Parlamentskorrespondenz Nr. 446 vom 05.05.2011

Die Bedeutung von Gedenken und Erinnern

Wien (PK) – Nationalrat und Bundesrat gedachten auch heuer wieder der Opfer des Nationalsozialismus im Historischen Sitzungssaal des Parlaments. Der 5. Mai wird im Hohen Haus seit 1998 als Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus begangen. Das Datum erinnert an den Tag, an dem 1945 das Konzentrationslager Mauthausen befreit wurde. Neben den Abgeordneten von Nationalrat und Bundesrat nahmen an der Sitzung auch zahlreiche prominente Gäste aus dem In- und Ausland teil, an ihrer Spitze Bundespräsident Heinz Fischer mit Gattin Margit und Vizekanzler Michael Spindelegger. Bundeskanzler Werner Faymann konnte wegen seines China-Besuchs nicht daran teilnehmen.

In Vorbereitung auf den Gedenktag wurde vom Mauthausen Komitee ein Jugendprojekt zum Thema "Netzwerk des Terrors" durchgeführt, an dem sich SchülerInnen der HLA für Mode und Kunst in Wien, Lehrlinge der ÖBB aus Graz, Knittelfeld und St. Pölten sowie der VOEST aus Linz und SchülerInnen der HAK Feldkirchen beteiligten. Die insgesamt 64 Jugendlichen setzten sich in Workshops mit der Geschichte des KZ Mauthausen und den Orten seiner ehemaligen Außenlager auseinander. Als Ergebnis dieser Workshops entstanden Kurzfilme, die zu einem gemeinsamen Film mit dem Titel "Das Netzwerk" vereint und im Rahmen der Gedenkfeier vorgeführt wurden.

Ziel des Projekts ist es, anhand der Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen und seiner Außenlager die Systematik des NS-Terrors aufzuzeigen. Dem soll die Möglichkeit gegenübergestellt werden, heute ein positives informelles Netzwerk von Menschen zu schaffen, das sich für "Zivilcourage" und "Entscheidungsfreiheit" einsetzt. Im Film dokumentieren die Jugendlichen ihre Assoziationen und ihre Auseinandersetzung zu den Themenbereichen Menschenrechte, Respekt, Integration und Zivilcourage.

Kneifel: Öffentliches Gedenken ist wichtig und notwendig

Bundesratspräsident Gottfried Kneifel ging in seiner Rede vor allem auf die Bedeutung von Gedenken und Erinnerung ein. Es gehöre zum Grundkonsens in Österreich, den Umgang mit Geschichte nicht zur Privatsache jedes Einzelnen zu erklären, betonte er: "Wir können und wollen auf öffentliches Gedenken nicht verzichten".

Kneifel erachtet es dabei für unabdingbar, auch dunkle Kapitel der Vergangenheit aufzuschlagen. Es dürfe keinen "schlampigen Umgang" mit der Geschichte geben. Da die Zahl der Zeitzeugen immer weniger wird, sieht es der Bundesratspräsident in den Händen der Gesellschaft, die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Schließlich gelte es, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass ein Leben in Demokratie, Frieden und Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist.

"Politik braucht Kultur, Kultur des Dialogs und eines vernünftigen Miteinanders – trotz des politischen Wettbewerbs", sagte der Kneifel. "Wir müssen alles unternehmen, um jene ökonomischen Fehlentwicklungen zu verhindern, die in den 20er und 30er-Jahren den Aufstieg von Radikalen ermöglicht haben. Massenarbeitslosigkeit war Nährboden für den Nationalsozialismus. Eine Politik, die Radikalen keine Chance geben will, darf sich nie mit Arbeitslosigkeit abfinden".

Wo auch immer die Menschenwürde eines Mitmenschen verletzt werde, werde sie auch in einem selbst verletzt, stellte Kneifel fest. Nur wenn man sich die Fähigkeit zum Mitleiden, zur Identifikation mit den Opfern bewahre, könne es dauerhaft gelingen, eine gerechte Gesellschaft zu gestalten.

