Parlamentskorrespondenz Nr. 726 vom 26.08.2008
Reichstag 1848 - Ein heißer Sommer in der Winterreitschule (3)
Wien (PK) – Eine Kette runder historischer Jahrestage machen das Jahr 2008 für Österreich zu einem historischen Gedenkjahr. Im März hatte Hitlers Einmarsch im Jahr 1938 Gelegenheit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel der österreichischen Geschichte geboten. Im Herbst geht es um die Gründung der Republik Österreich im November 1918. Bis dahin wirft die "Parlamentskorrespondenz" einen historischen Blick auf ein anderes markantes Datum in der Geschichte des österreichischen Parlamentarismus: das Ende der bäuerlichen Untertänigkeit. Beiträge zu diesem Thema siehe PK Nr. 710 und PK Nr. 719.
Ab etwa Mitte August 1848 trat im Reichstag die Entschädigungsfrage und damit der materielle Interessenkonflikt zwischen Grundherren und Bauern immer stärker in den Mittelpunkt der Debatte zur Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit. Wie dramatisch die Abgeordneten diesen Konflikt erlebten, machte etwa der steirische Gutsbesitzer Karl Gleispach deutlich, der sagte, er habe sein Reichstagsmandat mehrheitlich von "Untertanen" erhalten und sei daher "außerstande, sich an dieser Debatte zu beteiligen".
Grundherren wie Gleispach pochten auf ihre "Eigentumsrechte". "Dingliche Grundabgaben" der Bauern, so argumentierten sie, resultierten entweder aus erblichen Pachtverträgen, die mit der Untertänigkeit nichts zu tun hätten, oder es handle sich zumindest um "Eigentumsansprüche", die sie sich durch Leistungen erworben oder historisch "ersessen" hätten. Langwierige historische und rechtstheoretische Argumentationen für und gegen die behaupteten Rechts- und Eigentumsansprüche der ehemaligen Feudalherren waren die Folge.
Entschädigung der Grundherren – Recht oder Unrecht?
Die "Bauernbefreier" brachten zunächst soziale Argumente gegen Entschädigungsforderungen vor. Die Untertänigkeit habe "die Bauern zu Bettlern gemacht", klagte Abgeordneter Cajetan Nagel und lehnte eine Entschädigung der Grundherren ebenso ab wie die Abgeordneten Matthias Herndl, Johann Martini und Anton Weigl. Entschädigungen wären ungerecht und unbillig, weil sie die Bauern in Schulden und Zinsbelastungen stürzen würden. In diesem Zusammenhang stellte Abgeordneter Nagel den ersten Antrag auf namentliche Abstimmung in einem österreichischen Parlament: Der Untertan "soll wissen, wer vom Bauern eine solche Abgabe verlangt", sagte Nagel, worauf Abgeordneter Josef Helfert mit dem Vorwurf "versuchter Zensur" reagierte und das Recht der Abgeordneten auf freie Meinungsäußerung einmahnte.
Die Untertänigkeit widerspreche der Natur des Menschen und sei "ohne alle Bedingung, ohne Vorbehalt, ohne Ablösung, ohne Entschädigung" aufzuheben, folgerte Abgeordneter Michael Popiel. Abgeordneter Ferdinand Thinnfeld antwortete im Namen der Grundherren: "Vieles von dem, was wir beseitigen wollen, hat die Form von Privatverträgen", die es zu erhalten gelte. Außerdem seien "grundherrliche Rechte im Laufe der Jahrhunderte ungeachtet ihres Ursprungs zu Eigentumsrechten geworden. Daher gebührt eine Entschädigung." – Unterstützt von den Abgeordneten Johann Bittner, Matthias Kautschitsch und Cajetan Nagel widersprach Michael Popiel heftig. Die Grundherren hätten von den Bauern für "Schutz und Schirm" noch Abgaben gefordert, als dafür längst schon der Staat sorgte, mit einem Heer, in dem Bauern dienen und zu dessen Ausrüstung und Erhaltung Bauern mit ihren Steuern beitragen.
Drastische Ausführungen bestimmten die Debatte. Den Ursprung der Grundherrschaft sah Abgeordneter Anton Goriup im Faustrecht des Mittelalters und im Raubrittertum und zog daraus den Schluss: "Aus Gewaltverhältnissen entsteht kein Recht". Auch die Rechtmäßigkeit der vieldiskutierten "Erbpachtverträge" zog Goriup in Zweifel: "Juristen der Mächtigen haben sie den Bauern zusätzlich aufgebürdet". Auch Abgeordneter Josef Demel konnte in der Untertänigkeit kein Rechtsverhältnis erkennen, die feudalen Lasten seien daher aufzuheben und nicht zu entschädigen. Die Behauptung von Grundherren, sie hätten ihre Eigentumsrechte "privatrechtlich ersessen", wies Abgeordneter Matthias Hawelka ebenso zurück wie vertraglich fixierte Geldabgaben der Bauern. Matthias Hawelka nannte sie "sklavische Überbleibsel des Mittelalters".
