Parlamentskorrespondenz Nr. 36 vom 16.01.2020

Sozialausschuss diskutiert über Sozialhilfe und abschlagsfreie Frühpension

SPÖ-Antrag zur verfassungsrechtlichen Absicherung des Pensionssystems wird einer Begutachtung unterzogen

Wien (PK) – Die Sozialhilfe und die umstrittene abschlagsfreie Frühpension bei 45 Arbeitsjahren standen im Mittelpunkt des zweiten Teils der heutigen Sitzung des Sozialausschusses des Nationalrats. Zu beiden Materien lagen dem Ausschuss mehrere Oppositionsanträge – mit zum Teil konträrer Stoßrichtung – vor. Konkrete Beschlüsse zu diesen beiden Materien fassten die Abgeordneten nicht, auf Initiative von Grünen und ÖVP ersucht der Sozialausschuss die Regierung aber in Form einer Entschließung, ehestmöglich geeignete Maßnahmen zu setzen, um das im Koalitionspakt vereinbarte Ziel einer Halbierung des Anteils armutsgefährdeter Menschen in Österreich zu erreichen.

Darüber hinaus beschloss der Ausschuss, ein von der SPÖ beantragtes "Bundesverfassungsgesetz über die Prinzipien der gesetzlichen Pensionsversicherung" einer Begutachtung zu unterziehen. Es zielt darauf ab, die solidarische Pflichtversicherung, die Finanzierung nach dem Umlageverfahren und die Ausfallsgarantie des Staates verfassungsrechtlich abzusichern. Neben den zuständigen Ministerien, den Ländern und den gesetzlichen Interessenvertretungen werden unter anderem der Rechnungshof, die Alterssicherungskommission, der Dachverband der Sozialversicherungsträger, die Pensionsversicherungsanstalt und auf Arbeits- und Sozialrecht bzw. Staats- und Verfassungsrecht spezialisierte Universitätsinstitute um Stellungnahmen binnen fünf Monaten gebeten.

Sozialminister Rudolf Anschober meldete sich nur noch kurz zu Wort. Er hatte seine Position und seine Vorhaben bereits zuvor im Rahmen einer Aktuellen Aussprache mit den Abgeordneten skizziert (siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 34/2020).

Sozialhilfe: SPÖ fordert Mindestrichtsätze, FPÖ pocht auf Ausführungsgesetze der Länder

Zum Thema Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung standen je ein Entschließungsantrag der SPÖ und der FPÖ auf der Tagesordnung. Während es der SPÖ unter anderem um eine armutsvermeidende Leistungshöhe, die Festlegung von Mindestrichtsätzen statt Höchstrichtsätzen und diskriminierungsfreie Kinderzuschläge geht (139/A(E)), pocht die FPÖ auf am Sozialhilfe-Grundsatzgesetz des Bundes orientierte Ausführungsgesetze der Länder (173/A(E)). Schließlich seien etliche Punkte des unter Türkis-Blau beschlossenen Grundsatzgesetzes vom Verfassungsgerichtshof nicht beanstandet worden bzw. gar nicht angefochten worden.

Konkret nennt die FPÖ unter anderem die niedrigeren Leistungen für subsidiär Schutzberechtigte in Höhe der Grundversorgung, den Ausschluss jeglicher Leistung für Ausreisepflichtige bzw. bloß geduldete Fremde, die Pflicht zur Absolvierung einer Integrationsprüfung mit Deutschniveau B1, den grundsätzlichen Vorrang von Sachleistungen vor Geldleistungen, die verpflichtende 12-monatige Befristung von Bescheiden und die beschlossenen Höchstgrenzen für Erwachsene, die ihrer Meinung nach von den Ländern verpflichtend umzusetzen wären. Gleiches gilt für die verpflichtende Einführung eines wirksamen Kontroll- und Sanktionssystems und das Verbot, Sperren des Arbeitslosengeldes durch höhere Sozialhilfeleistungen auszugleichen. Hinsichtlich der vom Verfassungsgerichtshof aufgehobenen Gesetzesteile – etwa die degressive Staffelung der Kinderzuschläge und den Arbeitsqualifizierungsbonus – mahnt die FPÖ von Sozialminister Anschober die Erarbeitung verfassungskonformer Regelungen ein.

