Parlamentskorrespondenz Nr. 837 vom 30.10.2008

Die Zweite Republik von innen

Wien (PK) - Nationalratspräsidentin Barbara Prammer stellte heute im Hohen Haus eine Edition der Tagebuchnotizen von Adolf Schärf vor. In diesen erfährt man, was der spätere Bundespräsident so von Tag zu Tag für erwähnenswert hielt. Neben der Präsidentin meldeten sich auch die Herausgeberin Gertrude Enderle-Burcel, Sektionschef Manfred Matzka und Herbert Krejci zu Wort. An der Veranstaltung nahm ein ebenso zahlreiches wie prominentes Publikum teil, unter anderen die Staatssekretäre Andreas Schieder und Hans Winkler, der seinerzeitige Vizekanzler Hannes Androsch und die ehemaligen Minister Franz Hums, Lore Hostasch und Erwin Lanc.

Prammer erinnerte sich eingangs daran, dass sie 1963 als Neunjährige dem damaligen Bundespräsidenten Schärf am Hauptplatz von Vöcklabruck Blumen überreichen durfte. Sie sei von dieser Begegnung sehr beeindruckt gewesen. Zum Buch selbst merkte sie an, es werde ein Signal dafür sein, Geschichte umfassender als bislang zu interpretieren. Tagebuchnotizen seien eine wesentliche Quelle für die Geschichtsforschung, zumal sie auch die Hintergründe ausleuchteten und den Alltag einbezögen, sodass manche Entwicklungen in einem größeren Zusammenhang erkennbar würden.

Es sei daher schön, ein solches Buch zu erhalten, da es ein Werk sei, mit dem an die österreichische Geschichte erinnert werden könne. Das gelte übrigens auch für die Republiksausstellung, die in wenigen Tagen im Parlament eröffnet werde. Geschichtsbewusstsein sei notwendig, weil Demokratiebewusstsein ohne ein solches nicht vorstellbar sei. An dieser Stelle müssten also die entsprechenden Bemühungen weiter verstärkt werden, meinte die Präsidentin, die dem Buch viele Leser wünschte.

Nachdem Manfred Matzka über den Beitrag des BKA zur Publikation des Werkes gesprochen hatte, verwies Enderle-Burcel auf die enge Beziehung Schärfs zum Parlament. Er sei 15 Jahre lang Beamter der Parlamentsdirektion gewesen, zuletzt im Range eines Hofrates. Es sei aber sinnfällig, das Buch im Palais Epstein zu präsentieren, das Schärf als Vizekanzler oftmals aufsuchte, um mit den Sowjets, deren Kommandantur sich bis 1955 an dieser Stelle befunden hatte, zu verhandeln. Tagebuchnotizen, so die Herausgeberin weiter, bildeten eine Grundlage, vordergründige Quellen zu hinterfragen und gegebenenfalls voreilige Interpretationen zu relativieren. Enderle-Burcel kündigte an, in angemessener Frist weitere Bände der Tagebuchnotizen edieren zu wollen.

Herbert Krejci würdigte schließlich die Bedeutung Schärfs für die österreichische Geschichte und meinte, die Zweite Republik könne stolz sein auf Männer wie Schärf, die verantwortlich dafür seien, dass heutige Generationen Sicherheit und Wohlstand genießen könnten. Hinsichtlich der Aufzeichnungen merkte er an, er sei tief beeindruckt von der Unmittelbarkeit und der menschlichen Note, die aus diesen Zeilen sprächen. Interessant sei übrigens, dass Schärf auch als Vizekanzler zu Mittag noch nach Hause gegangen sei, um dort sein Mittagessen einzunehmen und danach ein wenig zu ruhen. Die Nachmittage habe er mitunter zu Spaziergängen genutzt, ehe er sich wieder den Akten zugewendet habe. Es sei dies also eine Zeit gewesen, in der Politiker noch nachdenken konnten, worüber man in unserer heutigen Zeit durchaus nachsinnen dürfe.

Adolf Schärf (1890-1965)

Schärf wurde 1890 im mährischen Mikulov (damals Nikolsburg) geboren und studierte 1909 bis 1914 Rechtswissenschaften in Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Klubsekretär der Sozialdemokraten und zog 1933 noch für wenige Monate in den Bundesrat ein. Da sich Schärf anders als viele seiner Parteifreunde offen antifaschistischer Tätigkeit enthielt, blieb er in der Folge bis Kriegsende 1945 weitgehend unbehelligt; er arbeitete in jener Zeit als Anwalt.

