellte sich die Frage, ob es sinnvoll sei, Rechte wie die sozialen Grundrechte zu verbürgen, die dann in der Praxis nicht justiziabel seien. Besser wäre es seiner Einschätzung nach gewesen, den Kern der Europäischen Menschenrechtskonvention auszubauen als allgemein gefasste Rechte zu verkünden, denen es dann an der konkreten Verbindlichkeit mangelt.

Die Debatte

Bundeskanzler Alfred Gusenbauer zeigte sich überzeugt, dass die Veränderungen zu einer Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger und zu einer stärkeren demokratischen Legitimation der EU beitragen werden. Die EU werde durch den Lissabon-Vertrag stärker parlamentarisiert und demokratisiert, stand für ihn außer Zweifel. Entscheidend war für Gusenbauer im Bereich der Grund- und Bürgerrechte die Rechtsverbindlichkeit der Charta. Der Katalog werde Maßstab für den Europäischen Gerichtshof und die nationalen Verwaltungen und Gerichte bei der Anwendung des gesamten EU-Rechts sein und den Geist und die Gesinnung der Union verankern. Die Grundrechte geben nach Ansicht des Bundeskanzlers Leitplanken für die zukünftigen europäischen Politiken vor.

Gusenbauer rechnete damit, dass die Grundrechts-Charta vor allem im Bereich der sozialen Rechte höhere Standards als die MRK gewähren werde. Sämtliche Veränderungen des Vertrags haben das Potential, konkrete Verbesserungen zu erreichen. Zu deren Verwirklichung liege es aber an den einzelnen Staaten und Bürgern, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Die Aufnahme der Grundrechte in den Vertrag, die weit über die wirtschaftlichen Zielsetzungen hinausgeht, zeigt nach den Worten des Bundeskanzlers den Reifungsgrad der politischen Union. Mit der Implementierung des Vertrags erhalte die EU nun die Chance, die vorhandene Kluft zwischen Brüssel und den Bürgern wieder zu schließen, stand für Gusenbauer fest.

Abgeordnete Elisabeth Grossmann (S) interpretierte den Vertrag als Willenserklärung der Mitgliedstaaten, die EU von einer rein wirtschaftlichen Union zu einer Gemeinschaft weiterzuentwickeln, die auf Gemeinsamkeit gründet und sich gemeinsame Ziele setzt. Den Mehrwert ortete Grossmann vor allem bei den sozialen Grundrechten, die ihrer Meinung nach eine Voraussetzung bieten, die sozialen Mindeststandards nach oben anzugleichen.

Abgeordnete Eva Glawischnig-Piesczek (G) kritisierte, einzelne Grundrechte würden unter der Maßgabe einzelstaatlicher Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten stehen. Auch sah sie Unklarheiten bezüglich des Zusammenspiels von EuGH, Menschenrechtsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof. Ihr Fraktionskollege Abgeordneter Albert Steinhauer zweifelte daran, dass die sozialen Grundrechte zur Entwicklung von Mindeststandards führen werden, zumal sie, wie er zu bedenken gab, nicht unmittelbar zur Anwendung kommen, sondern erst durch die nationale Gesetzgebung ausgefüllt werden müssen.

Abgeordneter Peter Fichtenbauer (F) lehnte weite Teile des Vertrags als "politische Propaganda" ab, da seiner Meinung nach Vieles bloß aus unverbindlichen Ankündigungen bestehe und keinerlei rechtlichen Mehrwert für die Bürger biete. Es sei eine Irreführung der Bevölkerung, so zu tun, als ob hier neue Rechte erfunden würden, die bisher noch nicht Gegenstand des Rechtsschutzes gewesen wären, sagte er. Die neuen Tatbestände bieten per se keinerlei individuelle Beschwerdemöglichkeiten, sonder bedürfen allesamt erst einer konkreten Ausformulierung, damit sie von den Bürgern überhaupt in Anspruch genommen werden können, meinte er unter Hinweis auf die sozialen Grundrechte, aber auch auf die Europäische Bürgerinitiative.

Diese Ansicht konnte Abgeordnete Beatrix Karl (V) nicht teilen. Sie sah den Mehrwert des Vertrages insbesondere darin, dass es nun eine Grundrechts-Charta mit wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten gibt, die sehr wohl auch individuell durchgesetzt werden können.

(Schluss)