Präsidentin Mag. Barbara Prammer: Herr Bundeskanzler, bitte.
Bundeskanzler Dr. Alfred Gusenbauer: Sehr geehrter Herr Abgeordneter, Sie wissen, dass ein allfälliger Beitritt der Türkei zur Europäischen Union in nächster Zeit nicht aktuell ist. Die Europäische Union hat sich im Jahr 2004 dazu entschlossen, Verhandlungen mit der Türkei ergebnisoffen zu führen, wobei vor allem auch darauf Rücksicht genommen wird, wie die erheblichen finanziellen Auswirkungen eines solchen Beitritts verkraftet werden können. Für den Finanzrahmen bis 2014 sind keinerlei Mittel dafür vorgesehen, dass sozusagen ein Staat dieser Größenordnung neues Mitglied der Europäischen Union sein könnte.
Darüber hinausgehend sind die Verhandlungen mit der Türkei außerordentlich zäh. Sie haben heute früh vielleicht schon im „Morgenjournal“ gehört, dass sich die Türkei darüber beschwert hat, dass eine Reihe von Verhandlungskapiteln mit der Europäischen Union noch nicht einmal eröffnet wurden. – Ich würde glauben, das aus guten Gründen, denn einige der bereits offenen Verhandlungskapitel wurden noch nicht befriedigend abgeschlossen. Daher glaube ich, dass dieser Prozess der Verhandlungen mit der Türkei ein sehr, sehr langwieriger Prozess sein wird, von dem wir nicht wissen, zu welchem Ergebnis er auf der Ebene der Europäischen Union überhaupt führen wird.
Sie wissen, dass wir immer darüber diskutiert haben, dass ein vernünftiges Verhältnis zur Türkei für Österreich und für Europa von Vorteil sein wird. Wir haben mehrfach in die Diskussion eingebracht, dass es auch Alternativen zum Beitritt geben muss, zum Beispiel irgendeine Art von strategischer oder privilegierter Partnerschaft. Das wäre auch eine Grundlage. Wir sehen, dass in der Europäischen Union heute die Diskussion über einen Beitritt der Türkei viel, viel ergebnisoffener geführt wird, als das noch im Jahr 2004 der Fall war. Das heißt, ich glaube, dass heute viel mehr Staaten die österreichische Position teilen, als das noch im Jahr 2004 der Fall war. Wir haben aber auf jeden Fall, um auf Nummer sicher zu gehen, im Regierungsübereinkommen festgelegt, dass, sollte es zu irgendeinem Abschluss kommen, dieser Abschluss, wie auch im österreichischen Nationalrat vereinbart, bei uns einer Volksabstimmung unterzogen werden wird. Aber ich habe keine Hinweise darauf, dass es vor dem Jahr 2014 zu irgendeinem Verhandlungsabschluss kommen wird.
Präsidentin Mag. Barbara Prammer: Zusatzfrage? – Herr Abgeordneter Bösch, bitte.
Abgeordneter Dr. Reinhard Eugen Bösch (FPÖ): Herr Bundeskanzler! Welche Ereignisse, zum Beispiel Menschenrechtsverletzungen, müssten denn Ihrer Ansicht nach eintreten, damit die Verhandlungen, wie der Europäische Rat angekündigt hat, abgebrochen werden?
Präsidentin Mag. Barbara Prammer: Herr Bundeskanzler, bitte.
Bundeskanzler Dr. Alfred Gusenbauer: Ehrlich gesagt, ich wünsche mir keine Menschenrechtsverletzungen, sondern ich wünsche mir das Gegenteil, nämlich keine Menschenrechtsverletzungen. Wie Sie wissen, Herr Abgeordneter, habe ich über Jahre als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine sehr kritische Begleitung der Türkei in Menschenrechtsfragen durchgeführt – ich war ja einmal Berichterstatter zu diesem Thema –, und ich bleibe dabei, dass in einzelnen Teilen der Türkei die Menschenrechtssituation nach wie vor eine unbefriedigende ist und dass vor allem ein ziemlicher Unterschied besteht zwischen dem, was im Gesetz geschrieben ist, und dem, was teilweise die gelebte Realität ist. Elemente wie die Familiengerichtsbarkeit zum Beispiel, die in einzelnen Teilen Ostanatoliens noch immer vorhanden ist, sind meiner Meinung nach ein schlagender Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Daher ist von der Menschenrechtssituation her die Türkei zum jetzigen Zeitpunkt sicherlich nicht beitrittsreif.
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