News 05.10.2025, 15:00

Das Attentat im Parlament

Im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses des Reichsrates gingen die Emotionen oftmals hoch. Pultdeckelkonzerte, Tschinellenlärm und Filibusterreden zählten zum Alltag im Parlament der Monarchie. Doch einmal, am 5. Oktober 1911, kam es zu einem Ereignis, das selbst für damalige Umstände erschreckenden Charakter hatte. Im Parlament fielen Schüsse.

Alles begann mit einer veritablen ökonomischen Krise. Schlechte Ernten und hohe Weltmarktpreise für Lebensmittel führten 1909 und 1910 zu nachhaltigen Preissteigerungen für Brot und andere Nahrungsmittel. Fleisch war für die arbeitenden Menschen in Österreich-Ungarn schlicht unerschwinglich geworden. Im Herbst 1911 verschärfte sich die Krise weiter. Es kam zu ersten Hungerkrawallen. Auf den Märkten prügelten sich Frauen um das wenige Leistbare, durch die Straßen der Städte zogen zornige Arbeiter.

In der Bibliothek sind nicht nur Zeitungsberichte zum Schussattentat ausgestellt, sondern auch Informationen zu den Teuerungskrawallen.

Karl Seitz, führender Parlamentarier der Sozialdemokraten, warnte davor, dass diese Bewegung im Begriff sei, sich rasch zu radikalisieren. Nur Gesetze, die auf eine spürbare Preissenkung abzielten, könnten die Lage beruhigen. Ministerpräsident Gautsch aber stand den Großagrariern im Wort, die von der Lage profitierten, und lehnte ein Eingreifen ab. Damit kam er auch den Wünschen des Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Julius Sylvester, entgegen. Der wollte auf Urlaub nach Dalmatien fahren und empfand eine Sitzung des Hauses als lästig.

Die Teuerungskrawalle im Herbst 1911

So kam es am 17. September 1911 zu einer Massenkundgebung auf der Wiener Ringstraße. Die Demonstranten sollten durch eine massive Militärpräsenz eingeschüchtert werden. Was folgte, ging als "Teuerungskrawalle" in die Geschichte ein: Es flogen Steine durch Schaufenster, Tramwayzüge wurden umgeworfen und angezündet. In Ottakring sollte die Lage schließlich völlig eskalieren. Die Menge warf Steine gegen die Soldaten, worauf die Infanterie mit gefälltem Bajonett auf den Demonstrationszug losmarschierte.

In einer Nebengasse schossen die Soldaten in Richtung Demonstrierender. Sie zielten zwar über deren Köpfe hinweg, Querschläger verletzten aber auch hier zahlreiche Personen. Es entstand eine Massenpanik. Drei Arbeiter starben und ein weiterer tötete sich am Tag danach selbst, um nicht vor ein Militärgericht zu kommen.

Vier Schüsse und ein Rohrkrepierer

Nun konnte Sylvester nicht länger zögern. Das Abgeordnetenhaus musste einberufen werden. Erstredner war der Sozialdemokrat Victor Adler. Was sich an jenem 17. September ereignet habe, so Adler, sei Ausfluss der Not, begann er. Er gedachte der Opfer, aber auch jener Personen, die durch harte Gerichtsurteile mittlerweile in den Kerkern schmachteten, wofür der Justizminister mit seinen Weisungen nach voller Härte und Unerbittlichkeit die Verantwortung trage. Der Minister reagierte mit einem arroganten Lächeln.

In diesem Augenblick schrie jemand von der Galerie "Hoch der Sozialismus". Gleichzeitig krachten Schüsse durch den Raum. Alles warf sich in Panik auf den Boden. Nach der ersten Verwirrung zeigte sich, dass die Kugeln nur wenige Zentimeter an den Hinterköpfen der Parlamentsstenographen vorbeigeflogen waren und in die Vorderwand der Regierungsbank eingeschlagen hatten. Parlamentsmitarbeiter und die beiden Minister Hochenburger (Justiz) und Stürgkh (Unterricht) waren nur knapp dem Tode entronnen.

Die Einschusslöcher in den Holzpaneelen des alten Abgeordnetenhauses.

Der Täter wurde rasch überwältigt. Es war der 24-jährige, arbeitslose Tischlergeselle Nikola Njegos. Er gab bei seiner Befragung an, das zynische Lächeln des Justizministers habe ihn derart provoziert, dass er den Minister für seine Verhöhnung der Opfer bestrafen wollte. Njegos hatte viermal gefeuert, ehe die Waffe Ladehemmung hatte.

Deutschnationale und Christlichsoziale gegen Sozialdemokraten

Währenddessen kam es im Plenum zu einer Art Stehpräsidiale. Präsident Sylvester und Vizepräsident Pernerstorfer sowie die Klubobleute der Sozialdemokraten Karl Seitz und Victor Adler sowie der Vertreter der Liberalen Rudolf Wedra plädierten für die Fortsetzung der Sitzung, Deutschnationale und Christlichsoziale forderten die gewaltsame Entfernung der sozialdemokratischen Mandatare, in denen sie die geistigen Urheber der Untat zu erkennen glaubten.

Die Sitzung wurde schließlich wieder aufgenommen und mit der Rede Adlers fortgesetzt. Seine Ausführungen waren jedoch kaum zu hören, da Christlichsoziale und Deutschnationale ein wüstes Geschrei erhoben und Adler mit Schimpfkanonaden á la "Mordbube" und "Bluthund" eindeckten. Überdies wurde beständig "Sozialdemokraten raus" skandiert. Adler konterte unter Bezugnahme auf die Toten des 17. September, er würde wünschen, dass "alle in diesem Saal ein so reines Gewissen" haben könnten wie er und seine Fraktionskollegen.

Njegos wurde wegen des Attentats zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt und starb während der Haft an Tuberkulose.

Die Frage, wie es ihm gelungen war, den Revolver an der Parlamentswache vorbeizuschmuggeln, blieb unbeantwortet.