"Sklaven, die ein österreichisches Schiff betreten, werden per Gesetz ohne jede Entschädigung ihres Eigentümers frei", zitierte Abgeordneter Johann Schuselka aus einem geltenden Gesetz und meinte, auch der Bauer solle für seine Freiheit nicht bezahlen, er solle sich nicht loskaufen müssen. Abgeordneter Umlauft bezeichnete das Untertänigkeitsverhältnis als "verkappte Leibeigenschaft ohne Rechtsboden" und verlangte die entschädigungslose Aufhebung nach dem Vorbild anderer Länder.
In Wahrheit verlange das von den Grundherren strapazierte historische Recht die unbedingte Aufhebung der Untertanslasten, merkte schließlich Abgeordneter Michael Popiel an, denn ursprünglich seien alle germanischen und slawischen Vorfahren der Bauern freie Menschen gewesen. Eine Entschädigung komme daher für ihn aus Prinzip nicht in Frage, hielt Popiel fest.
So sehr sich die Abgeordneten auch bemühten - mit juristischen, rechtsphilosophischen und historischen Argumenten konnten sie die Entschädigungsfrage weder pro noch contra klären. Es handelte sich um eine politische Frage, wie Abgeordneter Alois Trojan erkannte: "Was wir anstreben, kann man nicht aus dem Naturrecht ableiten, es geht um Gründe der Politik und der Billigkeit. Obwohl ich weiß, dass Unrecht unter allen Verhältnissen ein Unrecht bleibt, fühle ich mich verpflichtet, meinen Wählern zu ermöglichen, sich über ihre Lasten mit den Obrigkeiten billig abfinden zu können". Auch Abgeordneter Anton Goriup hielt die Kernfrage der Juristen, ob und inwieweit bäuerliche Lasten im Einzelnen dem öffentlichen oder dem privaten Recht zuzuordnen seien, für politisch irrelevant: "Als öffentliche gehen sie mit dem Absolutismus zugrunde, als private sind sie sittenwidrig"
Die Mehrheit des Reichstags strebte eine politische Entscheidung über die Entschädigungsfrage an und wies Vorschläge der Abgeordneten Heimerl, Helfert und anderer zurück, die darauf setzten, die Entschädigungsfrage wissenschaftlich, durch historische und juristische Expertisen, sei es im Reichstag, in Landtagen oder vor Zivilgerichten, zu entscheiden.
"Der Staat soll entschädigen"
Ganz vergeblich waren die historischen und juristischen Dispute der Abgeordneten aber doch nicht gewesen. Denn bei genauerer Betrachtung der neuzeitlichen Entwicklung der Grundherrschaft entdeckten die Abgeordneten schuldhafte Versäumnisse des absolutistischen Staates. Der Staat habe die Untertänigkeit nicht rechtzeitig aufgehoben, habe sie nicht gründlich genug reformiert, er hätte die Bauern zumindest vor den Auswüchsen des Feudalismus schützen müssen, war in den Wortmeldungen der Abgeordneten immer öfter zu hören. Und immer nachdrücklicher leiteten viele Abgeordnete aus diesem Versäumnis des Staates eine Schuldigkeit und Verpflichtung ab, zur Lösung der Entschädigungsfrage beizutragen.
Eine - zumindest teilweise – Entschädigung der Grundherren durch den Staat wurde bei der Suche nach einer Reichstagsmehrheit zu einem wichtigen gemeinsamen Motiv zwischen manchen Befürwortern und manchen Gegnern einer Entschädigung. Abgeordneter Johann Schuselka etwa war Gegner einer Entschädigung der Grundherren, einer Entschädigung auf Kosten des Staates stimmte er aber zu, weil er die Sache der Bauern für wichtiger hielt als seine juristischen Grundsätze. Ähnlich argumentierten die Abgeordneten Josef Demel, Ernst Violand und Alois Borrosch.
Abgeordneter Matthias Kautschitsch war Befürworter einer Entschädigung der Grundherren, weil er – wie viele andere - deren Gläubiger schützen wollte, darunter Witwen-, Waisen- und Sparkassenfonds. Mit Schuselka traf sich Kautschitsch aber in der Forderung nach Entschädigung durch den Staat, wenn auch mit der Einschränkung, die Bauern sollten "eindeutig privatrechtliche" Verpflichtungen selbst ablösen.
