Josef BUCHNER: Und der erste von den Filibuster-Rednern, glaube ich, war der Walter Geyer, der sieben acht Stunden geredet hat. Und wo man gefragt hat, ob er denn nicht einmal eine Notdurft verrichten muss, dann hat er gesagt, ja ich spüre es schon, aber dann kann ich nicht mehr weiterreden.
Gerhart BRUCKMANN: Wir haben dann teilweise in Schichten im Parlament übernachtet, auf Notbetten.
Andreas KHOL: Das Parlament vorher war nicht planbar. Daher war es also ganz wichtig, das Redezeitregime zu entwickeln, das bis heute gilt.
[Intro mit Musik]
Clemens HAIPL: Einen wunderschönen Guten Tag und herzlich willkommen zurück im Gedächtnis des Parlaments! In diesem Podcast hören Sie persönliche Erinnerungen und Anekdoten von ehemaligen Mitgliedern des National- und Bundesrats, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der parlamentarischen Klubs und der Parlamentsdirektion….
Intro: "Geschichte(n) aus dem Parlament"
HAIPL: … aus den Archiven des Parlaments der letzten Jahre.
Haben Sie schon mal von der Wiener Stunde gehört? Nein? Hat auch nichts mit der Rabit-Viertel-Stunde zu tun. In Wien verläuft die Zeit nicht schneller oder langsamer als sonstwo. Die Wiener Stunde legt für Plenarsitzungen fest, wie viel Redezeit die Klubs des Nationalrats in rund einer Stunde zur Verfügung haben. Je größer der Klub, desto länger dürfen die Abgeordneten genau dieses Klubs insgesamt auch reden. Vor jeder Nationalratssitzung wird festgelegt, wie viele Wiener Stunden die Sitzung dauern soll. Ganz schön kompliziert, ne?! In jeder Gesetzgebungsperiode werden diese Redezeitanteile also neu verteilt. Nach der Nationalratswahl im Herbst 2024 hat das zum Beispiel folgendermaßen ausgeschaut: In einer Wiener Stunde darf die FPÖ 17 Minuten reden, die ÖVP 15,5 Minuten, die SPÖ 13,5 Minuten, die NEOS 8,5 Minuten und die Grünen 8 Minuten. Das ergibt in Summe 62,5 Minuten. Ja, in Wien laufen die Uhren halt anders. Lange Zeit gibt es keine allgemeine Vorgabe, wie lange ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete reden darf. In einer Sitzung konnte nur pro Tagesordnungspunkt eine Redezeit festgelegt werden. Das wurde hin und wieder als politisches Mittel benutzt, um beispielsweise Gesetzesbeschlüsse hinauszuzögern. Der Grünen-Politiker Walter Geyer versucht das beispielsweise im Juni 1988. Er spricht in der Sitzung vom 22. Juni im Nationalrat genau 8 Stunden und 55 Minuten zum sogenannten Luftreinhaltegesetz für Kesselanlagen. Naja Luftreinhaltung und dann acht Stunden Luft verbrauchen…Josef Buchner, der als Nationalratsabgeordneter der Grünen im Parlament dabei war, erinnert sich noch ganz genau an diese Rede:
BUCHNER: Der erste von den Filibuster-Rednern, glaube ich, war der Walter Geyer, der sieben, acht Stunden geredet hat. Und wo man gefragt hat, ob er denn nicht einmal eine Notdurft verrichten muss, dann hat er gesagt: Ja ich spüre es schon, aber dann kann ich nicht mehr weiterreden. Übrigens war die Rede beeindruckend.
HAIPL: Noch länger redet Madelaine Petrovic. Und zwar im Jahr 1993. Madelaine Petrovic ist für die Grünen im Nationalrat gewesen und
sie und ihre Partei-Kollegen wollten verhindern, dass ein bereits beschlossenes Gesetz zur Kennzeichnungspflicht von Tropenhölzern wieder gekippt wird und da gibt es diesen wunderschönen Begriff filibustern! Kommt aus dem Spanisch, Französischen und heißt einfach Redezeit schinden, bis alle anderen die Nerven verlieren. Die Grünen-Politikerin Marijana Grandits redet fast fünf Stunden, Madelaine Petrovics ganze 10 Stunden und 35 Minuten und Monika Langthaler immerhin auch fast 5 ein halb Stunden. Der ehemalige ÖVP-Politiker Heinrich Neisser, zu dieser Zeit Nationalratsabgeordneter, erinnert sich:
Heinrich NEISSER: Damals habe ich ja eine andere Funktion, als Krisenmanager, wahrgenommen, ich musste für die Abgeordneten, die übernachtet haben, die Betten herstellen im Klub. Ich kann mich erinnern, ich bin damals um sechs in der Früh z‘ Haus gefahren, um mich zu rasieren und um wieder herzufahren. Und die konnten ... die hatten ja die Möglichkeit, indem sie augenblicklich die Redner zurückziehen, dass sie von einer Sekunde auf die andere dann abstimmen lassen müssen.
