Parlamentskorrespondenz Nr. 471 vom 06.05.2015

Crowdsourcing: Demokratische Innovation und effektive Beteiligung

Enquete-Kommission zur Demokratiereform beschäftigt sich mit Formen transparenterer und partizipativer Gesetzgebung

Wien (PK) – Am Anfang steht nicht der fertig ausgearbeitete Gesetzesentwurf, sondern der Bürger. Die Crowd, die ihr Wissen, ihre Erfahrung zu einem bestimmten Gesetzesvorhaben auf einer digitalen Diskursplattform teilt, um damit effektivere und transparentere Lösungen für ein gesellschaftspolitisches Problem zu finden. Crowdsourcing, das Nutzen kollektiver Intelligenz, die damit einhergehende Möglichkeit für BürgerInnen, sich am demokratischen Prozess nicht nur bei Wahlen zu beteiligen, diese Art von "demokratischer Innovation", wie sie von einer der ExpertInnen der heute im Parlament stattfindenden Enquete-Kommission zur Stärkung der Demokratie in Österreich bezeichnet wurde, ist einem Pilotprojekt in Finnland zufolge nebenbei auch ein Mittel, um der, wie Tanja Aitamurto von der Stanford University in den USA sagte, "demokratischen Rezession" entgegenzuwirken. Neue Formen der Demokratie würden nämlich auch neue Räume brauchen, wo experimentiert, erprobt, sogar etwas gewagt werden könne.

Ein Ansatz, den auch Hannes Leo und Tamara Ehs, beide Mitbegründer des Demokratie-Projekts #besserentscheiden, teilen. Mit einem Demokratiebüro etwa könnte man beginnen, neue Formen der Bürgerbeteiligung nicht dem Volk überzustülpen, sondern es selbst gestalten zu lassen, sagte Ehs. Nach Leos Meinung sollte Gesetzgebung auch transparenter gemacht werden, etwa durch die Veröffentlichung von Vorhabensberichten und der Offenlegung von Entscheidungsprozessen, außerdem mache es Sinn, wissenschaftliche Expertise im Parlament anzusiedeln.

Wie man Parlamentsarbeit modernisieren kann, zeigte zudem Christoph Bieber vom Institut für Politikwissenschaften der Universität Duisburg-Essen anhand von digitalen Beteiligungsplattformen im Deutschen Bundestag. Zwei Beispiele von Partizipationsmöglichkeiten, die zwar von der Bevölkerung angenommen werden, aber auch mit Problemen hinsichtlich der Schnittstellen kämpfen, wie Bieber meinte. Nicht viele Inputs der BürgerInnen würden es nämlich bis in die Parlamentsdebatten schaffen.

Aitamurto: Crowdsourcing kann demokratischer Rezession entgegenwirken

Crowdsourcing sei nicht als direkte Demokratie zu verstehen, nicht als Entscheidungsinstrument, denn nach wie vor entscheide auch bei diesem Modell das Parlament über Gesetze, erklärte die stellvertretende Direktorin an der Standorf University in den USA Aitamurto das Beteiligungs-Modell am Beispiel Finnlands, das die Gesetzesreform über Offroadfahrzeuge unter Einbeziehung der BürgerInnen in den Gesetzesprozess durchgeführt hat. Vielmehr sei Crowdsourcing ein Mittel zur Erhebung von Wissen, um effektivere Gesetze zu entwickeln und hunderttausenden Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, sich auch wirklich einzubringen. Nicht unterschätzt werden dürfe auch der Austausch von begründeten Argumenten, dieser Diskursprozess führe die Menschen dazu, Perspektiven anderer besser zu verstehen. Übrig bleiben besser informierte Bürgerinnen und Bürger.

Beim Crowdsourcing erweitert sich der Gesetzgebungsprozess um eine Personengruppe, nämlich um die sogenannte Crowd, die BürgerInnen also, die ihr Wissen einbringen und sich austauschen. Erst dann wird ein Gesetzesentwurf geschrieben, die Entscheidung bleibt aber beim Parlament.

