Parlamentskorrespondenz Nr. 731 vom 16.06.2021

Nationalrat: EU-Erklärungen von Edtstadler und Gewessler zur Konferenz über die Zukunft Europas

BürgerInnen sollen sich auf allen Ebenen einbringen und die Weiterentwicklung der Union mitgestalten

Wien (PK) – Einen gemeinsamen Appell an die BürgerInnen, sich aktiv an der "Konferenz zur Zukunft Europas" zu beteiligen, richteten heute Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler und Umweltministerin Leonore Gewessler im Nationalrat. "Die EU steht heute vor einer existenziellen Bedrohung", zumal die großen Herausforderungen wie etwa der unvollendete Binnenmarkt, die Migrationsproblematik oder die Digitaliserung nach wie vor ungelöst seien, meinte Edtstadler, die sich für ein klares Benennen von Problemen aussprach. Ebenso wie Gewessler sah sie in der am 9. Mai gestarteten Konferenz eine einmalige Chance, auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens mitzudiskutieren und mitzugestalten. Als zentrale Herausforderungen sah Ministerin Gewessler neben der COVID-19-Pandemie die Bewältigung der Klimakrise, den Erhalt der Biodiversität sowie die Umsetzung des Green Deals an. An der Debatte nahmen auch die Abgeordneten des Europäischen Parlaments Simone Schmiedtbauer (ÖVP), Thomas Waitz (Grüne), Georg Mayer (FPÖ) und Claudia Gamon (NEOS) teil.

Edtstadler: Probleme klar benennen und gemeinsam an Lösungen arbeiten

Das vergangene Jahr habe ganz deutlich die Stärken, aber auch die Schwächen der EU zum Vorschein gebracht, stellte Europaministerin Karoline Edtstadler fest. Wer hätte sich vor der Corona-Krise vorstellen können, dass wieder einmal die Grenzbalken zwischen den Nachbarstaaten heruntergehen, dass PendlerInnen nicht mehr ohne Hürden täglich einreisen können und Familien plötzlich ohne ihre 24-Stunden-BetreuerInnen auskommen müssen. Auch wenn bei der Bewältigung der Pandemie vieles nicht perfekt gelaufen sei, habe auch einiges sehr gut funktioniert, konstatierte Edtstadler, die unter anderem auf die zahlreichen Wirtschaftshilfen, auf den milliardenschweren Wiederaufbaufonds sowie die gemeinsame Impfstoffbeschaffung verwies. Der Aussage des ehemaligen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel, der in einem Interview gesagt hat, "gäbe es die EU nicht, dann müssten wir sie jetzt gründen", könne man sich daher nur anschließen. Trotz der bestehenden Differenzen zwischen den Mitgliedstaaten konnte der "european way of life" und die damit verbundene Vision für eine Europa der Freiheit, des Friedens und des Wohlstands seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich umgesetzt werden, hob Edtstadler hervor. Nicht nachvollziehbar sei für sie daher, wenn manche eine Europaerklärung als "Provokation" oder "Ablenkungsmanöver" sehen.

Wenn einem Europa am Herzen liege, dann müsse es gleichzeitig aber auch erlaubt sein, Probleme offen anzusprechen, ohne gleich als Populist oder als antieuropäisch bezeichnet zu werden, betonte Edtstadler. Nüchtern betrachtet gleiche der aktuelle Zustand der Europäischen Union derzeit einer Baustelle, die EU stehe vor einer existenziellen Bedrohung. Betroffen mache sie auch die Tatsache, dass das Image der EU nirgends schlechter sei als in Österreich, wie eine vor kurzem durchgeführte Eurobarometer-Umfrage belege. Laut einer Studie des European Council on Foreign Relations sehe die Mehrheit der ÖsterreicherInnen die Union zudem als gescheitert an. Dies sei insofern richtig, als die großen Herausforderungen wie etwa der unvollendete Binnenmarkt, die Migrationsproblematik oder die Digitalisierung nach wie vor ungelöst seien. Sie könne daher nur alle BürgerInnen auffordern, sich aktiv an der Zukunftskonferenz zu beteiligen und in den Gemeinden, den Schulen und Vereinen ihre Ideen einzubringen. Um auch in den nächsten Jahrzehnten auf einem Kontinent zu leben, der auf sozialen Zusammenhalt und wirtschaftlicher Stärke basiert, brauche es nach Ansicht von Edtstadler jedenfalls ein echtes Bekenntnis zum Freihandel, den Abbau von Regulierungen, die Stärkung der Innovationskräfte, die rasche Integration der Länder des Westbalkans, die Bekämpfung der illegalen Migration sowie effiziente Maßnahmen gegen den Klimawandel.

