Parlamentskorrespondenz Nr. 1024 vom 06.11.2011

Prammer: Erinnerungsarbeit darf nicht aufhören

Wien (PK) – "Wir werden immer Verantwortung dafür zu tragen haben, was der Nationalsozialismus angerichtet hat", bekräftigte heute Nationalratspräsidentin Barbara Prammer anlässlich der Matinee im Volkstheater zum Gedenken an die Novemberpogrome vom 9./10. November 1938 und sprach sich damit mit allem Nachdruck gegen die "Schlussstrich-Philosophie" aus. Sie sei bemüht, der Erinnerungsarbeit mehr zu geben als den Gedenktag am 5. Mai, sagte Prammer, vor allem auch durch Jugendprojekte.

Im Zentrum des diesjährigen Gedenkens, das zum vierten Mal in dieser Art in Kooperation von Parlament und Volkstheater - heuer auch in Zusammenarbeit mit der Stadt Wien und exil.arte - stattfand, stand Walter Arlen, einer der letzten noch lebenden Komponisten, der die Grauen des Nationalsozialismus im Exil in den USA überlebt hat. In einem berührenden "Gesprächskonzert" mit dem Ö1-Journalisten Michael Kerbler blickte Arlen auf sein bewegtes Leben zurück, wobei nicht nur seine bitteren und schmerzvollen Erfahrungen zur Sprache kamen, sondern auch seine glückliche Kindheit in Wien, die mit der Machtergreifung Hitlers sein jähes Ende nahm.

Im Anschluss an das Gesprächskonzert übergab exil.arte den von Los Angeles nach Wien gebrachten Vorlass von Walter Arlen an Stadtrat Andreas Mailath-Pokorny. Rebecca Nelsen (Sopran) und Chanda VanderHart (Klavier) interpretierten Lieder von Walter Arlen. Den Ehrenschutz für diese Veranstaltung hat Nationalratspräsidentin Barbara Prammer übernommen.

Das Gespräch wird in Ö1 am 10. November um 21 Uhr und am 11. November um 16 Uhr gesendet. 

Prammer: Gegen "Schlussstrich-Philosophie"

Nationalratspräsidentin Barbara Prammer sprach Walter Arlen und vielen anderen, die trotz ihres Schicksals nach Österreich zurückkommen, ihren besonderen Dank aus. Die Begegnung mit den persönlichen Schicksalen Überlebender und Zeitzeugen sei wichtig, vor allem im Hinblick auf Bewusstseinsbildung und Sensibilisierung nachfolgender Generationen. Es gelte aber darüber hinaus, eine neue Erinnerungskultur zu entwickeln, für eine Zeit, in der wir uns nicht mehr auf Zeitzeugen stützen können, betonte Prammer, denn wir haben immer Verantwortung für dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte zu tragen.

Es sei nicht so, dass Österreich nicht beteiligt gewesen ist. Der Antisemitismus und die Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung hätten in Österreich die extremsten Formen angenommen, Antisemitismus habe in Österreich schon lange vor den Nazis stattgefunden, stellte sie fest. Die Nationalratspräsidenten erteilte in diesem Zusammenhang jeden Versuchen, einen Schlussstrich hinter die Auseinandersetzung mit den damaligen Geschehnissen zu ziehen, eine klare Absage. Eine "Schlussstrich-Philosophie" dürfe es nicht geben, konstatierte sie. Es gebe noch immer Menschen, die dieser Ideologie anhaften, die aber im Hinblick auf die strengen innerstaatlichen Gesetze genau wüssten, wie weit sie gehen können.

Relativierung und Verharmlosung seien aber nicht unter Strafe gestellt, und das sei das gefährlichste Instrument, wenn man der Jugend nicht die Möglichkeit gibt, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Deshalb seien ihr auch die Jugendprojekte so wichtig, unterstrich Prammer, es gehe nicht nur um objektive Zahlen, sondern auch um Emotionen und Sensibilisierung und um Mitempfinden.