Abgeordneter Anton Goriup wiederum zählte zu jenen, die zwar keinen Rechtsgrund für eine Entschädigung der Grundherren erkennen konnten, es aber "für politisch klug" hielten, jene aus Mitteln des Staates zu entschädigen, denen die Aufhebung des rechtswidrigen Untertanenverhältnis Nachteile bringe.
Für eine Entschädigung durch den Staat plädierte auch Abgeordneter Franz Peitler, dem es wie auch den Abgeordneten Alois Praschak und Johann Hasslwanter wichtig war, Bauern, Bürgern und Adeligen schon bei der Aufhebung der Untertänigkeit zu sagen, was die Entschädigung koste und wer welche Entschädigung bekomme. Aus Rücksicht auf den Steuerzahler wollte Peitler den Staatsanteil an der Entschädigung aber auf ein Drittel beschränkt sehen.
Eine wichtige Rolle spielte die Idee einer Entschädigung durch den Staat auch für die Abgeordneten Johann Pretis und Ludwig Löhner. "Der Staat muss sich hüten, große Kapitalien in der Luft schweben zu lassen, die in Treu und Glauben auf den Wert der Dominien angelegt wurden", sagte Löhner. Die Revolution sei ein "Elementarereignis" – der Staat müsse als Versicherung tätig werden und verlorene Rechte vergüten.
Einen anderen Vermittlungsversuch zwischen den Positionen der "Befreier" und der "Entschädiger" unternahm Abgeordneter Johann Feifalik. Er schlug vor, die Untertanslasten freiwillig, also nur auf Verlangen der Verpflichteten abzulösen. Dies greife zu kurz, widersprach Ludwig Löhner, der Reichstag habe Gleichheit zwischen den Bürgern herzustellen - Feifaliks Vorschlag laufe auf eine "Grundentlastung für jene hinaus, die sich das leisten können".
Es gab auch Gegner staatlicher Entschädigungsleistungen. Abgeordneter Alois Trojan etwa schlug eine Kreditlösung vor, lehnte aber eine Staatsablösung aus Gleichheitsgründen ab, weil sie Bürger belasten würde, die aus der Grundentlastung keinen Nutzen ziehen. Dieses Argument wurde von anderen Abgeordneten widerlegt, die nachdrücklich darauf hinwiesen, dass Staat und Gesellschaft von der Grundentlastung profitieren werden. Die "Hebung der Landwirtschaft" werde Industrie und Handel nützen, die Wirtschaft beleben und die Steuern vermehren. Kudlichs romantische Vision vom "blühenden Garten", der aus der alten Grundherrschaft zum Wohle aller wachsen werde, entsprach durchaus den Prognosen aufgeklärter Ökonomen seit dem 18. Jahrhundert.
Streit um das letzte Wort
Nach insgesamt 47 Debattenrednern hielt Hans Kudlich in der 31. Sitzung am 26. August 1848 das ihm als Antragsteller gebührende Schlusswort. Darin zeigte er sich überrascht, wie man über eine Sache, in der sich alle einig schienen, so lange habe sprechen können. Die Debatte über die Entschädigung der Herrschaften habe ihn in seiner Ansicht bestärkt, es handle sich dabei nicht um eine Rechtsforderung. Das Verhältnis zwischen Untertan und Herrschaft beruhe in aller Regel nicht auf einem Vertrag, Vertragsverhältnisse bildeten Ausnahmen, aber nicht die Regel. Die Landesverfassung, ein Herrschaftsverhältnis und nicht privates Recht, also kein Gläubiger-Schuldner-Verhältnis, stelle die Rechtsbasis für die Verhältnisse zwischen Herren und Untertanen dar. Wo tatsächlich privatrechtliche Verhältnisse bestünden, wolle er den Staat zur Entschädigung heranziehen, da dieser "Wucherverträge sanktioniert statt verhindert hat". Er bleibe daher bei seinem letzten Antrag, schloss Kudlich: "Sprechen wir das Recht der Entschädigung im Allgemeinen und bestimmt aus und überlassen wir die Spezialisierung der ganzen Frage dem Ausschuss".
Nach dem Antragsteller erklärte Justizminister Alexander Bach die Position der Regierung: Die Aufhebung der bäuerlichen Untertänigkeit greife tief in alle Verhältnisse ein und erfordere eine Reorganisation aller staatlichen Verhältnisse, namentlich in Gemeindewesen, Verwaltung und Gerichtsjustiz.