In Finnland wurde hierfür eine Website mit Informationen über die Notwendigkeit der Novelle eingerichtet. Auf der Plattform konnte sich so jede Bürgerin und jeder Bürger beteiligen, Vorstellungen und Ideen, aber auch negative Erfahrungen mit der bisherigen Ausgestaltung des Gesetzes auf der Website hinterlassen und sich mit anderen darüber austauschen. Dieser Input wurde dann durch Fachleute evaluiert und das Material dem entsprechenden Ausschuss im Parlament zugeleitet. Hier liegt aber auch eines der Probleme, wie Aitamurto meinte, denn die Weiterverarbeitung im Parlament, die Weitergabe der Impulse bedürften oft interparlamentarischer Unterstützung etwa durch Abgeordnete.

Nichtsdestoweniger sei Crowdsourcing eine "demokratische Innovation", weil sich BürgerInnen auch zwischen den Wahlen am demokratischen Prozess beteiligen könnten, so die Einschätzung Aitamurtos. Auch in Zeiten der "demokratischen Rezession", in der Wahlbeteiligung sinkt, Konflikte in der Gesellschaft zunehmen und das Vertrauen in die Politik abnimmt, könne Crowdsourcing in der Gesetzgebung entgegenwirken. Geht es nach Aitamurto, braucht es in Zukunft mehr solcher  partizipativer Experimente, um diese neuen demokratischen Modelle weiterentwickeln zu können.

Bieber: Inputs der BürgerInnen gelangen oft nicht in parlamentarische Arbeitsprozesse

Christoph Bieber vom Institut für Politikwissenschaften der Universität Duisburg-Essen stellte in der Demokratie-Enquete zwei Beispiele digitaler Modernisierung der Parlamentsarbeit des Deutschen Bundestags vor. Das Portal des Petitionsausschusses, ein, wie Bieber meinte, eher "altes Format der digitalen Bürgerbeteiligung", sowie die Beteiligungsplattform der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft, ein internetaffines und –gestütztes Beratungsorgan, das als Experiment mit einer neuartigen Form digitaler Gesellschaftsberatung zu verstehen ist, geht es nach Bieber.

Die Möglichkeit der öffentlichen Petition sei in Deutschland sehr beliebt, dennoch gelinge nur einem kleinen Teil das Erreichen des Quorums von 50.000 MitunterzeichnerInnen und damit die weitere Behandlung im Ausschuss. Das Problem dabei sei aber nicht die technische Ausführung der E-Petitionen, etwa pseudonyme Nutzungen oder die Identifizierung mit Personalausweis, sondern die Einbettung in parlamentarische Routinen und die Vernetzung mit reichweitenstarken und sozialen Netzwerken, berichtete der Experte.

Außerdem brauche es innerparlamentarische Unterstützung durch Abgeordnete oder eine massive öffentliche Breitenwirkung, um in den parlamentarischen Arbeitsprozess gelangen zu können.

Ähnliche Schnittstellenprobleme habe es auch bei der Beteiligungswebsite für die Enquete-Kommission gegeben, bei der sich BürgerInnen an der Diskussion zentraler netzpolitischer Themen beteiligen und so die Beratungstätigkeit des Gremiums erweitern konnten. So hätten es etwa nicht viele Inputs der BürgerInnen in die Parlamentsdebatten geschafft, hier gelte es in Zukunft auch anzusetzen.

Leo: Entscheidungsprozesse öffnen, bestehendes Wissen von BürgerInnen nutzen

Hannes Leo, Mitbegründer von Community-based Innovation Systems GmbH sowie des österreichischen Demokratie-Projekts #besserentscheiden, erzählte über die Eckpunkte des jüngst von der Initiative veröffentlichten Grünbuchs "Offene Gesetzgebung". An dem Projekt arbeiten zur Zeit rund 100 Personen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, denen es ein Anliegen ist, die Entscheidungsprozesse, die sich im National- und Bundesrat abspielen, transparenter und besser zu machen, wie Leo sagte. "Die Vorschläge sind weder besonders schmerzhaft, noch schwierig umzusetzen", meinte er und forderte Mut zum Experimentieren, um demokratische Innovationen ausprobieren zu können.

