Parlamentskorrespondenz Nr. 1395 vom 01.12.2022

Zadić: Reformstillstand im Maßnahmenvollzug nach 50 Jahren beenden

Justizausschuss stimmt neuen Einweisungsbestimmungen für den Maßnahmenvollzug zu

Wien (PK) – Die Reform des Maßnahmenvollzugs nimmt an Fahrt auf. Im Justizausschuss des Nationalrats stimmten heute ÖVP und Grüne einer Regierungsvorlage zu, die mit straf(prozess)rechtlichen Änderungen auf eine menschenrechtskonforme Modernisierung der Unterbringung von psychisch kranken Rechtsbrecher:innen abzielt. "Nach 50 Jahren Stillstand wird der Maßnahmenvollzug ins 21. Jahrhundert geholt", so Justizministerin Alma Zadić, "wir machen ihn gerechter, menschenrechtskonform und treffsicherer". So soll eine Einweisung in den Maßnahmenvollzug künftig erst bei Taten erfolgen, deren Strafdrohung drei Jahre – und nicht wie bislang ein Jahr - beträgt, sofern es sich dabei nicht um eine schwere Körperverletzung oder Sexualdelikte handelt. Jugendliche sollen erst nach einem Kapitalverbrechen – ab zehn Jahren Strafdrohung – in den Maßnahmenvollzug kommen, wobei der Gesetzesvorschlag auf die Beiziehung von jugendpsychiatrischen Sachverständigen bei der Diagnostik abstellt. Überprüft werden die Maßnahmen laut Novellenentwurf künftig jährlich. Für verurteilte Terrorist:innen sind Neuerungen vorgesehen, die an die Bestimmungen für gefährliche Rückfallstäter:innen angelehnt sind.

SPÖ und NEOS begrüßten zwar Einzelaspekte der Regierungsvorlage, etwa Verbesserungen für jugendliche Rechtsbrecher:innen sowie die grundsätzliche Anhebung des Strafrahmens. Deutlich kritisierten die beiden Oppositionsparteien allerdings, im Entwurf fehlten wichtige Eckpunkte zur Verbesserung von Einweisung und Vollzug wie die Sicherstellung ausreichender Gutachter:innen, der Ausbau forensisch-therapeutischer Zentren und die Behebung des Mangels an Therapieangeboten für Angehaltene. Die FPÖ schloss sich diesen Kritikpunkten an, befürchtet aber anders als die übrigen Fraktionen, dass die Bedrohung für die Gesellschaft durch Gefährder:innen, die nach den geplanten Bestimmungen nicht mehr in den Maßnahmenvollzug kommen, steigt.

Justizministerin Zadić erklärte, mit den neuen Bestimmungen würde die Grundlage für weitere Teile der Reform gelegt, die bessere Rahmenbedingungen für Betreuung, Behandlung und letztlich auch Entlassung der Angehaltenen umfassen. Mit der nun gestarteten Reform sorge man für eine menschenrechtskonforme sichere Unterbringung von gefährlichen Personen, die wegen mangelnder Schuldfähigkeit nicht verurteilt werden können.

Im Rahmen der Ausschusssitzung beschlossen die Abgeordneten zudem mehrheitlich die Verlängerung der Corona-Bestimmungen für den Justizbereich bis Ende Juni 2023. Einstimmig sprach sich der Ausschuss für die verstärkte Zusammenarbeit mit Bolivien und Jamaika beim Kampf gegen Kindesentführungen aus. Mehrere Oppositionsanträge auf diverse Strafrechtsänderungen bzw. auf Ressourcenaufstockung in der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) wurden von den Koalitionsparteien vertagt.

Maßnahmenvollzug: Zadić hebt Dringlichkeit der Reform hervor

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe Österreich bereits zweimal wegen der Situation im heimischen Maßnahmenvollzug verurteilt, machte Zadić die Dringlichkeit der Reform geltend. Angesichts des laufenden Anstiegs an Einweisungen von Personen in freiheitsentziehende, vorbeugende Maßnahmenunterbringungen, häufig wegen minderschwerer Delikte, müsse die Politik den Defiziten im Maßnahmenvollzug nun beikommen, gab sie den kritischen Anmerkungen der Opposition in vieler Hinsicht recht. Sie verwies aber auf die weiteren Reformschritte, die derzeit in Ausarbeitung seien. Wie Johanna Jachs (ÖVP) machte Zadić zudem darauf aufmerksam, dass gemäß Gesetzesvorlage sachverständige Psychiater:innen während der gesamten Hauptverhandlung zugegen sein müssen. Jugendliche Rechtsbrecher:innen würden künftig nicht mehr in einen potentiell lebenslänglichen Maßnahmenvollzug kommen, wenn sie etwa während eines "psychotischen Schubs" eine Drohung äußern, veranschaulichte die Justizministerin die gesteigerte Treffsicherheit. Die menschenrechtliche Dimension des Maßnahmenvollzugs warf Agnes Sirkka Prammer (Grüne) auf, indem sie dafür eintrat, "Menschen nicht einfach wegzusperren, sondern ihnen trotz Erkrankung ein Leben zu ermöglichen". Der Staat habe dabei die Verpflichtung, die Gefährdung der Gesellschaft zu verhindern bzw. das Gefährdungspotential der Angehaltenen durch Behandlung zu verringern.