Gewessler: Breiter Mitwirkungsprozess, um Arbeit der Union auf fitte Beine zu stellen und um ein lebenswertes Europa zu garantieren

Dem Aufruf von Edstadler, sich aktiv im Rahmen der EU-Zukunftskonferenz einzubringen, schloss sich auch Umweltministerin Leonore Gewessler an. Sie könne sich noch genau an den Tag des Referendums über den Beitritt Österreichs zur EU, den 12. Juni 1994, erinnern. Obwohl sie damals noch nicht abstimmen konnte, war es für sie ein Moment der Freude. Knapp 20 Jahre später habe sie nach sechsjähriger beruflicher Tätigkeit in Brüssel ihre Koffer gepackt und sei nach Österreich zurückgekehrt. Seit damals stehe auf ihrem Twitter-Profil "europäische Österreicherin", merkte die Ministerin an. Sie sei noch immer begeistert vom Projekt Europa, da es in den letzten Jahrzehnten viele großartige Fortschritte gab. Dennoch sei es manchmal wichtig, die "Pause-Taste" zu drücken und genau darauf zu schauen, was noch nicht optimal laufe.

Die am 9. Mai eröffnete Zukunftskonferenz biete nun genau die Möglichkeit für alle BürgerInnen, sich mit den offenen Fragen auseinanderzusetzen und gute Antworten zu finden. Nicht zuletzt die vergangenen Monate hätten gezeigt, wo noch Schwächen bestünden und wo es überall Verbesserungspotenzial gebe. Es sei sinnvoll, Strukturen und Mechanismen neu zu überdenken, denn nur dann könnten die notwendigen Anpassungen vorgenommen werden, war die Ministerin überzeugt. Das letzte Jahr könnte dann auch als Moment in die Geschichte Europas eingehen, in dem sich die EU zusammengesetzt und einen weiteren Schritt in die Zukunft gemacht habe. Im Rahmen eines breiten Mitwirkungsprozesses könne es gelingen, die Arbeit der Union auf frische, fitte Beine zu stellen, wobei die Prinzipien der Fairness, der Nachhaltigkeit sowie der Ressourcenschonung Beachtung finden müssten. Als zentrale Herausforderungen sah Gewessler neben der COVID-19-Pandemie die Bewältigung der Klimakrise, den Erhalt der Biodiversität sowie die Umsetzung des Green Deals an.

ÖVP: Einbindung der nationalen Parlamente und Weiterentwicklung mit Optimismus und Zuversicht

Nach den zahlreichen Krisen in der Vergangenheit, die vom Brexit bis zur Corona-Pandemie reichen, sei es umso wichtiger, jetzt eine Zukunftskonferenz zu starten, bekräftigte Abgeordneter Reinhold Lopatka (ÖVP). Bei der Weiterentwicklung brauche es nicht nur die Einbindung der Zivilgesellschaft, sondern auch der gewählten VolksvertreterInnen in den nationalen Parlamenten. Wichtig sei zudem, dass am Ende nicht wieder zur Tagesordnung übergegangen werde, sondern dass auch die eine oder andere Änderung umgesetzt werden könne. Nach Auffassung von Lopatka müsse die EU in einzelnen Bereichen schneller und handlungsfähiger werden. Gemeinsam mit den Grünen brachte er einen Entschließungsantrag ein, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, im Rahmen der "Konferenz zur Zukunft Europas" mit der Bevölkerung in einen ergebnisoffenen, transparenten Dialog zu treten und in Übereinstimmung mit den Grundwerten der Union zu allen Politikbereichen die zukünftigen Prioritäten und Herausforderungen der EU zu erörtern. Bei der Organisation von Veranstaltungen und Foren sollte stets auf eine repräsentative Zusammensetzung geachtet werden.