Im Ausschuss bekräftigt wurde die Forderung der FPÖ nach Ausführungsgesetzen der Länder durch Dagmar Belakowitsch. Die Länder hätten sich an die gültigen Teile des Grundsatzgesetzes zu halten, alles andere sei ein Gesetzesbruch, sagte sie, wobei sie insbesondere das Bundesland Wien für säumig hält. Dass ÖVP und Grüne den Antrag schließlich ablehnten, qualifizierte Belakowitsch als "Geschenk für die Wienwahl" und erinnerte in diesem Zusammenhang an Aussagen des Finanzministers und Wiener ÖVP-Chefs Gernot Blümel.

Seitens der SPÖ unterstrich Alois Stöger, dass Menschen von der Mindestsicherung auch leben können müssten. In diesem Sinn braucht es seiner Meinung nach keine Höchstgrenze für die Sozialhilfe, sondern eine Untergrenze. Dass die Länder verpflichtet sind, das teilweise vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Sozialhilfe-Grundsatzgesetz umzusetzen, sieht Stöger nicht so, seiner Meinung nach braucht es ein Ausführungsgesetz des Bundes.

ÖVP-Sozialsprecher Michael Hammer machte darauf aufmerksam, dass im Regierungsprogramm nicht vorgesehen sei, ein neues Sozialhilfe-Grundsatzgesetz zu beschließen. Für ihn ist aber klar, dass die vom Verfassungsgerichtshof nicht aufgehobenen Teile von den Ländern umzusetzen sind. Dafür brauche es aber keine explizite Entschließung, begründete er die Ablehnung des FPÖ-Antrags. Die Länder wüssten auch so, was zu tun sei.

Auf die Ankündigung von Sozialminister Anschober, sich das Grundsatzgesetz vor dem Hintergrund des Vfgh-Urteils nochmals anzuschauen, verwies Grünen-Sozialsprecher Markus Koza. Für ihn ist der vorliegende SPÖ-Antrag "durchaus nachvollziehbar", durch das Vfgh-Erkenntnis sei dieser aber teilweise überholt und außerdem nicht mehrheitsfähig. Neben ÖVP und Grünen lehnten auch die NEOS beide Anträge ab: Gerald Loacker vermisst eine Zusammenführung von Notstandshilfe und Sozialhilfe und flexible Zuverdienstgrenzen. 

Es gehe nicht um Wahlkampf, sondern um die Betroffenen, merkte Sozialminister Rudolf Anschober an. Er hofft auf eine "vernünftige gemeinsame Vorgangsweise".

Genutzt wurde die Debatte um die Mindestsicherung von ÖVP und Grünen dazu, einen Entschließungsantrag zum Thema Armutsbekämpfung zu beschließen. Die Initiative zielt auf eine ehestmögliche Umsetzung von Maßnahmen zur Halbierung des Anteils armutsgefährdeter Menschen in Österreich ab, fand bei den anderen Fraktionen allerdings wenig Anklang. Der Antrag sei nichtssagend und sinnlos, waren sich SPÖ und FPÖ weitgehend einig. NEOS-Abgeordneter Loacker gab zu bedenken, dass die Zahl der armutsgefährdeten Menschen auch dann sinke, wenn Gutverdienende weniger verdienen, insofern hält er den Antrag für "eigentümlich". Sozialminister Anschober sieht die Initiative hingegen als Rückenstärkung.

