Parlamentskorrespondenz Nr. 864 vom 14.11.2008
Parlament: Enquete über Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus
Wien (PK) - "Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus" lautet das Thema einer Enquete, die Nationalratspräsidentin Barbara Prammer heute Nachmittag gemeinsam mit der Vorsitzenden der Bundesjugendvertretung Edda Strutzenberger und namhaften Experten im Parlament abhielt. Präsidentin Prammer ordnete die Enquete den zielgruppenorientierten Veranstaltungen des Parlaments im Gedenkjahr 2008 zu und erinnerte an dabei insbesondere auch an die Lesung zur Erinnerung an die "Reichspogromnacht" im November 1938 und an den sehr würdig begangenen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus, der unter dem Titel "War nie Kind ..." im besonderen der Kinder und Jugendlichen gedachte, die zu Opfern des Nationalsozialismus wurden.
Zudem machte die Präsidentin auf die Einladung von Menschen in das Parlament aufmerksam, die während des Nationalsozialismus deportiert wurden oder ins Exil gehen mussten. Prammer schilderte in sehr persönlichen Worten interessante Begegnungen mit diesen Zeitzeugen und rief dazu auf, für den Tag vorzusorgen, "an dem uns diese Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen werden".
Es sei daher wichtig, gemeinsam mit der Bundesjugendvertretung eine neue Erinnerungskultur zu entwickeln. Denn es dürfe nicht in Vergessenheit geraten, wie viele Gesichter die Verfolgung hatte und wie viele Einzelschicksale gerade auch unter Kindern und Jugendlichen zu beklagen sind. Jungen Menschen sei im Nationalsozialismus vieles zugemutet worden, was man jungen Menschen heute nicht zumute. Darüber hinaus haben aber viele Kinder und Jugendliche tödliche Verfolgung erlitten, 1,5 Millionen jüdische Kinder wurden wegen ihrer Herkunft, zehntausende Kinder wegen Krankheiten und Behinderungen ermordet. Viele Kinder mussten Österreich - oft ohne Eltern und Geschwister - verlassen, viele von ihnen haben Familienangehörige oft nie wieder gesehen und sind bis heute von traumatischen Erfahrungen gezeichnet.
Ohne die Arbeit der Erinnerung könne kein Geschichtsbewusstsein und ohne Geschichtsbewusstsein kein demokratisches Bewusstsein entwickelt werden, sagte Barbara Prammer: "Österreich hat Verantwortung für die eigene Geschichte zu tragen". Und gegenüber jenen, die ihr manchmal sagten, sie wollten keine Schuld auf sich nehmen, hielt die Nationalratspräsidentin fest: "Wir sprechen nicht von Schuld, wir sprechen von Verantwortung. Dazu gehört die Entwicklung einer Erinnerungskultur, die eines demokratischen Staates würdig ist. Von diesem Anspruch werde ich keinen Millimeter abweichen."
Die Vorsitzende der Bundesjugendvertretung Edda Strutzenberger leitete ihre Ausführungen mit einem Rückblick auf die historischen Ereignisse des Jahres 1938 ein und beleuchtete dann die unterschiedlichen Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen im Nationalsozialismus. Viele junge Menschen seien durch Ausgrenzung, Misshandlung, Vertreibung oder Ermordung zu Opfern geworden, während andere zu nützlichen Dienern des Systems erzogen wurden, viele leisteten aber auch Widerstand, führte Strutzenberger aus und nannte es das Ziel der Enquete, diese unterschiedlichen Lebensrealitäten und die dazu vorhandene Literatur darzustellen.
Das Thema habe aber leider auch eine aktuelle Seite, da Ausgrenzung neuerdings wieder als "normal" angesehen werde, sagte Strutzenberger. Es gebe Anlass, sich mit Rassismus und Ausländerfeindlichkeit auseinander zu setzen. Daher hat die Bundesjugendvertretung mit dem Wissenschaftsministerium einen Preis für Dissertationen und Diplomarbeiten ausgeschrieben, die sich mit diesem Thema befassen. Ein weiterer Preis wurde gemeinsam mit dem Unterrichtsministerium ins Leben gerufen, er soll ausgezeichneten Internetprojekten zugesprochen werden, die sich der Vernetzung der Gedenk- und Erinnerungskultur widmen, teilte die Vorsitzende der Bundesjugendvertretung mit.
Brigitte Bailer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands) schickte in ihrem Vortrag voraus, es habe keine einheitliche Jugend im Nationalsozialismus gegeben, die Realitäten und Lebenserfahrungen seien vielmehr äußerst unterschiedlich gewesen, je nach dem, ob die Jugendlichen innerhalb oder außerhalb der "Volksgemeinschaft" standen. Faktum sei, dass das Jahr 1938 jedenfalls aber einen dramatischen Bruch auch für Kinder und Jugendliche mit sich gebracht habe.
Der Nationalsozialismus sei eine vordergründig junge Bewegung gewesen und habe bewusst versucht, die Jugendlichen gegen die ältere Generation anzusprechen und gegen sie aufzubringen, junge Menschen seien sogar aufgefordert worden, ihre Eltern zu denunzieren, erinnerte Bailer. Die hohe Sozialisierungswirkung, die von den NS-Jugendorganisationen ausging, dürfe nicht unterschätzt werden, HJ und BDM seien für viele Burschen und Mädchen prägende Erfahrungen gewesen. Den Einfluss der NS-Ideologie auf Jugendliche könne man allerdings auch am erschreckend jungen Alter der NS-Täter ablesen. So seien viele gerade in ihren Dreißigern gewesen, als sie Herren über Leben und Tod wurden. Dazu komme noch, dass ganz junge Burschen als Freiwillige in die Waffen-SS gedrängt wurden und besonders in den letzten Kriegsjahren Halbwüchsige zur Wehrmacht eingezogen wurden. Diese Jugendlichen seien vielfach mit ungeheuerlichen Verbrechen konfrontiert worden, in die sie oft zum Teil sogar selbst involviert waren. Bailer machte aber auch auf das Schicksal jener Jugendlichen aufmerksam, die sich dem Kriegsdienst entziehen wollten oder aktiven politischen Widerstand gegen das NS-Regime leisteten, erbarmungsloser Verfolgung ausgesetzt waren und sogar noch in den letzten Kriegstagen hingerichtet wurden.
