Parlamentskorrespondenz Nr. 774 vom 25.09.2008

Kein Automatismus bei Volksabstimmungen

Wien (PK) – Lang nach Mitternacht kam es im Nationalrat noch zu einer grundsätzlichen Debatte. Anlass dafür war ein Antrag der FPÖ, grundlegende EU-Staatsverträge einer Volksabstimmung zu unterziehen. Abgeordneter Dr. SCHÜSSEL (V) bekräftigte als erster Redner, die ÖVP werde der vorliegenden Änderung der Bundesverfassung nicht zustimmen. Seiner Meinung sollte die Zukunft Österreichs in der EU außer Streit stehen. Schüssel appellierte an die SPÖ, "die Anti-EU-Koalition der Kronen Zeitung" nicht ins Hohe Haus zu tragen. "Wir brauchen Europa und wollen in Europa eine Rolle spielen".

Abgeordnete Mag. GROSSMANN (S) betonte, die SPÖ sei und bleibe eine Partei, die sich zum europäischen Einigungswerk bekenne. Ihr gehe es aber darum, die EU zu einer Sozialunion zu machen, mit dem Ziel, die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Die EU-Skepsis der Bevölkerung wertete Grossmann als Warnsignal, das ernst genommen werden müsse. Es müssten dringend vertrauensbildende Maßnahmen gesetzt werden, sagte sie, dazu gehöre auch die stärkere Einbindung der Bevölkerung bei wesentlichen Änderungen der EU-Verträge. Zur Untermauerung ihrer Argumentation brachte Grossmann zwei Entschließungsanträge ein. Diese zielen zum einen auf die Weiterentwicklung der EU zu einer Sozialunion und zum anderen auf die Einführung einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer ab.

Abgeordnete Mag. LUNACEK (G) erinnerte daran, dass die SPÖ noch heute Nachmittag einen Antrag der Grünen auf Einführung einer Finanztransaktionssteuer abgelehnt habe, und zeigte sich über den Gesinnungswandel erfreut. Den vorliegenden Antrag der FPÖ auf Änderung der Verfassung lehnte sie dezidiert ab. Es sei jederzeit möglich, im Einzelfall eine Volksabstimmung zu beschließen, erklärte sie, ein Automatismus sei nicht sinnvoll. Lunacek bekannte sich ausdrücklich zur Europäischen Union. Zur Frage der Weiterentwicklung der Europäischen Union brachte Lunacek einen Entschließungsantrag ein, der u.a. auf die Einführung europaweiter Volksabstimmungen über EU-Vertragsänderungen abzielt.

Abgeordneter Dr. BÖSCH (F) unterstrich die Forderung der FPÖ, über alle für Österreich wesentlichen Änderungen der EU-Verträge eine Volksabstimmung abzuhalten. Zu dieser Frage brachte er zusätzlich zum vorliegenden Antrag auf Änderung der Bundesverfassung auch einen Entschließungsantrag ein. In einem zweiten Entschließungsantrag forderte Bösch den Widerruf der Ratifizierung des Lissabon-Reformvertrags durch Österreich. Die europaweite Volksabstimmung bezeichnete Bösch als "Hirngespinst", dem seit Jahren nachgejagt werde.

Staatssekretär Dr. WINKLER wiederholte den Standpunkt der Regierung, dass es keine zwingende Notwendigkeit für eine Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon gegeben habe. Er wandte sich auch strikt dagegen, die Bundesverfassung in einem "Schnellverfahren" ohne ausführliche Vorberatung zu ändern. Seiner Ansicht nach ist der FPÖ-Antrag sowohl juristisch unklar formuliert als auch inhaltlich abzulehnen. Ein Widerruf einer Ratifizierung ist ihm zufolge völkerrechtlich nicht möglich.

Abgeordneter Dr. CAP (S) hielt in Richtung ÖVP fest, es sei eine Illusion zu glauben, man könne den gleichen Weg wie bisher weitergehen und versuchen, Europa den Menschen zu erklären. Die Menschen drohten sich von der EU abzuwenden, wenn sie nicht stärker einbezogen würden, warnte er. Volksabstimmungen dürften nicht als Störfaktor in der EU-Politik gesehen werden, forderte Cap.

Vor Eingang in die Abstimmung teilte die Vorsitz führende Dritte Nationalratspräsidentin Dr. GLAWISCHNIG mit, dass sie den Antrag der FPÖ betreffend Widerruf der Ratifikation des Lissabon-Reformvertrags trotz der von ÖVP-Klubobmann Dr. SCHÜSSEL geäußerten Bedenken zulassen werde.

Der Antrag der FPÖ auf Änderung der Bundesverfassung fand bei der Abstimmung nicht die erforderliche Mehrheit. Gleiches gilt für den Entschließungsantrag der SPÖ betreffend Einführung einer allgemeinen Finanztransaktionssteuer auf EU-Ebene und auf globaler Ebene, den Entschließungsantrag der Grünen betreffend weitere Entwicklung der Europäischen Union sowie den Entschließungsantrag der FPÖ betreffend Widerruf der Ratifikation des EU-Reformvertrags von Lissabon. Mehrheitlich angenommen wurden hingegen der Entschließungsantrag der SPÖ betreffend die Stärkung der sozialen Dimension der Europäischen Integration und der Entschließungsantrag der FPÖ betreffend Neuorientierung der österreichischen EU-Politik.

(Schluss Volksabstimmung/Forts. NR)