HAIPL: Es war also für die anderen Parlamentsklubs eher riskant, wenn sie die Sitzung verlassen hätten. Dann hätten sich ja eventuell die Abstimmungsverhältnisse geändert. Und so redeten Petrovic, Grandits und Langthaler insgesamt über 20 Stunden. Die längste Zeit davon sprach Madelaine Petrovic. Das war aber nicht die längste Rede, die jemals im Parlament stattfand. Diesen einsamen Rekord hält Werner Kogler, ebenfalls von den Grünen und später bekannt als Vizekanzler.. Seine Rede am 15. Dezember 2010 dauerte ganze 12 Stunden und 42 Minuten. Allerdings fand sie nicht in einer Nationalratssitzung, sondern im Budgetausschuss statt. So lange ohne Unterbrechung zu reden, ist gar nicht so einfach. Gerhart Bruckmann, ehemaliger ÖVP-Abgeordneter, hat einen strategischen Tipp, um Inhalte für seine beziehungsweise ihre Reden zu finden.
BRUCKMANN: Das geht sehr einfach. Jetzt als Ratschlag für jene in anderen Ländern, wo vielleicht noch das Filibustern als solches möglich ist: Man wartet auf Zwischenrufe und geht dann auf die Zwischenrufe ein. Und dann kann man damit wieder eine Viertelstunde überbrücken. Und dann wartet man auf den nächsten Zwischenruf und geht wieder darauf ein.
HAIPL: Auch, wenn die Redner und Rednerinnen das Pult während ihrer Reden nicht verlassen konnten – die Abgeordneten im Raum taten das durchaus. Schließlich musste auch unter anderem geschlafen werden, wie Gerhart Bruckmann weiß:
BRUCKMANN: Auch andere Abgeordnete der Grünen haben dann teilweise filibustert und acht oder neun Stunden lang gesprochen. Wir haben dann teilweise in Schichten im Parlament übernachtet, auf Notbetten. Bitte, das kann nicht der Zweck und Sinn einer gesetzgebenden Körperschaft sein.
HAIPL: Der Meinung war auch bald der Großteil der Abgeordneten. Durch Filibusterreden fühlten sich viele in ihrer alltäglichen Arbeit eingeschränkt. Noch 1993, in Folge auf diese mehrstündigen Reden von Petrovic, Grandits und Langthaler, wurde im Nationalrat eine maximale Redezeit von 40 Minuten pro Mandatar beschlossen und drei Jahre später auf 20 Minuten herabgesetzt. Zusätzlich wird die Redezeit auch noch durch die Wiener Stunde beschränkt. Somit legen die Klubs fest, wie lange einzelne ihrer Abgeordneten tatsächlich reden dürfen, und da gehen sich normalerweise keine 20 Minuten aus. Die meisten der Abgeordneten begrüßten die Änderung. Andreas Khol, ehemaliger Nationalratspräsident, sagte zu dieser Neuerung:
KHOL: Das Parlament vorher war nicht planbar. Daher war es also ganz wichtig, das Redezeitregime zu entwickeln, das bis heute gilt, das sich bewährt hat, die Wiener Stunde und die Aufteilung auf die Fraktionen. Das war eine Errungenschaft.
HAIPL: Aber nicht alle sehen die Abschaffung der unbeschränkten Rede so positiv. Der ehemalige Grünen-Politiker Andreas Wabl zum Beispiel glaubt:
Andreas WABL: …dass das schon ein sehr wichtiges Instrument war, um seinen Unmut zu äußern, um seinen Widerstand darzulegen. Natürlich wäre es unmöglich gewesen, wenn hier nur Reden geführt worden wären, die sinnlos oder die ohne Inhalt wären ... aber, soweit ich mich erinnern kann, waren die Reden alle von relativ großer Substanz, fast durchgehend, stundenlang. Wenn ich an die Rede denke von Herrn Korruptionsstaatsanwalt Geyer, von der Madeleine Petrovic, auch der Werner Kogler – das waren meines Erachtens exzellente Reden und das wollte man eigentlich in erster Linie bremsen.
HAIPL: Die Einführung der Redezeitbeschränkung hat Einfluss auf die Debattenkultur, findet der ehemalige Stenograf und Redakteur der Parlamentskorrespondenz Leopold Fruhmann:
Leopold FRUHMANN: Die Redezeitbeschränkung hat im Prinzip diese klassischen Rhetorikmuster völlig zerstört. Ein Abgeordneter ist dort gestanden, hat zweieinhalb Minuten, dreieinhalb Minuten Zeit gehabt, es kam ein Zwischenruf, und er hat gesagt: Es tut mir leid, ich würde gerne auf Ihren Zwischenruf eingehen, aber ich habe keine Zeit dafür. Darunter hat meiner Ansicht nach die parlamentarische Auseinandersetzung gelitten, auch die Debatte und die Rhetorik, in jeder Weise gelitten. Anfang der 80er-Jahre waren die Debatten langsamer, aber tiefgehender.
