Parlamentskorrespondenz Nr. 612 vom 25.06.2008

Sozialausschuss: ExpertInnen und Politik zum Thema Strukturreform

Sozialausschuss setzt Beratungen am Donnerstag, 3. Juli, fort

Wien (PK) - Der dritte Teil des öffentlichen Hearings im Sozialausschuss stand im Zeichen der Strukturreform, die im Gesetzentwurf vorgesehen sind. Hier waren neben Vertretern der Sozialpartner vor allem Experten aus dem Bereich der Kranken-, Pensions- und Unfallversicherungsträger geladen.

Bittner: Es gab schmerzvolle Kompromisse

Die Verhandlungen eröffnete der Vorsitzende der SV-Trägerkonferenz Franz Bittner. Er erinnerte daran, dass gemäß Regierungsübereinkommen die Sozialpartner mit der Erarbeitung einer Reform betraut worden seien, wie die sozialpartnerschaftliche Zusammenarbeit auch schon in anderen Bereichen des Gesundheitswesens gut funktioniert habe. Dennoch habe es teilweise schmerzvoller Kompromisse bedurft, da die Vorstellungen der Sozialpartner anfangs ziemlich weit auseinander gegangen seien. Sodann referierte Bittner die Kernpunkte des sozialpartnerschaftlichen Reformprogramms ein, von dem er sich effizientere Ergebnisse bei gleichbleibendem Niveau der Leistungen erwartete.

Pesserl: Finanzielle Krise ist nicht Folge der Strukturen

Josef Pesserl (Krankenversicherungsträger) betonte die Wichtigkeit der Reform, wobei er festhielt, dass die finanzielle Krise der SV nicht in ihren Strukturen begründet sei. Vielmehr liege diese in verschiedenen anderen Punkten wie den steigenden Kosten der Heilmittel oder der Beitragsentwicklung begründet. Zur Strukturreform merkte er an, es sei wichtig, sich auch weiterhin zur Notwendigkeit eines Dachverbandes zu bekennen. Die Selbstverwaltung der Träger sollte im Interesse der Patienten weiter beibehalten, die Spartenkonferenzen sollten aufgewertet werden. Zudem sollten Kontrolle und Geschäftsführung strikt getrennt sein.

Haas: Konzept ist in sich widersprüchlich

Kurt Haas (Pensionsversicherungsträger) übte unter Verweis auf seine früheren Aussagen Kritik am Sozialpartnerpapier, dem er Dilettantismus vorwarf, da es ihm an nachhaltigen und effizienten Maßnahmen gebreche. Zudem sehe er nicht ein, weshalb auch sein eigenes Institut in die Ziehung genommen werden solle, da es bislang in einer autonomen Selbstverwaltung hervorragend gearbeitet habe, ohne dass es hiezu einer Zielvereinbarung bedurft hätte. Das vorgelegte Konzept sei in sich widersprüchlich und weise in die falsche Richtung. Die Pensionsversicherungsträger wollten nicht für die Probleme der Krankenversicherungen den Kopf hinhalten, für eine Quersubventionierung stehe man nicht zur Verfügung, weshalb die Sparten entsprechend beibehalten werden sollten.

Schelling: Reform ein erster Schritt, muss aber weiter gehen

Hans Jörg Schelling, Vertreter der Unfallversicherungsträger, beleuchtete die Problematik aus der Sicht der Unfallversicherungsträger. Man brauche Lösungen für den gesamten Bereich, da die Situation finanztechnisch kritisch geworden sei. Sein Institut sei bereits Quersubventionsgeber, doch man bekenne sich auch zu einem ganzheitlichen System. Sein Institut verfolge ein Viersäulenmodell - Prävention, Betreiben von Unfallkrankenhäusern, Rehabilitation, Verrentung - und meinte, es gelte, saubere und klare Zielvorstellungen zu formulieren, um auch weiterhin effizient tätig werden zu können. Diese Reform sei ein erster Schritt, doch die Reform müsse weitergehen.

Achitz: Selbstverwaltung außer Streit stellen

Bernhard Achitz vom ÖGB verwies darauf, dass sich die Sozialpartner auf Basis von Vorgaben aus der Politik mit der Reform befasst hätten. Darauf basiere der Vorschlag, der natürlich auf Basis von Kompromissen entstanden sei. Beide würden sich auch weiterhin zur Selbstverwaltung bekennen, die ins Auge gefasste "Holding" solle gemeinsame Ziele formulieren und Synergien schaffen, um die konkrete Arbeit effizienter zu gestalten. Dabei gelte es, die Selbstverwaltung auch weiterhin außer Streit zu stellen. Der ÖGB wollte die Strukturen bei den Trägern unverändert lassen, als Kompromiss wurden nun die Kontrollinstrumente gestärkt.