Anhand von Einzelschicksalen schilderte Bailer sodann die Situation jener Kinder und Jugendlichen, die aus der "Volksgemeinschaft" ausgeschlossen waren. Sie sprach von Kindern, die unmittelbar nach dem Anschluss wegen ihrer jüdischen Herkunft in die letzte Bankreihe ihrer Schulklassen versetzt wurden, die über die Kindertransporte ins Ausland geschickt wurden und am Westbahnhof zum letzten Mal ihre Eltern sahen. Da war auch der junge Jude, der sich im KZ Theresienstadt der jüdischen Kinder annahm und gemeinsam mit ihnen ermordet wurde, oder der Jugendliche, der in Auschwitz an der Rampe eingesetzt war und dort in einem Transport seine Mutter traf. Bailer erwähnte ebenso auch die slowenischen Kinder, die aus Südkärnten vertrieben wurden, die jungen Roma, die in Lagern leben mussten, behinderte Kinder, die im Rahmen des Euthanasieprogramms ermordet wurden, sowie "asoziale" Jugendliche, die man in Lager steckte.
Schließlich befasste sich Universitätsprofessor Emmerich Talos mit Deutungen und Lehren zum Jahr 1938. Dazu sei es, so Talos, zunächst notwendig, mehrere Schlaglichter auf den so genannten "Anschluss" zu werfen. Zunächst habe der Begriff "Anschluss" eine mehrfache Bedeutung. Zum einen meine er den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und die damit verbundene Machtergreifung durch die Nationalsozialisten selbst. Zum anderen sei auf die Anschlussbewegung in der Ersten Republik zu verweisen, und zum dritten begreife man ganz allgemein jene Jahre 1938 bis 1945, in denen Österreich von der Landkarte gelöscht war.
Der "Anschluss" selbst sei ein dreifacher Prozess gewesen. Es habe einerseits massiven Druck von außen gegeben, also von deutscher Seite, andererseits seien bewusst österreichische Stellen infiltriert worden, und drittens sei vor allem ab 1936 eine Dynamik "von unten" entstanden, die nach dem Treffen von Berchtesgaden massiv an Tempo gewonnen habe.
Talos hielt fest, dass 1938 eine Diktatur der anderen folgte, auch wenn dieses Faktum in der Debatte oft nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1938 weise denn auch zwei Seiten auf. Einerseits wurden Bauern entschuldet, die Kinder armer Leute auf Ferien verschickt, 80.000 Fachkräfte erhielten, wenn auch in Deutschland, wieder Arbeit und Gulaschkanonen sorgten in den armen Regionen für Essen. Andererseits wurden 50.000 bis 70.000 Österreicher verhaftet, die Presse und die Verwaltung gesäubert und Oppositionelle repressiert. Es herrschten Verfolgung, Raub und Mord.
Durch die Entwicklung der Opferthese und der damit verbundenen Widerstandserzählung gelang es dem offiziellen Österreich nach 1945, sich um eine grundlegende Debatte zu diesem Teil der eigenen Geschichte zu drücken, was, wie Talos erinnerte, auch gleich Gelegenheit bot, auf eine Analyse des Austrofaschismus zu verzichten. Die gelungene Externalisierung half nicht nur, die Unabhängigkeit und Souveränität wiederzuerlangen, sie vermied auch lange Zeit Wiedergutmachungsforderungen.
Erst in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kam es zu einer Änderung in der Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit, wobei insbesondere die Rede des damaligen Bundeskanzlers Vranitzky im Juli 1991 Erwähnung verdiene. Dennoch ergebe sich auch heute noch ein widersprüchliches Bild. Der Opfermythos sei immer noch teilweise vorhanden, eine Tradition der Selektivität und der Segmentierung schreibe sich seit 1945 fort. Während in Umfragen immer noch 44 Prozent der Ansicht seien, der Nationalsozialismus habe auch gute Seiten gehabt, plädierten fast zwei Drittel der Befragten dafür, einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen.
Die lange Zeit fehlender Auseinandersetzung habe antidemokratische Verhaltensmuster erhalten, dem müsse durch konkrete Maßnahmen gegengesteuert werden, alles andere wäre demokratiepolitisch bedenklich, schloss Talos.
Nach den Vorträgen widmete sich die Enquete in vier Arbeitsgruppen den Themen "Kinder und Jugendliche im Widerstand" (Wolfgang Neugebauer vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands und Alexander Mejstrik von der Universität Wien), "Kinder und Jugendliche als systeminvolvierte" (Dagmar Reese, Berlin, und Johanna Gehmacher von der Universität Wien) sowie "Kinder und Jugendliche als Opfer des Nationalsozialismus" (Brigitte Halbmayr vom Institut für Konfliktforschung und Herwig Czech vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands.
Den Abschluss der Veranstaltung wird eine Diskussion zum Thema "Außerschulische Jugendarbeit - historische Lehren für die Gegenwart" bilden. Am Podium werden der Zeitzeuge Hugo Pepper, Klaus Schreiner (Bundesjugendvertretung) Ernst Berger (Universität Wien) und Florian Weninger (Verein Gedenkdienst) Platz nehmen. (Schluss)
HINWEIS: Fotos von dieser Enquete finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at