Ein Jahr im Leben des Vizekanzlers Schärf

Penibel schrieb Adolf Schärf Tag für Tag kurze Notizen in ein Diarium, in dem er auch festhielt, wie er geschlafen hatte, welche Temperatur das Thermometer anzeigte und ob es Niederschlag gab. "Gut geschlafen trotz Quatschwetter", lesen wir etwa, und erfahren auch andere Belanglosigkeiten wie dass Schärf einen Verdauungsspaziergang nach Dornbach unternahm. In wenigen Worten umreißt Schärf sein Tagewerk, nennt dienstliche Termine, die Personen, mit denen er sich traf und verzeichnet auch den Gesprächsinhalt. Bei wichtigeren Treffen liegt eine auszugsweise Darstellung bei, die Schärf selbst in Gabelsberger-Kurzschrift angefertigt hatte. Dies gilt vor allem für Ministerratssitzungen und für Besprechungen mit Bundeskanzler Raab. Aber auch Theaterbesuche werden so festgehalten. Breiten Raum nimmt die Reise nach Moskau im April 1955 ein, die Österreich schließlich den Staatsvertrag bringen sollte.

Österreich wird frei

Dank Schärfs Aufzeichnungen erfährt die Öffentlichkeit nun auch, wie die österreichische Delegation 1955 in Moskau zum Staatsvertrag kam. Manche der Mitteilungen Schärfs sind geeignet, lang und gern gepflegte Mythen der österreichischen Geschichte kräftig zu entzaubern. So soll, Schärfs Aufzeichnungen zufolge, Außenminister Figl war in Wahrheit in Moskau mehrmals indisponiert gewesen sein.

Während der Verhandlungen mit der sowjetischen Seite ist es vor allem Staatssekretär Kreisky, der die Etikette wahren will. Kreisky besteht etwa darauf, die Botschafter der Westmächte über den Verlauf der Verhandlungen zu unterrichten. Raab sieht die Dinge eher pragmatisch: Man könne ihnen in Wien immer noch berichten, was vorgefallen sei. Als die Idee geboren wird, man könne vor Lenins Leichnam einen Kranz niederlegen, ist nur Kreisky dagegen, Raab hat dagegen ebenso wenig Einwände wie Schärf selbst.

Nach erfolgreichem Abschluss der Verhandlungen gibt Ministerpräsident Bulganin ein Abschiedsessen, an dem auch KP-Chef Chruschtschow teilnimmt. Er kommt auf den hohen Grad an verstaatlichter Industrie zu sprechen und erinnert die österreichischen Gäste daran, dies sei nur solange eine Machtposition, als die Sozialdemokratie an der Regierung sei. Sei sie es einmal nicht mehr, könne die Verstaatlichte sehr schnell zerschlagen werden. Schärf entgegnet, man wisse das und richte die Politik dementsprechend aus. Chruschtschow ist zufrieden und erhebt sein Glas auf die österreichische Sozialdemokratie. Und der spätere sowjetische Staatspräsident Mikojan ergänzt: "Die arbeitenden Menschen Österreichs haben Sie zu ihren Vertrauensleuten gewählt und das können wir nur zur Kenntnis nehmen, ob es uns passt oder nicht. Wir haben uns danach zu verhalten, und das haben wir auch bei den jetzigen Verhandlungen bewiesen." Die Delegation kehrte mit der sowjetischen Zustimmung zum Staatsvertrag nach Wien zurück.

Nach der Rückkehr aus Moskau steht die feierliche Unterzeichnung des Vertrages und seine parlamentarische Verankerung im Vordergrund, danach die Wiederaufrüstung Österreichs durch die Schaffung eines Heeres, ehe das Jahr mit Spekulationen über vorzeitige Neuwahlen zu Ende geht.

Zwischendurch findet Schärf immer wieder Zeit, persönliche Befindlichkeiten zu notieren, auch während des mehrwöchigen Urlaubs weicht er nicht von dieser Tradition ab. Manche Kommentare lesen sich wie amtliche Wetterberichte ("erst nebelig-trüb, später zeitweise sonnig"), andere halten fest, wann Schärf einen Spaziergang unternahm, welche Theaterstücke ("Der Verschwender", "Madame Pompadour") er sich ansah und wann er sich in "guter Stimmung" befand. Auch parteiinterne Spannungen verschweigt Schärf nicht, so hält er an einer Stelle fest, Bundespräsident Körner habe ihm geraten, ihn nicht "für blöd" zu halten, während ein anderes Mal Innenminister Helmer Schärf gegenüber Dampf ablässt, indem er erklärt, er habe von Schärfs Überheblichkeit genug. Wichtige Eckpunkte der Republiksgeschichte - etwa die Unterzeichnung des Staatsvertrags oder der Beschluss des Neutralitätsgesetzes - streift Schärf hingegen nur mit wenigen Worten, vielleicht, weil er sie für selbstverständlich hielt, vielleicht, weil diese aus dem Moment heraus noch nicht die Bedeutung erahnen ließen, die sie später für Österreichs Historie haben sollten.

In diesen Notizen erfährt man viel über die Geschichte der Zweiten Republik, und so mancher Mythos wird dabei entzaubert. So gesehen wäre es nicht uninteressant, mehrere der Tagebuchbände Schärfs zu edieren.

Adolf Schärfs "Tagebuchnotizen 1955" sind im Innsbrucker Studienverlag erschienen, sie umfassen 400 Seiten (davon fast hundert Seiten Anhang) und sind im Buchhandel erhältlich. (Schluss)

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at