Gleitsmann: Die Autonomie der Träger nicht beschneiden

Martin Gleitsmann von der Wirtschaftskammer definierte die Ziele der erforderlichen Reform und meinte, um die erforderlichen Einsparungen zu erzielen, brauche es auch eine entsprechende Strukturreform, wobei es den Trägern selbst überlassen bleiben sollte, wie sie die erforderlichen Ziele erreichten. Ihre Autonomie sollte demnach nicht beschnitten werden.

Klein für eine Balance der unterschiedlichen Interessen

Christoph Klein von der Arbeiterkammer betonte die Notwendigkeit, gemeinsame zentrale Ziele zu formulieren, was im Sinne der Effektivität sehr erstrebenswert sei. Es sollte einen stärkeren Zug zur Einheitlichkeit und Gemeinsamkeit geben, wobei man sich überlegen müsse, wie eine derartige Vereinheitlichung friktionsfrei ins Werk gesetzt werden könne. Hier brauche es eine Balance zwischen den unterschiedlichen Interessen, meinte Klein, der sich abschließend mit Aspekten der Selbstverwaltung auseinandersetzte.

Vogel: Reform muss auf dem bisher guten System aufbauen

Gerhard Vogel von der GÖD befasste sich gleichfalls mit der Selbstverwaltung, auf deren Wurzeln und Bestandteile er unter Einbeziehung der Standpunkte des öffentlichen Dienstes einging, wobei er auf das Wechselspiel zwischen Selbstverwaltung und Kontrolle verwies. Eine Strukturreform müsse daher auf dem bisherigen guten System aufbauen.

Katzian: Mitbestimmung auch bei Spartenkonferenzen verankern

Wolfgang Katzian (GPA) brachte die Interessen der Beschäftigten der Sozialversicherungen zur Sprache und betonte, die Elemente der Mitbestimmung, die im Rahmen der Holding verankert wurden, sollten auch bei den Spartenkonferenzen möglich sein. Offene Fragen sah er noch im Zusammenhang mit der geplanten Ausgliederung der IT. Hier müsse eine einheitliche Vorgangsweise für die Überlassung von Mitarbeitern an die neue Gesellschaft sichergestellt sein, forderte Katzian und trat für eine Regelung der Rahmenbedingungen auf Basis eines Kollektivvertrags ein.

Die Debatte

Die anschließende Fragenrunde eröffnete Abgeordneter Karl Öllinger (G) mit der Feststellung, die Kräfteverhältnisse würden zu Lasten der Arbeitnehmervertreter verändert, sodass nun eine Schieflage zugunsten der Arbeitsgeber bestehe. Er kritisierte überdies massive Durchgriffsrechte der Ministerien auch in Agenden, die bisher im Rahmen der Selbstverwaltung gut geregelt waren, und erkannte ebenso wie Christoph Klein (Bundesarbeitskammer) Verstaatlichungstendenzen im vorliegenden Entwurf, die es zu reparieren gelte.

Abgeordneter Dietmar Keck (S) lehnte mit Nachdruck das Zustimmungsrecht der Kontrollversammlung zu sämtlichen Beschlüssen des Vorstandes ab, qualifizierte die Holdingstruktur als zentralen Moloch und forderte eine Stärkung der Rechte der Spartenkonferenz. Grundsätzlich gab er zu bedenken, ein rein ökonomisches Interesse der Vertreter der Wirtschaftskammer dürfe nicht zu einer Verschlechterung des Leistungsangebots führen.

Abgeordnete Ursula Haubner (B) vermisste jegliche Sparanreize und nannte den Entwurf eine Scheinlösung, bei der die Funktionäre entsprechend der politischen Farbenlehre aufgeteilt werden, ohne dass dadurch die Finanzierungsprobleme behoben werden können. Für Haubner stellte sich vor allem die Frage, was der Patient davon habe.