Zumal die Landtage Elaborate für die Ablösungsfrage geliefert hätten, hielt Bach es auch angesichts der Verschiedenheit der provinziellen Verhältnisse für angemessen, "die Einzelheiten dieser Gesetze den Provinziallandtagen zu überlassen".
Der Reichstag sollte allgemeine Grundsätze aussprechen und sein Ausschuss die Einzelheiten klären, wobei die Regierung für die Aufhebung der persönlichen Untertänigkeit mit allen Folgen und für eine völlige Entlastung von Grund und Boden eintrete. Die Regierung halte die Entschädigungsfrage für wichtig und wolle darüber volle Beruhigung geben. "Diese Frage kann nicht durch zweideutige Worte des Antrages erledigt werden", stellte Bach gegenüber Kudlich fest und trat für einen bestimmten Beschluss in der Entschädigungsfrage ein. "Das ist eine Frage von Recht, Billigkeit, politischer Klugheit und der Nationallehre".
Die persönliche Untertänigkeit, insbesondere die Robot, sei ohne Entschädigung aufzuheben, bei der dinglichen Belastung von Grund und Boden dürften Recht und Eigentum aber nicht durch Humanitätstheorien beseitigt werden, warnte Bach und verwies auf das Frankfurter Parlament, das sich zur Unverletzlichkeit des Eigentums bekenne. Daraus folgte für Justizminister Bach das Prinzip der Entschädigung.
Der Gesamtertrag von Grund und Boden betrage 700 Mill. Gulden jährlich, hielt Bach fest. Aus diesem Ertrag beziehen auch öffentliche Wohltätigkeitsanstalten mit einer Gesamtinvestition von 150 Mill. Gulden ihre Einkünfte. Eine entschädigungslose Aufhebung der Grundlasten würde diese Anstalten in ihrer Existenz gefährden, schloss Minister Bach.
Finanzminister Philipp Krauß bot den Abgeordneten an, im Rahmen einer gerechten Lösung vermittelnd einzuschreiten, wobei er es für gerecht hielt, Untertansschuldigkeiten, die aus öffentlichem Recht entspringen, mit der herrschaftlichen Gegenleistung enden zu lassen. Entschädigt werden sollten zivilrechtliche Leistungen auf der Basis von Verträgen oder solche, die die Gesetzgebung seit Jahrhunderten als privatrechtliche betrachte. Praktisch gehe es darum, Vermögenslücken und Gefahren für die Produktion, für die Löhne der Landarbeiter, den Konsum, für Industrie und Handel sowie für die Grundstückspreise zu vermeiden, zumal entschädigungslose Grundherren gezwungen wären, Grundstücke zu verkaufen. Für Entschädigungen spreche auch die Sorge um die Gläubiger der Grundherren, deren Urbarialschulden der Finanzminister mit 15 Mill. bis 20 Mill. Gulden bezifferte.
Bei der Frage, wer für die Entschädigung aufkommen soll, ging Krauß davon aus, dass nicht nur die bisher Belasteten, sondern auch die Berechtigten vom neuen Wirtschaftssystem gewinnen werden und daher einen Teil der Entschädigung selbst tragen könnten. Eine "mäßige Vergütung" hielt der Finanzminister beim Entfall privatrechtlicher Schuldigkeiten für angebracht.
"Kudlichs blühender Garten wird entstehen", zeigte sich Krauß überzeugt, auch der Staat werde gewinnen, meinte der Minister optimistisch. Die Steuerkraft werde zunehmen und der Staat imstande sein, den Übergang zu beschleunigen, ohne Werte zu vernichten. Der Staat könne einen Teil der Entschädigung übernehmen, sagte der Minister zu und bemühte sich abschließend auch um Beruhigung der galizischen Abgeordneten: Der Staat werde Rücksicht auf unterschiedliche Mittel in den Provinzen nehmen und Grundbesitzer in Galizien nicht im Stich lassen, die sich eine Robotschenkung nicht leisten könnten.
Damit war die Rednerliste erledigt. Ehe Präsident Strobach die Debatte schloss und die Abstimmungen über den Kudlichschen Antrag und die 60 "Amendments" für die 32. Sitzung am 29. August 1848 anberaumte, erschütterte aber noch ein heftiger Geschäftsordnungsstreit das Plenum. Die abschließenden Wortmeldungen der beiden Minister hätten ihn um das Schlusswort gebracht, das ihm als Antragsteller laut Geschäftsordnung zustehe, klagte Abgeordneter Kudlich und wurde darin von zahlreichen Abgeordneten unterstützt. Präsident Strobach sah aber keine Möglichkeit, Hans Kudlich neuerlich das Wort zu erteilen und schloss die Sitzung. (Fortsetzung und Schluss am 9. September)