Kontroversielle Debatte über "Hacklerregelung neu"

Anders als bei der Mindestsicherung sind sich SPÖ und FPÖ bei der sogenannten "Hacklerregelung neu" einig. Geht es nach ihnen, sollen nicht nur Versicherte nach dem ASVG, BSVG und GSVG im Falle von 45 Arbeitsjahren ohne Abschläge in Pension gehen können, sondern auch BeamtInnen (194/A(E)). Außerdem fordern sie – neben der bereits geltenden Anrechnung von bis zu 60 Versicherungsmonaten der Kindererziehung – eine Berücksichtigung von Zeiten des Präsenz- und Zivildienstes. Für Beschäftigte, die zwischen 2014 und 2020 trotz vorliegender 540 Beitragsmonate mit Abschlägen von bis zu 12,6% in den Ruhestand getreten sind, soll die Pension ab 2020 neu berechnet werden.

Strikt abgelehnt wird das allerdings von den NEOS. Sie wollen den kurz vor den Wahlen gefassten Nationalratsbeschluss zur abschlagsfreien Frühpension und weitere pensionsrechtliche Verbesserungen wie den Entfall der einjährigen Wartefrist auf die erste Pensionserhöhung und die abschlagsfreie Auszahlung des Sonderruhegelds für NachtschwerarbeiterInnen vielmehr wieder rückgängig machen (187/A, 180/A(E)). Gerald Loacker warnt mit Hinweis auf Expertenkritik vor Zusatzkosten in Milliardenhöhe und sieht die Finanzierbarkeit des Pensionssystems gefährdet. Zudem sei die abschlagsfreie Alterspension mit 62 vorerst "ein reines Männerprogramm" und laufe dem Ziel entgegen, das tatsächliche Pensionsalter an das gesetzliche heranzuführen, macht er geltend.

Die verschiedenen Zugänge zum Thema zeigten sich auch in der Ausschussdebatte, wobei ÖVP und NEOS eine ähnliche Position vertraten. Ihm fehle bei der abschlagsfreien Frühpension die Logik, sagte etwa Klaus Fürlinger (ÖVP). Man solle sich nicht bemühen, die Menschen so früh wie möglich "aus der Arbeit wegzukriegen", sondern sie möglichst lange dort halten. Fürlinger verwies außerdem auf die hohen Kosten: Ihm zufolge haben Menschen, die mit 45 Arbeitsjahren in Pension gehen und durchschnittlich 2.400 € Pension erhalten, in ihrem Arbeitsleben 270.000 € in das Pensionssystem eingezahlt, würden bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung aber 550.000 € erhalten.

Noch zugespitzter argumentierte NEOS-Abgeordneter Gerald Loacker. "Dieser Unfug gehört weg", pochte er auf eine Rückkehr zur alten Gesetzeslage. Er glaubt auch nicht, dass ArbeiterInnen etwas von "diesem Wahlgeschenk" haben, vielmehr seien Beschäftigte in typischen Bürojobs, die nie Krankengeld bezogen hätten und nie arbeitslos waren, betroffen. Nicht der Arbeiter an der Maschine profitiere, sondern der Gewerkschaftssekretär oder der Bankbeamte. Loacker gab überdies zu bedenken, dass die Maßnahme den "Pensionsgap" zwischen Frauen und Männern weiter erhöhen werde. Zudem habe man beim Beschluss die Generation, die das zahlen müsse, außer Acht gelassen.

Heftigen Widerspruch lösten die Ausführungen von Fürlinger und Loacker bei SPÖ und FPÖ aus. Er hoffe, dass die durch einen "flapsigen Sager" von Bundeskanzler Kurz ausgelöste Debatte wieder eingefangen werden könne, sagte etwa Peter Wurm (FPÖ). Er könne sich nicht vorstellen, dass die ÖVP "Leistungsträger" bestrafen wolle, das wäre "ein furchtbares Signal". Hohe Kosten durch die abschlagsfreie Frühpension erwartet Wurm nicht, schließlich würden sehr wenige Beschäftigte auf 45 Arbeitsjahre kommen, wie sich schon jetzt zeige.

