Parlamentskorrespondenz Nr. 907 vom 01.09.2015

Regierungsspitze: keine Stacheldrähte, sondern anständige Quartiere

Bundeskanzler und Vizekanzler fordern europäische Solidarität und verteidigen Durchgriffsrecht des Bundes

Wien (PK) – Einen eindringlichen Appell an die Solidarität der EU-Staaten gegenüber den Kriegsflüchtlingen richteten heute Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner im Rahmen einer gemeinsamen Erklärung zur Asylsituation in der heutigen Sondersitzung des Nationalrats. Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, sollten nicht mit Zäunen abgehalten, sondern mit Menschlichkeit behandelt werden, betonte der Kanzler.

Um auch in Österreich eine gleichmäßigere Verteilung von Flüchtlingen zu gewährleisten, haben die Koalitionsparteien gemeinsam mit den Grünen einen Gesetzesantrag eingebracht, der ein Durchgriffsrecht des Bundes vorsieht. Wenn pro 1.000 EinwohnerInnen 15 Flüchtlinge untergebracht werden, dann sei dies dem Land zumutbar, war der Vizekanzler überzeugt. Auch gegen Schlepperei soll härter vorgegangen werden.

Faymann für eine verpflichtende Quote für Aufteilung der Flüchtlinge in der EU

Ganz Europa stehe angesichts der vielen Kriegsflüchtlinge, die um ihr Leben laufen, vor einer großen Herausforderung, die nur gemeinsam gemeistert werden könne, betonte einleitend Bundeskanzler Werner Faymann. Es sei klar, dass Länder wie Griechenland und Italien dies nicht alleine bewältigen können, weshalb eine faire Verteilung der AsylwerberInnen in der Europäischen Union angestrebt werden müsse. Wenn einzelne Mitgliedsländer von einer solchen Lösung nicht überzeugt werden können, dann sollten entsprechende Konsequenzen überlegt werden, schlug der Kanzler vor. Auch EU-Kommissionspräsident Juncker habe sich deutlich für eine verpflichtende Quote ausgesprochen. Wenn man sich vor Augen hält, dass derzeit 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, dann dürfe sich niemand aus der Verantwortung stehlen, appellierte Faymann.

Österreich habe sich jedenfalls dazu entschieden, Kriegsflüchtlinge nicht mit einem Stacheldraht zu empfangen, sondern mit ordentlichen und menschlichen Quartieren. Es dürfe den Schleppern nicht gelingen, das Projekt Europa zerstören, indem überall Mauern und Wachtürme aufgebaut werden. Diesen kriminellen Personen und Gruppierungen könne nur dann der Boden entzogen werden, wenn die polizeilichen Kontrollen verstärkt, die Strafandrohungen erhöht und legale Einreisemöglichkeiten geschaffen werden, war Faymann überzeugt. Nun werde sich zeigen, ob Europa stark genug ist, oder ob es – wie schon oft in der Vergangenheit – aufgrund von Egoismen und Einzelinteressen in seine Teile zerfällt. Gerade Österreich als Nettozahler habe das Recht eine aktive Rolle zu spielen und zu verlangen, dass alle Länder in der Flüchtlingsfrage und im Asylwesen an einem Strang ziehen. Schließlich bat der Kanzler noch alle Fraktionen um Unterstützung für den Gesetzesantrag, der in Sachen Unterbringung von Flüchtlingen ein Durchgriffsrecht auf Länder und Gemeinden vorsieht, die die Quote nicht erfüllen.

Mitterlehner: 1,5 % Flüchtlinge pro Gemeinde sei den Menschen zumutbar

Vizekanzler Reinhold Mitterlehner plädierte vor allem für einen wertschätzenden Umgang mit der Asylthematik, der in manchen Medien, Kommentaren und diversen Stellungnahmen leider nicht immer gegeben war. Es sei beschämend, wenn man Menschen, die ihr Leben riskieren, um nach Europa zu kommen und dann qualvoll in einem Auto ersticken, Asylbetrug vorwerfe. Es gebe keine Menschen zweiter oder dritter Klasse, unterstrich er, es gelte der erste Punkt der Deklaration der Menschenrechte: "Jeder Mensch ist an Rechten und Würde gleich".

Dies heiße natürlich nicht, dass man die Ängste und Sorgen der ÖsterreicherInnen gering schätze, betonte Mitterlehner. Seiner Meinung nach sei es jedoch zentrale Aufgabe der Politik, Ängste zu nehmen und die konkreten Probleme zu lösen. Mit Besserwisserei, Schuldzuweisungen, Unterstellungen etc. komme man sicherlich nicht weiter. Er habe sogar die Forderung gehört, alle Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten zu schicken, weil sie die Kriege in Afrika und im Nahen Osten verursacht haben. Man mache es sich auch zu einfach, wenn man allein der EU die Schuld für alles gibt, urteilte Mitterlehner, denn "die EU sind wir alle". Er werde sich aber dafür einsetzen, dass es in der Flüchtlingsfrage mehr Dynamik gibt und konkrete Vorschläge umgesetzt werden. Ebenso wie Faymann schlug Mitterlehner die Einrichtung von Sicherheitszonen an den EU-Außengrenzen sowie die Einführung von gemeinsamen Standards im Asylbereich vor.