Transparent machen, was in der Politik und im Parlament passiert, Vorhabensberichte veröffentlichen, den Fahrplan für gesetzliche Entscheidungen klar kommunizieren, das sind drei der von Leo genannten Vorschläge, die das Demokratie-Projekt bisher ausgearbeitet hat. Geht es nach der Initiative, soll auch der Wissenschaft im Gesetzgebungsprozess eine größere Rolle gegeben werden. Es mache daher Sinn, wissenschaftliche Expertise, einen Wissenschaftsrat im Parlament anzusiedeln, so die konkrete Anregung von Leo. Außerdem sollten Entscheidungsprozesse geöffnet und das Wissen, das in Österreich besteht, via Online-Tools für den Gesetzgebungsprozess genutzt werden.

In Summe gehe es darum, so Leo, Informationen bereitzustellen und insgesamt dazu beizutragen, dass Entscheidungen transparenter werden und mehr Wissen einbeziehen. Bei diesem Prozess müssten aber auch die Medien eine wichtige Rolle spielen, diese würden dafür sorgen, dass der Diskurs in der Bevölkerung überhaupt stattfinden kann, wie Leo meinte.

Ehs: Antwort auf Demokratiekrise kann nur umfassende Demokratisierung sein

Neue Formen der Bürgerbeteiligung sollten nicht dem Volk übergestülpt, sondern selbst und gemeinsam von den BürgerInnen gestaltet werden. Immerhin könne die Antwort auf die Demokratiekrise nur aus einer umfassenden Demokratisierung bestehen, so der Ansatz von Tamara Ehs vom Institut für Rechts- und Sozialgeschichte der Universität Salzburg. Es gehe darum, eine dialogorientierte Demokratie herzustellen, immerhin sollte Gesetzgebung eine Dialogaufgabe zwischen Parlament, Regierung, Verfassungsgerichtshof, Interessensorganisationen und BürgerInnen sein. Ideen und Vorbilder gebe es hierfür genug, brauchen würde es Mut und konkrete Utopien.

Entscheidend sei nicht das Modell, für das man sich entscheidet, sondern, dass man Raum schafft, geht es nach Ehs. "Wir benötigen nicht nur punktuelle Diskussionen über Demokratie und ihre Weiterentwicklung wie das die Enquete hier macht, sondern eine ständige" sagte die Expertin, eine entsprechende Infrastruktur könnte etwa ein Demokratiebüro leisten, wo man neue demokratische Formen erproben kann.

Ein konkreter Vorschlag von Ehs zielte auf eine Neuorientierung des Bundesrats als eine Art politischer Thinktank ab, wo ExpertInnen eingeladen werden und die Länderkammer wie am Beispiel des finnischen Zukunftsausschusses Bürgerkonferenzen in einzelnen Bundesländern organisiert. Der Bundesrat könnte auch mit dem Demokratiebüro zusammenarbeiten, um Raum für alternative Ideen zu schaffen, wo BürgerInnen gemeinsam neue Formen der Demokratie ausarbeiten können, meinte Ehs.

Geleitet wurde die Sitzung vom Zweiten Nationalratspräsidenten Norbert Hofer. Thema bei der Demokratie-Enquete heute war außerdem die legistische und wissenschaftliche Unterstützung von Abgeordneten bei der Gesetzgebung und die Rolle der Verwaltung bei gesteigerter Transparenz und Bürgerbeteiligung.(Fortsetzung Demokratie-Enquete) keg

HINWEIS: Die Anhörungen der Enquete-Kommission sind öffentlich und werden via Live-Stream auf www.parlament.gv.at übertragen. Über den Twitter-Hashtag #EKDemokratie können BürgerInnen ihre Ideen direkt in die Diskussion einbringen. Auch Stellungnahmen per E-Mail zu den einzelnen Diskussionsblöcken sind möglich, senden Sie diese bitte mit dem jeweiligen Betreff an: demokratie@parlament.gv.at. Mehr Informationen finden Sie auf www.parlament.gv.at .

Fotos von der Sitzung der Enquete-Kommission finden Sie im Fotoalbum auf www.parlament.gv.at .