Parlamentskorrespondenz Nr. 914 vom 04.12.2008
Zeitzeugen
Wien (PK) – Nationalratspräsidentin Barbara Prammer lud heute zur Präsentation dreier Biographien ins Hohe Haus. An der Veranstaltung nahm ein ebenso zahlreiches wie prominentes Publikum teil, darunter Mitglieder der Familien Harpner und Wodak.
Prammer freute sich, die Anwesenden zu einer besonderen Buchpräsentation begrüßen zu können. Die in den Büchern dargestellten Persönlichkeiten hätten in mannigfacher Weise Einfluss auf die österreichische Geschichte genommen, Harpner als Anwalt, Björkman als sozial engagierte Frau und die Wodaks als politische Akteure.
Zudem kündigte die Präsidentin an, dass ab dem kommenden Jahr die Buchpräsentationen im Hohen Haus, die schon bisher großes Interesse gefunden hätten, in einem neuen Format gestaltet werden würden.
Brigitte Bailer verwies in ihrem Vortrag auf Parallelen in den Biographien der ProtagonistInnen der vorgestellten Bücher. Sie alle waren mit einem sich zunehmend radikalisierenden Antisemitismus konfrontiert, die Lebensläufe aller Familien waren durch die Erfahrungen von Flucht, Vertreibung und Exil geprägt. Vor diesem Hintergrund würdigte sie die wichtigen Beiträge von Gustav Harpner, Walter und Erna Wodak und Elsa Björkman-Goldschmidt zur österreichischen Kultur und Politik, die bis heute für unser Land von Bedeutung seien.
Im anschließenden Autorengespräch erzählte Renate Schreiber, sie sei eigentlich durch Zufall auf das Werk von Elsa Björkman gestoßen und habe sich gewundert, dass dieses nicht auf Deutsch vorliege. Umso mehr sei es ihr ein Bedürfnis gewesen, die Erinnerungen auch dem Wiener Publikum zugänglich zu machen, zumal Wien das Lebensthema Björkmans gewesen sei.
Bernhard Kuschey wiederum zeigte sich von den Debatten im Exil überaus beeindruckt und erklärte, er sei nach seiner Arbeit über die Familie Federn eingeladen worden, auch über die Wodaks eine Doppelbiographie zu verfassen, und diese Aufgabe habe er gerne übernommen, da einem eine solche Chance nicht oft geboten werde.
Ilse Reiter sagte, sie sei im Rahmen einer Arbeit über die Habsburgergesetze erstmals auf den Namen Harpner aufmerksam geworden, und die Person dieses Anwalts habe sie ob der Integrität, des Muts und des Engagements so beeindruckt, dass sie es sich zum Ziel gesetzt habe, den Menschen und seine Arbeit im Rahmen eines Buches zu würdigen.
Ilse Reiter verfasste eine monumentale Biographie über Gustav Harpner (1864-1924), dessen Leben stellvertretend für die Emanzipation der Arbeiterklasse und ihr Hineinwachsen in einen demokratischen Staat steht. Geboren in der mährischen Hauptstadt Brünn als Sohn eines reichen Tuchhändlers, studierte Harpner in Wien Rechtswissenschaften und begann 1893 seine Tätigkeit als Rechtsanwalt. Er war in die Kanzlei eines Verwandten eingetreten, zu dessen Partner er rasch avancierte.
Nur kurze Zeit später machte Harpner allgemein auf sich aufmerksam, als er so genannte "Anarchisten" (die real Repräsentanten der damals noch in weiten Kreisen verfemten Sozialdemokratie waren) in politischen Prozesses gegen die Willkür des Staates verteidigte, indem er auf den speziellen Charakter dieser Klassenjustiz verwies und die Machinationen der Staatsmacht aufdeckte.
Dadurch fiel Harpner dem anerkannten Führer der österreichischen Sozialdemokratie, Victor Adler, auf, der ihn zu seinem privaten Rechtsanwalt machte. Bald vertrat Harpner auch die sozialdemokratischen Gewerkschaften, die Arbeiterpresse und prominente links stehende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie den nachmaligen Staatspräsidenten der Tschechoslowakei, Thomas Garrigue Masaryk.
Ungeachtet seines politischen Engagements trat Harpner, wiewohl einer jüdischen Familie entstammend, 1902 in die katholische Kirche ein und ließ seine Söhne in der Folge im Wiener Schottengymnasium erziehen. Angesichts des Kulturkampfes zwischen Arbeiterbewegung und katholischem Klerus ein durchaus bemerkenswerter Schritt. Dies freilich hinderte Harpner nicht daran, seine Mandanten gegen allfällige Anwürfe aus den Reihen des politischen Katholizismus mit aller Verve zu verteidigen, was ihm seitens der Christlichsozialen das Epitheton "juristischer Parteidogmatiker der Sozialdemokratie" eintrug.
1917 stand Harpner mehr denn je im Licht der Öffentlichkeit, verteidigte er doch den Sohn seines Freundes Victor Adler, Friedrich, vor dem Ausnahmegericht, nachdem der Filius im Oktober 1916 den Ministerpräsidenten, den er für das Elend der österreichischen Völker, die im großen Kriege verbluteten, verantwortlich machte, in einem Wiener Innenstadthotel erschossen hatte. Der Prozess wurde nicht zuletzt durch Friedrich Adlers berühmte Rede vor dem Ausnahmegericht zur Cause celebre, die weltweites Aufsehen erregte. Schon zwei Jahre zuvor hatte Harpner den Abgeordneten Otto Glöckel vor dem Militärgericht verteidigt, dem Hochverrat vorgeworfen wurde. Anders als Adler wurde Glöckel, nicht zuletzt durch die beeindruckende Zeugenaussage von Karl Seitz, freigesprochen. Harpner bot Seitz daraufhin scherzhaft an, dass er, wenn er jemals das Interesse an der Politik verlieren sollte, jederzeit bei ihm in der Kanzlei anfangen könne.