Carmen Jeitler-Cincelli (ÖVP) warf grundsätzliche Fragen zum Selbstverständnis von Europa auf. In der gemeinsamen europäischen DNA stecke eine enorme Schöpfungskraft, die sich nur in einem freien Umfeld entfalten könne. Als Gegenmodell zu Diktaturen und Turbokapitalismus basiere Europa auf einem demokratischen Modell, das in eine ökosoziale Marktwirtschaft eingebettet sei. Dieser Weg müsse mit Optimismus und Zuversicht fortgesetzt werden. Ein Bekenntnis zur EU legte auch Europaabgeordnete Simone Schmiedtbauer (ÖVP) ab, die an ein starkes und vereintes Europa glaubt. Das Problem der Schockstarre durch die Pandemie betreffe nicht nur Europa, sondern die ganze Welt. Die Zukunft liege ihrer Meinung nach allein im Miteinander.

SPÖ: Weiterentwicklung der Errungenschaften im Sinne eines fairen, gerechten und bunten Europas 

Für SPÖ-Abgeordnete Eva Maria Holzleitner können die Zukunftsfragen der EU nur in einem geeinten Europa in Angriff genommen werden. Durch die Corona-Krise sei deutlich geworden, dass Kleinstaaterei und nationale Egoismen zu nichts führen. Im Sinne eines fairen und gerechten Europas trat sie vor allem für das Schließen von Steuerschlupflöchern sowie ein starkes Eintreten für ArbeitnehmerInnenrechte ein. Wie man am Beispiel der ErntehelferInnen sehe, müsse sich auch Österreich bei diesem Thema an der Nase nehmen, zeigte Holzleitner auf. Außerdem habe sich die türkis-blaue Regierung durch die Indexierung der Familienbeihilfe nicht mit europapolitischen Ruhm bekleckert. Ihre Fraktion stehe hingegen für eine solidarische Steuer- und Sozialunion, für ein "buntes Europa" ohne LGBTIQ-Verbotszonen sowie für die Selbstbestimmung der Frauen in Sachen Schwangerschaftsabbruch.

Ihre Fraktionskollegin Julia Herr forderte vor allem arbeitsrechtliche Mindeststandards auch auf EU-Ebene. Insbesondere die Einführung von EU-weiten Kollektivverträgen und Mindestlöhnen waren ihr neben einer Mindestgewinnbesteuerung ein Anliegen. Aufgrund des Lohndumpings in Mitgliedstaaten wie Polen entstehe eine Lose-Lose-Politik durch die Absiedelung von Produktionsstandorten. Weiters ortete die Abgeordnete ein Ausspielen der Staaten durch große Konzerne und einen Wettlauf in immer günstigere Länder. Auch Maximilian Lercher (SPÖ) betrachtete die EU als Sozialunion, die helfe, Ungerechtigkeiten zu überwinden.

FPÖ spricht von "Show-Bürgerbeteiligungsprozess" und sieht EU auf einem katastrophalen Irrweg

Um von den Missständen in der Regierung abzulenken, finden heute sogar zwei Europadebatten statt, in denen jedoch dieselben Phrasen wiedergegeben werden, bemängelte Abgeordnete Petra Steger (FPÖ). Ähnlich sinnbefreit sei der gemeinsame Entschließungsantrag von ÖVP und Grünen, weil sich darin bloß eine Zusammenfassung der Inhalte der Homepage der Zukunftskonferenz finde. Dennoch könne man gerne über Probleme in bzw. mit der Europäischen Union reden, denn davon gebe es viele. Beispiele dafür seien der zunehmende Zentralismus, der fehlende Schutz der Außengrenzen, der falsche Umgang mit der Flüchtlingskrise oder das "Impfstoffdesaster". Nicht umsonst habe das erste Mitgliedsland die EU bereits verlassen, zeigte Steger auf. Diesen katastrophalen Irrweg werde die freiheitliche Fraktion mit Sicherheit nicht unterstützen. Sie bezweifelte zudem, dass die EU-Zukunftskonferenz viel verändern werde, da es sich nur um einen "Show-Bürgerbeteiligungsprozess" handle, bei dem das Endergebnis ohnehin schon feststehe.