Abgeordneter Karl Heinz Kopf (V) unterstrich, die großen Herausforderungen könnten nur bei einer partnerschaftlichen Vorgangsweise bewältigt werden. Die bestehende Disparität zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern spiegle jedenfalls keine Partnerschaft auf Augenhöhe wider, sagte er. Kopf trat weiters dafür ein, den Grad der Eigenverantwortung in den Trägern zu heben, und zeigte sich irritiert über die Durchgriffsrechte des Finanzministers.

Abgeordnete Dagmar Belakowitsch-Jenewein (F) plädierte für klar definierte Durchgriffsrechte der Holding und hielt "mäßige Eingriffrechte" nicht für ausreichend.

Abgeordneter Kurt Grünewald (G) drängte auf eine stärkere Mitsprache des Hauptverbandes und der Kassen und sprach sich überdies für bundeseinheitliche Vorgaben an die Gebietskrankenkassen aus. Es dürfe nicht vom Meldezettel abhängen, welche Palliativa ein Patient erhält, betonte er. Klar war für Grünewald vor allem, dass die Kassen mehr Geld brauchen, um Versorgungsleistungen zu erbringen.

Abgeordneter Franz Riepl (S) schickte voraus, bei sämtlichen Überlegungen müssten die Patienteninteressen Vorrang haben. Der vorliegende Entwurf sei keine Reform, sondern eine Finanzierungsmaßnahme, "um Ärgeres in den Kassen zu verhindern", meinte er. Wichtiges Anliegen Riepls war es, mehr Gleichheit bei den Leistungen herzustellen.

Abgeordneter Norbert Hofer (F) bezeichnet es als eine wichtige Aufgabe der Politik, für einen fairen Ausgleich zwischen reichen und armen Krankenkassen zu sorgen. Hofers konkrete Frage an die Experten lautete, ob sie sich eine Verschiebung der Kassenfinanzierung weg von Lohnnebenkosten hin zu Einnahmen aus Verbrauchssteuern vorstellen können. Dies würde den Faktor Arbeit entlasten und auch  den Import von Waren in die Finanzierung des Gesundheitssystems einbeziehen.

Abgeordneter Werner Amon (V) erinnerte in Hinblick auf die geplante Holding daran, dass es auch schon bisher Vorgaben für die Versicherungsträger gab. Warum haben diese Instrumente bisher versagt, lautete Amons Frage. Welche Garantie bestehe, dass die neuen Instrumente genützt werden, nachdem die alten Instrumente nur unzureichend genützt wurden.

Wolfgang Katzian (GPA) sprach sich namens der Beschäftigten in den Sozialversicherungen für die Einbindung der Pensionskasse der Sozialversicherungsbeschäftigten, für die Teilnahme zweier Betriebsräte bei den Spartenkonferenzen und für den Abschluss eines Kollektivvertrages bei der Übertragung von MitarbeiterInnen bei Ausgliederungen aus. Außerdem schlug der Experte vor, den Familienlastenausgleich mit einer Wertschöpfungsabgabe zu finanzieren.

Gerhard Vogel (GÖD) verteidigte und erläuterte das Prinzip der Selbstverwaltung und plädierte sowohl gegen staatliche Eingriffe als auch gegen eine Holding und gegen ein Durchgriffsrecht des Finanzministers. 

Martin Gleitsmann (WKÖ) meinte, Stabilität sei nicht durch einen Verzicht auf notwendige Änderungen zu erreichen. Für Stabilität sorge die Sozialpartnerschaft durch Berücksichtigung aller Interessen. Wer behaupte, die Wirtschaftskammer habe bei dieser Reform alle Wünsche erfüllt bekommen, unterschätze die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften deutlich. Der Experte sah keine Schwächung der Arbeitnehmerseite. Es sei auch in Ordnung, dass die Ministerien mehr Rechte bekommen sollen, weil der Bund wesentlich mehr Geld für die Sanierung in die Hand nehme. Die Wirtschaftskammer vertrete ihre Interessen in der Selbstverwaltung stets mit Augenmaß, hielt Gleitsmann fest. Es habe sich bewährt, wirtschaftliche Gesichtspunkte in den Sozialversicherungen zu beachten.