Nach der Ausrufung der Republik im November 1918 avancierte Harpner, der mit vielen Geistesgrößen der damaligen Zeit wie Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Kolo Moser und Hermann Bahr befreundet war, zum Anwalt der Republik. Konkret war er mit der Ausarbeitung der Habsburgergesetze betraut. 1919 wurde Harpner Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, 1922 zudem Präsident der Rechtsanwaltskammer. Betraut mit einer Vielzahl von Aufgaben wurde er mitten aus der Erfüllung derselben durch einen plötzlichen und unerwarteten Tod im Sommer 1924 gerissen. Die Hauptrede bei der Trauerfeier hielt Bürgermeister Seitz. 1938 war Harpners Familie zur Flucht aus Österreich gezwungen, sein Sohn, der ihm als Rechtsanwalt nachgefolgt war, blieb auch nach dem Krieg in England, da ihm in Österreich keine Zukunftsperspektive geboten worden war.
Ilse Reiter, 1960 in Wien geboren, studierte nach der Matura daselbst Rechtswissenschaften und arbeitete sodann als Assistentin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Seit 1997 ist sie außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte in Wien. Mit ihrer engagierten, fundierten und detailreichen Biographie setzt sie nicht nur Gustav Harpner ein bleibendes Denkmal, sie setzt auch neue Standards auf dem Gebiet der biographischen Forschung, an denen zukünftige AutorInnen zu messen sein werden.
Ilse Reiters Buch "Gustav Harpner 1864-1924" ist im Wiener Verlag Böhlau erschienen, umfasst 608 Seiten und ist im Buchhandel erhältlich.
Erinnerungen und Betrachtungen
Das Buch "Es geschah in Wien. Erinnerungen von Elsa Björkman-Goldschmidt" ist eine von Renate Schreiber edierte und übersetzte Auswahl aus insgesamt sechs Erinnerungsbüchern der schwedischen Autorin. Sie konzentriert sich dabei auf die Kapitel, in denen Björkman-Goldschmidt Erlebnisse und Beobachtungen ihrer Zeit in Wien aus fünf Jahrzehnten festgehalten hat. Elsa Björkman, geboren 1888 in Linköping, war während des Ersten Weltkriegs als Krankenschwester in der Betreuung von deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien tätig. Von 1919 bis 1923 arbeitete sie für die schwedische Hilfsorganisation "Rettet das Kind" in Wien. 1921 heiratete sie Dr. Waldemar Goldschmidt, Arzt am Wiener Rothschild-Spital und arbeitete als schwedische Auslandskorrespondentin.
1938 war sie gezwungen, mit ihrem jüdischen Ehemann Wien zu verlassen. Im Winter 1945/46 kehrte sie aus Schweden für "Rettet das Kind" nochmals nach Wien zurück und verbrachte hier auch die folgenden Winter bis 1949. Zuletzt engagierte sich Björkman-Goldschmidt 1956 in der Betreuung von Ungarnflüchtlingen. Begegnungen mit Menschen aus verschiedensten Gesellschaftsschichten und mit Persönlichkeiten der österreichischen Politik und Kultur und ihre Kenntnis der Tätigkeit schwedischer Hilfsorganisationen in Wien lieferten ihr Material für zahlreiche Bücher. Björkman-Goldschmidt starb 1982. Das Buch umfasst 419 Seiten, ist im Verlag Böhlau erschienen und im Buchhandel erhältlich.
"Die Wodaks. Exil und Rückkehr" von Bernhard Kuschey ist eine ambitionierte "Doppelbiographie" des Ehepaares Erna und Walter Wodak. Erna Mandel, geboren 1916, entstammte einer Wiener Rabbinerfamilie. Nach ihrer Vertreibung 1938 konnte sie 1939 ihr Chemiestudium in England fortsetzen und abschließen. Walter Wodak wurde 1908 in Wien geboren. Seine politische Tätigkeit begann bereits in der Mittelschule, er setzte sie während seines Studiums der Rechtswissenschaften im linken Flügel der SDAP fort. Nach dem "Anschluss" floh er nach England und lernte in Liverpool Erna Mandel, die seine zweite Ehefrau wurde, kennen.
Nach seiner Rückkehr nach Österreich bekleidete Wodak wichtige Funktionen als Diplomat in Belgrad, als politischer Direktor des Außenministeriums, als österreichischer Botschafter in Moskau und schließlich als Generalsekretär des Außenamtes. 1974 verstarb er unerwartet. Kuschey thematisiert den schwierigen Selbstfindungsprozess des sozialistischen Exils in England und greift dabei in Darstellungen allgemeiner politischer und gesellschaftlichen Entwicklungen weit über die Biographie seiner Protagonisten hinaus. Seine Darstellung eröffnet interessante Perspektiven und Fragestellungen, das Verhältnis der sozialdemokratischen Partei zu den Intellektuellen jüdischer Abstammung in ihren Reihen betreffend, wie auch zur Geschichte der Linksopposition in der österreichischen Sozialdemokratie. Die Publikation ist im Braumüller-Verlag erschienen, hat 384 Seiten und ist gleichfalls im Buchhandel erhältlich.
HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie – etwas zeitverzögert – auf der Website des Parlaments im Fotoalbum : www.parlament.gv.at (Schluss)