HAIPL: Es hat jedenfalls die Auswirkung, dass die Sitzungen nicht mehr bis in die Morgenstunden dauern. Es gab noch eine andere Folge der Redezeitbeschränkung: Dadurch, dass von nun an die Redezeit der Klubs in Form von Wiener Stunden beschränkt wurde, konnten auch nicht mehr so viele Abgeordnete sprechen. Und es wurde begonnen, Statistiken zu erstellen, wie der ehemalige Nationalratspräsident Andreas Khol weiß:
KHOL: Diese Statistiken sind extrem ungerecht. Es [heißt] immer "die faulsten Abgeordneten", das sind nicht die faulsten Abgeordneten, sondern jeder Abgeordnete möchte reden, so viel er kann ... also die Drei-Minuten reden ... Reden können sie alle, die Abgeordneten, und sie haben auch Ideen, aber es gibt eben wenige Sitzungstage, dann gibt's neun Wiener Stunden, dann gibt es für eine Fraktion vielleicht 70 Minuten Redezeit. Und da kommen dann eben nur die zu Wort, die entweder in der Klubhierarchie ganz oben stehen, weil sie für Bevölkerungsteile sprechen, und die, die im Ausschuss mitgearbeitet haben.
HAIPL: An die Zählung der Rednerinnen und Redner erinnert sich auch Wilhelm Molterer, der zwischen 1990 und 2008 verschiedene Minister-Ämter innehatte, und unter anderem auch ein Mandat für die ÖVP im Nationalrat:
Wilhelm MOLTERER: Ich meine, diese legendären Stricherllisten, wer wie oft das Rednerpult erklommen hat, das hat dann, ich kann mich erinnern, sogar dazu geführt, dass es bei uns in unserer Fraktion einen Abgeordneten gegeben hat, der das Ziel gehabt hat, gar nicht zu reden. Weil das war dann wiederum attraktiv sozusagen. Das ist natürlich auch eine eigenwillige Konsequenz.
HAIPL: Es sagt also gar nichts aus, wie oft oder wie lange ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete redet. In vielen Parlamenten weltweit ist die Redezeitbeschränkung heute Usus. Im EU-Parlament wird schon mal das Mikrofon einfach abgedreht, wie sich dessen ehemalige Vize-Präsidentin, Ulrike Lunacek, erinnert:
Ulrike LUNACEK: Also zu meiner Zeit, das war noch gerade in der Zeit vor dem Brexit, und auch vor der Brexit-Abstimmung, und da war der Herr Farage auch noch im Europaparlament. Also da gab es dann oft schon sehr heftige Debatten. Bei den diversen Debatten da gab es einige Male, wo ich weiß, dass ich dann jemandem auch das Mikrofon abdrehen musste, weil er zu lange geredet hat. Die Zeiten sind vorgegeben wie auch im National. Die sind nur viel kürzer.
HAIPL: Für einen Parteikollegen von Ulrike Lunacek ist die Redezeit-Beschränkung gar nicht so dramatisch. Schließlich lassen sich wichtige Dinge auch in einer Minute Redezeit zusammenfassen, findet der Salzburger Johannes Voggenhuber. Während seiner Zeit als Mitglied im Europäischen Parlament wurde die Grundrechtecharta der Europäischen Union erarbeitet. Es war umstritten, ob der Satz "Die Würde des Menschen ist unantastbar" zu Beginn stehen soll, erinnert er sich.
Johannes VOGGENHUBER: So wie sie bei der Grundrechtecharta einfach nicht wollten, dass "Die Würde des Menschen ist unantastbar" am Beginn steht. Und da habe ich mir gedacht. Das darf nicht passieren. Das darf einfach nicht passieren. Dann habe ich eine Rede gehandelt, ich verstehe alles, aber eines sage ich euch: Ich habe wenig zu sagen, ich habe eh nur eine Minute Redezeit, nur eines: Wenn diese Deutschen einen einzigen Satz in ihrer gesamten Geschichte hervorgebracht haben, der es wert ist, von uns allen unangetastet zu bleiben, dann ist es "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Und so steht er dort.
HAIPL: Das Fazit dieser Folge lautet also wie?: In der Kürze liegt die Würze. Ich darf Sie noch kurz und knapp darauf hinweisen, dass uns ein Abo dieses Podcast sehr freuen würde. Fragen, Kritik oder Anmerkungen können Sie uns an diese E-Mail-Adresse: Podcast@parlament.gv.at oder auf den üblichen Social-Media-Kanälen des österreichischen Parlaments schicken. Und auf der Webseite parlament.gv.at finden Sie jede Menge Wissen über das Parlament und seine Geschichte. Da gibt es auch eine Schilderung zu den Filibuster-Reden der Grünen-Politiker und Politikerinnen Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre. Den Link dazu finden Sie in den Shownotes. Und wenn Sie Zeit haben, können Sie die Reden auch in den Stenographischen Protokollen nachlesen. Die Links dazu finden Sie ebenfalls in den Shownotes. Ich heiße noch immer Clemens Haipl und würde mich sehr freuen, wenn wir uns an dieser Stelle bald wieder hören würden. Alles Liebe. Bis dann. Ciao. Ciao.
Outro: "Geschichte(n) aus dem Parlament"