Was die Kritik an der schlechten Vorbereitung bzw. der zu späten Reaktion auf die Flüchtlingskrise in Österreich angeht, so gab der Vizekanzler zu bedenken, dass die Innenministerin seit einem Jahr auf die Probleme hingewiesen hat. Durch das nun vorgesehene Durchgriffsrecht des Bundes werde die Bereitstellung von Quartieren vereinfacht und beschleunigt werden. Er sei auch überzeugt davon, dass der Richtwert von 1,5 % der Wohnbevölkerung – also 15 Personen pro 1.000 EinwohnerInnen – zumutbar ist. Wer dies anders sehe, beleidige die humanitäre Tradition, denn die ÖsterreicherInnen haben schon viel mehr Probleme gemeinsam gelöst. Einen positiven Beitrag werde auch der Flüchtlingskoordinator leisten, sagte Mitterlehner, weil auch damit der Zivilgesellschaft signalisiert werde, dass die Politik die Probleme angehe und effizient und gemeinsam lösen wolle.

Flüchtlingsquartiere: Gemeinsamer Antrag von SPÖ, ÖVP und Grünen

Offiziell eingebracht wurde heute auch der gemeinsame Gesetzesantrag der Koalitionsparteien und der Grünen zur gleichmäßigen Unterbringung von Flüchtlingen im Bundesgebiet (1295/A). Mit einem eigenen Bundesverfassungsgesetz über die Unterbringung und Aufteilung von hilfs- und schutzbedürftigen Flüchtlingen soll sichergestellt werden, dass der Bund von sich aus auf eigenen bzw. ihm zur Verfügung stehenden Grundstücken Quartiere für schutzbedürftige Fremde bereitstellen kann, wenn Länder und Gemeinden ihrer Unterbringungsverpflichtung nicht nachkommen.

Voraussetzung für die Bereitstellung von Ersatzquartieren durch den Bund ist, dass das betreffende Bundesland seine Flüchtlingsquote nicht erfüllt und in einem Bezirk weniger AsylwerberInnen untergebracht sind als es dem im Gesetz verankerten Richtwert – 1,5% der Wohnbevölkerung – entspricht. In Frage kommen sowohl die Adaptierung bestehender Gebäude als auch die Errichtung von Wohncontainern. Gleichzeitig ist die Zahl der Flüchtlinge, die auf einem Grundstück untergebracht werden dürfen, mit 450 begrenzt. Vorrangig zu nutzen sind Grundstücke in Gemeinden, die keine oder nur wenige Flüchtlinge beherbergen, wobei größere Gemeinden ab 2.000 EinwohnerInnen zu bevorzugen sind.

Die Ersatzquartiere müssen bestimmten Kriterien Genüge tun, etwa was Hygiene, Brandschutz und Umweltverträglichkeit betrifft, den Bau- und Raumordnungsvorschriften der Länder muss grundsätzlich aber nicht Rechnung getragen werden. Die Entscheidung über die Nutzung eines Grundstücks trifft das Innenministerium, eine gesonderte Bewilligung ist nicht erforderlich. Die Bezirksverwaltungsbehörde hat aber die Einhaltung der geforderten Hygiene-, Brandschutz- und anderen Standards zu prüfen und kann Auflagen erteilen. Beschwerden beim Bundesverwaltungsgericht haben grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Vereinbart ist im Gesetz auch, den Kostenersatz für die Unterbringung und Verpflegung von Flüchtlingen ab 1. Oktober zumindest auf 20,50 € und ab 1. Jänner 2016 auf 21 € zu erhöhen.

Begründet wird die Gesetzesinitiative mit dem starken Anstieg von AsylwerberInnen seit Ende vergangenen Jahres. Die Bestimmungen sollen mit 1. Oktober in Kraft treten und sind vorerst bis Ende 2018 befristet. Vorberaten werden soll der Gesetzesantrag im Verfassungsausschuss, für 16. September ist ein Hearing in Aussicht genommen.

Härtere Strafen gegen Schlepper – Initiativantrag der Koalition

Gleichzeitig legten SPÖ und ÖVP einen Initiativantrag zum Fremdenpolizeigesetz vor, der ein strengeres Vorgehen gegen Schlepper vorsieht. So soll das Strafausmaß von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bereits dann gelten, wenn mindestens drei Personen geschleppt werden. Das derzeitige Kriterium des § 114 Abs. 3 einer "größeren Anzahl von Fremden", das nach der Judikatur ab ca. 10 Personen angenommen wird, ist zu hoch gegriffen, wie die Begründung des Antrags vermerkt. Voraussetzung bleibt weiterhin, dass die Tat gewerbsmäßig (§ 70 Strafgesetzbuch) und auf eine Art und Weise erfolgt, durch die der Fremde, insbesondere während der Beförderung, längere Zeit hindurch in einen qualvollen Zustand versetzt wird. (Fortsetzung Nationalrat) sue/gs/jan