Bernhard Achitz (ÖGB) erinnerte daran, die Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern im Hauptverband bestehe bereits seit 2000. In der Trägerkonferenz bestehe de facto eine Arbeitgebermehrheit. In der neuen Holding werde es ein System der doppelten Mehrheiten geben, indem die ArbeitnehmerInnen-VertreterInnen nicht überstimmt werden können. Bei der Heilmittelabgabe habe die Wirtschaftskammer zumindest einen kleinen Kompromiss geschlossen. Verstärkte Durchgriffsrechte von Ministerien lehne auch er ab, sagte Achitz. Man müsse darauf achten, dauerhafte Blockaden in der Kontrollversammlung zu verhindern. Die Kontrollversammlung erhalte keine Geschäftsführerfunktion, die Gefahr von Doppelgleisigkeiten nehme daher nicht zu. Die Finanzierung sei langfristig, weil dem System dauerhaft Mittel zugeführt werden und dauerhafte Einsparungen vorgesehen seien. Es wäre aber falsch zu glauben, die finanziellen Probleme der Gebietskrankenkassen wären nun ein für allemal gelöst. Einsparungsmöglichkeiten sah der Experte in der Verwaltung und bei Verträgen mit Partnern, wobei aber nichts Unmögliches verlangt werden sollte.

Karl Haas (Pensionsversicherungsträger) bestätigte Interessensunterschiede zwischen Pensionsversicherungen, Krankenversicherungen und Unfallversicherungen. Diese Bereiche sollen getrennt werden, um Quersubventionierungen zu vermeiden. Gegen die von Abgeordnetem Kopf genannte "Partnerschaft" trete er auf, weil es keine "Partnerschaft auf Augenhöhe" sei. Die Arbeitgeber zahlten die Beiträge nicht aus ihren Gewinnen, sondern aus Lohnbestandteilen, die den Arbeitnehmern gehörten. Außerdem seien sie, etwa bei den Medikamenten, Interessenvertreter. Warum haben die Steuerzahler keine Vertreter in den Versicherungen der Bauern und Gewerbetreibenden, obwohl sie dort maßgeblich zur Finanzierung beitragen, fragte der Experte pointiert.

Josef Pesserl (Krankenversicherungsträger) betonte die Interessengegensätze von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. In einem so wichtigen System, das eine wesentliche Säule der Demokratie darstelle, sollten diese Interessengegensätze abgebildet und nicht so getan werden, als gebe es diese Gegensätze nicht. Er sei dafür, das System in den Verfassungsrang zu heben, aber nicht deswegen, weil es verfassungswidrig sei. Es wäre einer Demokratie nicht würdig, ein solches System der Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof zu entziehen. Verfassungsmäßigkeit sei herzustellen, verlangte Josef Pesserl. Kontrolle müsse Kontrolle bleiben, hielt der Experte fest und bat zu verhindern, das Unternehmen "unführbar" werden zu lassen. Zu behaupten, die Ursache für die Steigerung der Medikamentenkosten sei "Nichthandeln" von Kontrollorganen wies der Experte entschieden zurück. Wer eine ordentliche Pflege für alle wolle, müsse auch über deren Finanzierung reden, dafür fehle es im Moment am notwendigen Mut, sagte Pesserl.

Franz Bittner (SV-Trägerkonferenz) klärte darüber auf, dass die Trägerkonferenz mit 20 Dienstgebern und 14 Dienstnehmern besetzt sei. Künftig werde das Verhältnis 6:6 sein, wobei die doppelte Mehrheit verhindere, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer einander überstimmen könnten. Die Verwaltungskosten betragen bei allen KV-Trägern 3 % der Gesamtumsätze, bei den Gebietskrankenkassen 2,4 %, bei den bundesweiten Trägern 4,2 %. Im internationalen Vergleich seien das optimale Werte, Einsparungen würden das Unternehmen zerstören, sagte Bittner. Das Hanusch-Krankenhaus verzeichne einen jährlichen Umsatz von 160 Mill. €, der Abgang betrage 41 Mill. €. Ein Schwerpunktkrankenhaus dieser Größe sei in Wien sinnvoll, weil es Synergien für die Sozialversicherung bringe. Der Ausgleichsfonds sei finanziell zu gering dotiert, meinte Bittner. Er sei für eine Verbreiterung der Beitragsgrundlage und eine deutliche Anhebung der Höchstbeitragsgrundlage. Um eine Wertschöpfungsabgabe werde man nicht herumkommen, wenn man das System in dieser Qualität weiter finanzieren wolle, schloss der Experte.

Auf Antrag der Abgeordneten Sabine Oberhauser (S) vertagte sich der Sozialausschuss einstimmig auf 3. Juli 2008. Wird die Vorlage in dieser Sitzung plenumsreif gemacht, könnte sie vom Plenum des Nationalrats in der 2. Juliwoche in Verhandlung genommen werden. (Schluss)