Aus Sicht von Johannes Margreiter (NEOS) ändert der Regierungsentwurf hingegen nichts an der Grundproblematik. Von derzeit mehr als 1.400 im Maßnahmenvollzug angehaltenen Personen seien rund zwei Drittel ungerechtfertigt dort, häufig aufgrund unzulänglicher Gutachten. "Hier liegt vieles im Argen", sagte er, bildeten doch die psychiatrischen Gutachten die Basis für die Gerichte, eine Einweisung zu verhängen. Margreiter plädierte deswegen für "Mindeststandards der Befundaufnahme" und die Möglichkeit für Betroffene, eine Zweitbegutachtung einzufordern. Selma Yildirim (SPÖ) befand, die Regierungsvorlage enthalte zu viele Ermessensspielräume, speziell für Einzelfallprüfungen hinsichtlich einer Prognosetat. An der aktuellen Problemlage ändere sich mit dem Entwurf nichts, wies sie auf das Fehlen entsprechend ausgestatteter forensisch-therapeutischer Zentren hin. Da hier der Gesundheitsbereich berührt werde, müsse die Ministerin endlich Gespräche mit den Bundesländern zur Unterbringung psychisch kranker Rechtsbrecher:innen in speziell gesicherten Krankenanstalten aufnehmen, so Harald Troch (SPÖ).

Für die FPÖ-Abgeordneten Harald Stefan und Christian Lausch setzt die Regierung mit ihrem Reformvorhaben die Sicherheit der Bevölkerung aufs Spiel. Konkret nannte Stefan die Bestimmung, wonach Jugendliche im Maßnahmenvollzug nach spätestens 15 Jahren freikommen sollten, ungeachtet ihres Gefährdungspotentials. Zudem fehle es an Einrichtungen für eine sichere Anhaltung psychisch kranker Rechtsbrecher:innen, zeigte Stefan auf, Psychiatrien seien kaum darauf vorbereitet. Lausch mahnte "Respekt vor den Opfern" ein, immerhin handle es sich bei Insass:innen im Maßnahmenvollzug um gewalttätige Personen, die schon jetzt unter regelmäßiger Beurteilung ihrer Gefährlichkeit angehalten würden. Ungeachtet dessen forderte der Freiheitliche eine bessere budgetäre Bedeckung des Maßnahmenvollzugs, um Therapien und Betreuung sicherzustellen.

Der Entwurf zum "Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022" (1789 d.B.) sieht als erste Reformschritte die eingangs skizzierten Änderungen im Strafgesetzbuch (StGB), der Strafprozessordnung (StPO) und im Jugendgerichtsgesetz (JGG) vor. Neben der menschenrechtlichen wird eine "ressourcenbewusste" Modernisierung des Maßnahmenrechts angestrebt, geht aus den Erklärungen zum Entwurf hervor. So werden im Rahmen der Möglichkeiten zur moderaten Entlastung des Strafbereichs zivilrechtliche Unterbringungen in Psychiatrien für weniger gefährliche psychisch kranke Rechtsbrecher:innen angedacht. Außerdem sollen die gesetzlichen Begrifflichkeiten neutraler werden, etwa durch die Formulierung "schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung" anstatt von "geistige oder seelische Abartigkeit von höherem Grad". 

An der angestrebten Regelung für verurteilte Terrorist:innen, die künftig unter bestimmten Voraussetzungen in Unterbringungen für gefährliche Rückfallstäter:innen kommen sollen, stieß sich Nikolaus Scherak (NEOS). Er wertete die Bestimmung als "Anlassgesetzgebung" mit Referenz auf den Terroranschlag in Wien 2021, ohne dass sie tatsächlich derartige Taten verhindern könnte. Dem widersprachen Justizministerin Zadić und Georg Bürstmayr (Grüne) vehement. Die Einweisungsvoraussetzungen in diesem Bereich seien klar geregelt und würden auch einer menschenrechtlichen Überprüfung standhalten, indem eine derartige Einweisung zeitgleich mit der Verurteilung ausgesprochen werde, wie Zadić unterstrich.

Verlängerung Corona-Maßnahmen

Verlängert bis 30. Juni 2023 werden sollen Bestimmungen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie wie das Abhalten von Gerichtsverhandlungen über Videokonferenzen. Das sieht ein Gesetzesantrag (2982/A) von ÖVP und Grünen vor, dem im Ausschuss neben den Koalitionsparteien auch die SPÖ zustimmte. Die Gebührenfreiheit der Unterhaltsvorschussgewährung wird es laut Vorlage im kommenden halben Jahr ebenfalls geben. FPÖ und NEOS warnten in der Debatte vor pauschalen Verlängerungen von in einer Notsituation entstandenen Bestimmungen auf Kosten rechtsstaatlicher Standards. Die Justizsprecher Stefan (FPÖ) und Margreiter (NEOS) hatten dabei speziell das Gesellschaftsrecht im Blick.