Jemand, "der 45 Arbeitsjahre am Buckel hat", habe das Recht, abschlagsfrei in Pension zu gehen, hat auch FPÖ-Abgeordnete Dagmar Belakowitsch kein Verständnis für die von ÖVP und NEOS geäußerte Kritik. Es gehe um Gerechtigkeit. Das faktische Pensionsantrittsalter zu erhöhen, sei wichtig, räumte sie ein, aber nicht auf dem Rücken jener, die 45 Versicherungsjahre aus Erwerbsarbeit haben. 

Das sehen auch SPÖ-Sozialsprecher Josef Muchitsch und sein Fraktionskollege Dietmar Keck so. Es seien sehr wohl schwer arbeitende Menschen, die von dieser Maßnahme profitieren, sagte Keck. Muchitsch sieht außerdem nicht ein, warum etwa AkademikerInnen mit 35 Arbeitsjahren abschlagsfrei in Pension gehen können, wenn sie das Pensionsalter erreichen, während Beschäftigte mit 45 Arbeitsjahren Abschläge hinnehmen sollten. Wenig anfangen kann Muchitsch auch mit dem Begriff "Hacklerpension": Schließlich gelte die Regelung nicht nur für ArbeiterInnen und Angestellte, sondern auch für Bauern und Selbstständige.

Auf einen sensiblen Umgang mit der Frage drängte Grünen-Sozialsprecher Koza. Im Sinne des Vertrauensschutzes könne man die seit 1. Jänner geltende Regelung nicht einfach abschaffen, mahnte er. Zudem zeigte er Verständnis für die Argumentation von SPÖ-Sozialsprecher Muchitsch. Man müsse sich einmal genauer anschauen, wer von der Maßnahme profitiere und wer nicht. Es sei aber auch so, dass Frauen, deren Pension besonders niedrig sei, nichts von der abschlagsfreien Pension hätten. Laut Koza braucht es ein breites Paket: Man müsse nachjustieren, um ein gutes und gerechtes Pensionssystem zu schaffen.

Sowohl der FPÖ-Antrag als auch die beiden NEOS-Anträge wurden schließlich ebenso vertagt wie ein Antrag der SPÖ, der auf "faire Pensionen für Frauen" (201/A(E) ) abzielt. Mit einer verbesserten Anrechnung von Kindererziehungszeiten für die Pension und einem 50€-Bonus für bereits im Ruhestand befindliche Personen mit Kindererziehungszeiten wollen SPÖ-Sozialsprecher Muchitsch und seine FraktionskollegInnen die enorme Kluft zwischen Frauen- und Männerpensionen verringern.

SPÖ für verfassungsrechtliche Absicherung des Pensionssystems

Im Pensionsblock mitverhandelt wurden darüber hinaus ein Antrag der SPÖ, der auf die verfassungsrechtliche Absicherung des österreichische Pensionssystems (140/A ) abzielt. Die solidarische Pflichtversicherung, die Finanzierung nach dem Umlageverfahren und die Ausfallsgarantie des Staates sollen demnach in einem eigenen "Bundesverfassungsgesetz über die Prinzipien der gesetzlichen Pensionsversicherung" festgeschrieben werden.

Der Beschluss, den Verfassungsantrag zum Pensionssystem einer fünfmonatigen Begutachtung zu unterziehen, fiel mit den Stimmen von ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grünen. Der Antrag sei spannend und diskussionswürdig, sagte Grünen-Sozialsprecher Koza und erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass im Regierungsprogramm die Erarbeitung eines Grundrechts- und Staatszielkatalogs vereinbart wurde. Hier könnte auch die gesetzliche Pensionsversicherung einen Platz haben, meinte er. (Fortsetzung Sozialausschuss) gs