Migrationsthemen sollten besser in den Mitgliedstaaten selbst gelöst werden, argumentierte Fraktionskollegin Susanne Fürst. Die Freiheitliche sprach sich gegen den "Grünen Pass" und insbesondere auch gegen eine direkte und indirekte Impfpflicht von Kindern und Jugendlichen aus. Der freiheitliche EU-Abgeordnete Georg Mayer kritisierte die EU ebenso wie den Green Deal. Die geplante Reduktion der Treibhausgase sei unrealistisch und nicht umsetzbar, urteilte er. Mayer will hingegen Rahmenbedingungen schaffen, damit die Wirtschaft frei arbeiten könne. Jene Unternehmen, die Arbeitsplätze im Inland schaffen, sollten gestärkt werden.

NEOS werfen ÖVP antieuropäische Rhetorik vor

NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon plädierte für eine ehrliche und aufrichtige Debatte. Der ÖVP warf sie im Konkreten vor, dass sie die Verantwortung für Unwissenheit und Fehlentscheidungen oft an die EU abschiebe. Obwohl Österreich in alle Entscheidungen eingebunden war, sprach Bundeskanzler Kurz von einem "ominösen Impfbazar" und geheimen Liefervereinbarungen mit den Pharmaunternehmen. Ein noch aktuelleres Beispiel sei der "Grüne Pass", bei dem Österreich vorpreschen wollte, letztendlich aber von vielen Staaten überholt wurde. Dass das jahrelange EU-Bashing nicht ohne Folgen geblieben ist, beweise auch die aktuelle Eurobarometer-Umfrage, zumal mittlerweile die Mehrheit der ÖsterreicherInnen kein Vertrauen in die Union mehr hat.  

Es sei notwendig, die BürgerInnen einzubeziehen, ging Nikolaus Scherak (NEOS) mit den Grünen einher. Die Zukunftskonferenz sei als Chance zur Weiterentwicklung zu nutzen. Scherak unterstrich die Dringlichkeit der EU, handlungsfähig zu bleiben und trat für eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips ein. Die Debatte über die Zukunft der EU sollte regelmäßig geführt werden, wünschte sich Michael Bernhard (NEOS). Derzeit leiste Österreich jedoch einen negativen Beitrag zur Weiterentwicklung der EU. 

Grüne für starke Beteiligung der BürgerInnen und engagierten Kampf gegen die Klimakrise

Die EU habe in der COVID-19-Krise nicht optimal agiert und Schwächen erkennen lassen, räumte der grüne EU-Abgeordnete Thomas Waitz ein. Neben einer mangelnden Kooperation zwischen den Staaten, einem Flickenteppich an Lockdowns und unterschiedlichen Grenzregimen habe auch Probleme bei der Beschaffung der Impfstoffe gegeben. Generell habe man gesehen, dass nur ein gemeinsames Auftreten dazu beitragen kann, dem europäischen Modell der aufgeklärten Demokratie, der Menschenrechte, der freien Gesellschaft zum Durchbruch zu verhelfen. Mehr Abstimmung brauche es auch bei der Umsetzung des Wiederaufbaufonds, der eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Klimakrise spielen werde. Vor allem müsse darauf geachtet werden, dass die Gelder bei den lokalen Betrieben ankommen, weil nur dadurch viele neue Jobs geschaffen werden könnten.

Einen klar pro-europäischen Standpunkt vertrat auch Sigrid Maurer (Grüne), die die EU als eine der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Die Grün-Abgeordnete legte Wert auf BürgerInnenbeteiligung. Gemeinsam müsse die Krise bewältigt werden, appellierte sie für Zusammenhalt und Mut. Michel Reimon (Grüne) wollte die ArbeitnehmerInnen ins Zentrum stellen und forderte ein Konzept, um gegen Arbeitslosigkeit vorzugehen. Sozialdumping sei ein reales Problem der EU, unterstrich er.

Der von ÖVP und Grünen eingebrachte Entschließungsantrag wurde mehrheitlich angenommen. Der Entschließungsantrag der FPÖ, in dem ein Zwang zum "Grünen Pass" und eine direkte oder indirekte Impfpflicht von Kindern und Jugendlichen mit Nachdruck abgelehnt werden, blieb in der Minderheit. (Schluss)sue/gla

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