Mit Walter Arlen verbinde sie seit einem "Gesprächskonzert" im Jüdischen Museum in Wien im März 2008 eine Freundschaft, berichtete die Nationalratspräsidentin über ihre persönlichen Beziehungen zu dem Musiker. Besonders habe sie jedoch die Zusammenarbeit mit Arlen anlässlich der Vorbereitung zum Gedenktag im Parlament geprägt, wo man immer um exzellente Gäste und exzellente Musik bemüht sei. Damals sei es darum gegangen, die Wiedergabe von so genannter "entarteter Musik" mit einem Jugendorchester wiederzugeben. Arlen habe den Jugendlichen von 8 bis 15 Jahren nicht nur neue Perspektiven der Musik eröffnet sondern auch neue Perspektiven der Geschichte, zeigte sich Prammer berührt.

Mailath-Pokorny: Walter Arlen ist ein Teil der vertriebenen Kultur

Auch der Wiener Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny würdigte Walter Arlen als einen, "der das große Herz hat, wieder zu kommen und die Stadt mit großartigen Geschenken zu bereichern".

Nach 1945 wollte es keiner gewesen sein, sagte Mailath-Pokorny, mit dieser Lüge hätten Wien und Österreich viel zu lange gelebt. Erst langsam habe das Land begonnen, sich der Vertriebenen zu besinnen und die konkreten Schrecken zu benennen. Walter Arlen sei ein Teil der "vertriebenen Vernunft, der vertriebenen Kultur, der vertriebenen Geistesgeschichte". Wahrscheinlich wäre Österreich noch viel mehr und auch reicher als es heute ist, wären nicht so viele vertrieben worden.

Schottenberg: Volkstheater muss erinnern und Blick schärfen

Volkstheaterdirektor Michael Schottenberg ging in seiner Begrüßung näher auf das Motte der heutigen Matinee "Musik als Gedächtnis" ein und bekräftigte einmal mehr, dass er Erinnerungsarbeit als eine Verpflichtung des Volkstheaters erachtet. Das Theater sei dazu da, "um zu erinnern und zu verhindern, um zu gedenken und zu bedenken, um den Blick zurückzuwerfen und nach vorn zu richten, um den Blick zu schärfen". Er versuche dem in seinen Spielplänen und in zahlreichen Veranstaltungen Rechnung zu tragen, merkte er an.

Walter Arlen

Walter Arlen wurde 1920 als Walter Aptowitzer in Wien geboren. Seine Großeltern waren die Gründer und Besitzer des Warenhauses Dichter. In der Nacht vom 12. auf den 13. März, unmittelbar nach dem Einmarsch Hitlers, drangen SA-Männer in die Wohnung ein und plünderten sie. Er wurde misshandelt, sein Vater wurde in das Gefängnis Karajangasse gebracht, später in das KZ Dachau, von dort nach Buchenwald. Walter Arlen verließ am 14. März 1938 Wien in Richtung USA. Seine Eltern flohen nach der Entlassung seines Vaters aus Buchenwald mit Arlens Schwester nach England.  

In der neuen Heimat USA begann er unter dem Namen Arlen eine neue Laufbahn als Komponist, Musikwissenschaftler, Musikkritiker und Universitätsprofessor. In Chicago studierte er bei dem renommierten Komponisten Leo Sowerby. 1947 wurde Walter Arlen Assistent des Komponisten Roy Harris, 1952 begann er seine Arbeit als Musikkritiker. 1969 gründete er die Musikabteilung an der Loyola Marymount University in Los Angeles, deren Vorstand er bis 1998 war. Walter Arlen besitzt neben der US-amerikanischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft.

Zu seinen kompositorischen Werken zählen Kammermusik, Lieder, Songs und Stücke für Klavier. (Schluss)

HINWEIS: Fotos von der Matinee finden Sie auf der Website des Parlaments (www.parlament.gv.at) im Fotoalbum.