SPÖ-Vorstoß zur Korruptionsbekämpfung und für Unterhaltsgarantie

Zur Stärkung der Korruptionsbekämpfung benötige die WKStA mehr Personal und Budget, verdeutlichte SPÖ-Justizsprecherin Yildirim (2385/A(E)). Nur so könne die Staatsanwaltschaft trotz Aufgabensteigerung ein effizientes Arbeiten in komplexen Verfahren gewährleisten.

Im Sinne des Kampfs gegen Kinderarmut plädierte Yildirim für die Umsetzung einer Unterhaltsgarantie für Kinder von Alleinerziehenden. Bis dahin sei der staatliche Unterhaltsvorschuss auf Basis des Durchschnittseinkommens in Österreich zu berechnen (2570/A(E)). Die ÖVP erklärte die Vertagung der beiden Anliegen mit der jüngsten Mittelaufstockung zur Korruptionsbekämpfung im Bundesvoranschlag 2023 und mit den bestehenden Transferleistungen, die Alleinerzieher:innen unabhängig von Unterhaltszahlungen erhielten. Elisabeth Pfurtscheller (ÖVP) hielt fest, Unterhaltspflichtige müssten ihrer Verantwortung gerecht werden, der Staat müsse "weiterhin bei ihnen regressieren können".

FPÖ fordert Abschiebung straffälliger Migrant:innen und Strafe bei Rettungs-Behinderung

Zwei Initiativanträge auf Änderungen im Strafgesetzbuch (StGB) vertagten ÖVP und Grüne ebenfalls, wobei Bürstmayr (Grüne) zu ersterem Antrag meinte, dessen Forderung sei weltanschaulich nicht neutral, stelle sie doch auf den Aufenthaltsstatus eines Täters oder einer Täterin ab. Bei Straftaten von Migrant:innen fordert die FPÖ nämlich im StGB einen Straferschwerungsgrund ein, der auch Abschiebungen rechtlich zulässig macht (2329/A). Immerhin würden diese Täter:innen den ihnen in Österreich gewährten Schutz missbrauchen, so FPÖ-Justizsprecher Stefan, der darin ein "besonders verwerfliches" Vorgehen sieht.

Eine Behinderung von Hilfeleistungen bei einem Unfall unter Strafe zu stellen, wie Stefan überdies einmahnt (2939/A), solle auf rechtliche Möglichkeiten noch weiter ausgelotet werden, erklärte Jachs (ÖVP) die Vertagung. Der FPÖ-Antrag bezieht sich nicht nur auf "Schaulustige", die Rettungskräften den Weg versperren, sondern auch auf "Umweltaktivisten", die sich auf der Straße festkleben.

NEOS wollen Kostenersatz für Freigesprochene und längere Schadenersatzansprüche für Missbrauchsopfer

Ebenfalls noch näher erörtern wollen die Koalitionsparteien die NEOS-Anträge der heutigen Sitzung, wobei der Vorstoß zur Minderung des Kostenrisikos für Angeklagte in Strafverfahren auf positive Resonanz bei den übrigen Fraktionen führte. Grünen-Justizsprecherin Prammer deutete an, ein gesetzlicher Lösungsvorschlag sei in greifbarer Nähe. Mit einer Änderung der Strafprozessordnung wollen die NEOS den Kostenersatz bei Freisprüchen in Strafverfahren erhöht sehen. Gemäß den Honorarkriterien für Rechtsanwält:innen seien den Angeklagten die Aufwendungen für ihre Verteidigung angemessen zu ersetzen (2454/A(E)), verweist Antragsteller Magreiter auf die hohen Verteidigerkosten im Tierschützer:innenprozess, die "existenzbedrohend" für die Freigesprochenen sein könnten.

Eine 60-jährige Frist für Schadenersatzansprüche fordert Magreiter für Opfer von psychischer, physischer oder sexualisierter Gewalt in Jugendheimen und Pflegefamilien (2612/A(E)). Er bezeichnete es in der Debatte als "unhaltbaren Zustand", dass lebenslang durch Gewalt in öffentlichen Einrichtungen geschädigte Personen ihre Ansprüche nicht mehr geltend machen könnten, wenn ihnen die Übergriffe erst nach Ablauf der geltenden Verjährungsfrist bewusst würden. Auch hier wies Prammer auf intensive Arbeiten des Justizressorts hin und fügte an, prinzipiell sollten betroffene Rechtsträger einen Verjährungsverzicht abgeben, um Opfern auch zu einem späteren Zeitpunkt Entschädigung und Unterstützung zukommen zu lassen.

Internationale Zusammenarbeit gegen Kindesentführung

Alle Fraktionen stimmten für eine Erklärung der Republik Österreich zur Annahme der Beitritte Boliviens und Jamaikas zum Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (1758 d.B.). Das multinationale Abkommen hat eine Erleichterung der Zusammenarbeit in Fällen internationaler Kindesentführungen zum Ziel. (Schluss Justizausschuss) rei