Die Politik ist nach Ansicht von Kneifel gefordert, "immer für und mit den Schwachen" zu sein. Gemeinsam müsse man zudem am vereinten Europa weiterbauen, mit dem Ziel, am gesamten Kontinent Frieden, Freiheit, politische Stabilität und starke Demokratien mit garantierten Menschenrechten zu sichern.

Prammer: Demokratie muss stets aufs Neue verteidigt werden

Auch Nationalratspräsidentin Barbara Prammer wies in ihrer Rede auf die Notwendigkeit hin, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. "Wer vor der Vergangenheit die Augen schließt, wird blind für die Gegenwart", zitierte sie den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Man könne sich die Geschichte des eigenen Landes nicht aussuchen, sagte Prammer, so wie es darin "leuchtende Momente" gebe, gebe es auch "dunkelste Kapitel".

Viele Österreicherinnen und Österreicher hätten sich an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt. Dies könne, so die Nationalratspräsidentin, nicht ausgeblendet werden. Wer dies tue, wer die Realität des Holocaust vergesse oder vergessen machen wolle, habe wohl auch Schwierigkeiten, den 8. Mai 1945, den Tag der Befreiung Österreichs vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, richtig einzuordnen.

Die Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus sei die Verbriefung der Menschenrechte gewesen, machte Prammer geltend. Diese schützten nicht nur Grundfreiheiten wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, sie seien auch ein Garant gegen unmenschliche Behandlung und Folter sowie gegen Diskriminierung.

Allerdings gebe es auch einige Dinge, vor denen die Menschenrechte keinen Schutz bieten würden, führte Prammer aus. Sie könnten weder Gleichgültigkeit verhindern noch davor bewahren, dass Menschen wegschauten. Und sie schützten auch nicht "vor den Versuchen mancher, unter dem Deckmantel der freien Meinung Ausgrenzung zu betreiben und Hass zu schüren".

Prammer sieht in diesem Sinn jeden einzelnen gefordert. Es gebe keine Demokratie ohne Demokratinnen und Demokraten, unterstrich sie. Neben Regeln, Gesetzen und staatlichen Sanktionen brauche es vor allem auch Zivilcourage. Demokratie und Menschenrechte seien schließlich immer nur so stark, wie die Bereitschaft der Menschen, sie gegen Angriffe zu verteidigen. Zivilcourage sei lernbar, zeigte sich Prammer überzeugt und hob auch die Notwendigkeit hervor, die herrschende Moral, Institutionen und Autoritäten stets aufs Neue zu hinterfragen.

Ruth Klüger: Gedenken zwischen Erinnern und Verdrängen

Die Gedenkrede wurde heuer von der Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger gehalten (siehe PK-Meldung Nr. 447 ), wobei sie das Schicksal der Kinder im Nationalsozialismus in den Mittelpunkt stellte. Als Überlebende des Holocaust sah sie das Gedenken an das Geschehene und die Versuche seiner Bewältigung von der Spannung zwischen Erinnerung und Verdrängung geprägt. In einem langen Leben habe sie aus ihrer Beschäftigung mit der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, in dessen Mitte "der Holocaust wie ein schwarzes Loch gähnt", nichts gewinnen können, was man als Trost bezeichnen könne. Es bleibe ihr daher nur die Hoffnung, dass Forschen, Dichten, Nachdenken und Diskutieren vielleicht dazu beitragen können, das Rätsel der " zwielichtigen, zweideutigen, zwiespältigen menschlichen Freiheit" ein wenig zu erhellen, führte Ruth Klüger aus.

Die musikalische Umrahmung der Veranstaltung erfolgte durch den Chor und das Instrumentalensemble der Musikschule der Stadt Linz unter der Leitung von Thomas Mandel. Sie brachten unter anderem das "Dachaulied", das auf einem Text von Jura Soyfer beruht, zur Aufführung. (Fortsetzung Gedenktag)

HINWEIS: Fotos von dieser Veranstaltung finden Sie auf der Website des Parlaments (www.parlament.gv.at) im Fotoalbum.