Parlamentskorrespondenz Nr. 1446 vom 12.12.2022

Schengen-Veto, Migrationspolitik und Ukraine-Krieg bestimmen EU-Hauptausschuss

Abgeordnete debattieren mit Bundeskanzler Nehammer und Verfassungsministerin Edtstadler

Wien (PK) – Das Veto Österreichs zum Schengen-Beitritt von Bulgarien und Rumänien, der Krieg in der Ukraine sowie die Asyl- und Migrationspolitik standen heute im Zentrum des EU-Hauptausschusses mit Bundeskanzler Karl Nehammer und Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. Im Vorfeld der Zusammenkunft des Europäischen Rates am 15. und 16. Dezember debattierten die Abgeordneten mit den Regierungsvertreter:innen über die österreichischen Positionen zu aktuellen Fragen.

Im Zuge der Debatte brachten die drei Oppositionsparteien Anträge ein, die jeweils lediglich die Stimmen der antragstellenden Fraktionen erhielten und somit abgelehnt wurden. Die SPÖ wollte die Bundesregierung auffordern, sich für das Funktionieren des europäischen Asylsystems sowie des Schengen-Raums einzusetzen, sodass in weiterer Folge ein Schengen-Beitritt von Bulgarien und Rumänien erfolgen könne. Die NEOS sprachen sich für die unmittelbare Aufgabe der Veto-Haltung Österreichs aus. Gegen die Makrofinanzhilfe der EU für die "Kriegspartei Ukraine" und für die "Wiederherstellung einer dem Neutralitätsgebot entsprechenden Außenpolitik" setzten sich die Freiheitlichen ein. Weiters beantragten sie ein Maßnahmenpaket gegen die "illegale Massenmigration", das unter anderem die Legalisierung von sogenannten Pushbacks und die Abschlüsse weiterer Rücknahmeabkommen beinhaltet.

Nehammer und Edtstadler über die österreichische Position zu den Plänen des Europäischen Rates

Eingangs ging Bundeskanzler Nehammmer auf die Themen der bevorstehenden Europäischen Ratssitzung ein und erläuterte die österreichischen Standpunkte in ausgewählten Bereichen. So trage Österreich auch das neunte Sanktionspaket gegen Russland vollinhaltlich mit. Es beinhalte unter anderem die Ausdehnung der Liste von sanktionierten Personen und Unternehmen sowie weitere Importbeschränkungen. Gleichzeitig stimme man einer Makrofinanzhilfe für die Ukraine in der Höhe von 18 Mrd. € zu. Nehammer sprach von 90.000 ukrainischen Vertriebenen, denen in Österreich Schutz gewährt worden sei und betonte die Notwendigkeit, Deeskalationsschritte einzuleiten und den "sinnlosen Krieg" rasch zu beenden.

Zur Thematik der Energiesicherheit sprach sich Nehammer für die Ausweitung des "iberischen Modells" auf die gesamte EU aus. Ein konkreter dahingehender Vorschlag der Europäischen Kommission stehe jedoch noch aus. Zudem sei eine Beschleunigung der Genehmigungsverfahren auf dem Energiesektor "dringendst geboten", um erneuerbare Energien schneller ausbauen zu können. In diese Richtung konnten bereits Fortschritte erzielt werden, wie Nehammer berichtete. Die Versorgungssicherheit müsse trotz aller unterschiedlichen Interessen innerhalb der EU gewährleistet sein.

Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik ging Nehammer vornehmlich auf den "Inflation Reduction Act" der Vereinigten Staaten ein, der aus Sicht der EU und Österreichs für Wettbewerbsverzerrungen sorgen könne. Daher bemühe man sich um eine Ausnahmeregelung für die EU. Neuerliche schuldenfinanzierte Instrumente zur Wirtschaftsförderung, wie sie von manchen Stakeholdern gefordert würden, brauche es laut Nehammer nicht. So seien etwa für die "grüne Wende" ausreichend Mittel vorhanden, die bisher noch nicht ausgeschöpft worden seien.

Außenpolitisch fokussierte Bundeskanzler Nehammer auf den Westbalkan. Bosnien und Herzegowina erfülle aus Sicht der EU noch nicht alle Beitrittskriterien, doch müssten verschiedene Dialogformen eingesetzt werden, um das Land näher an die Union heranzuführen. Verkürzte Beitrittsverfahren seien auch aus österreichischer Sicht keine Option – weder für Bosnien, noch für die Ukraine.

Mit der Ausnahme von Zypern sei Österreich so stark wie kein anderes europäisches Land von irregulärer Migration betroffen, führte Nehammer weiters an. Von insgesamt 800.000 Asylanträgen in der EU würden 100.000 allein auf Österreich entfallen, was eine "außergewöhnliche Belastung unseres Landes" darstelle. Nehammer ging näher auf die verschiedenen Migrationsrouten ein, die auch zentral über Bulgarien und Rumänien führten. An der EU-Außengrenze in Bulgarien sei es auch zu Gewaltakten gekommen, etwa zur Erschießung eines Grenzpolizisten. Daher benötige es eine "effektive Antwort" von Seiten der EU. Innenminister Gerhard Karner habe bereits einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, der auch eine "Zurückweisungsrichtlinie" beinhaltet, wonach Asylwerber:innen aus sicheren Herkunftsländern ohne Verfahren abgewiesen werden könnten. Zudem befürworte Österreich die rund 2 Mrd. € an Unterstützung für den EU-Außengrenzschutz in Bulgarien.

Österreich werde sich in die Schlussfolgerungen des Rates verstärkt einbringen, etwa was die Migration oder die Westbalkanerweiterung der EU betreffe, erklärte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler. Man wolle keine zwei Klassen von Beitrittskandidaten, auch wenn noch "einiges zu tun" sei, wie sie mit Hinblick auf Bosnien und Herzegowina ausführte. Außerdem berichtete sie von einer Reise weiblicher Delegierter in die Ukraine, an der sie teilnahm. Dort habe sie sich ein Bild von den verheerenden Zuständen machen können, jedoch auch gesehen, dass österreichische Hilfe tatsächlich ankomme und gebraucht werde.

Zustimmung zu Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens wäre für ÖVP "verantwortungslos" gewesen

Seitens der ÖVP zeigte sich Georg Strasser erfreut über die Zustimmung der SPÖ zum Veto gegen den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien. Den Antrag der Sozialdemokrat:innen könne seine Fraktion jedoch nicht unterstützen, da der ÖVP darin vorgeworfen werde, einer europäischen Lösung im Wege zu stehen, was nicht den Tatsachen entspreche. Strasser und Michaela Steinacker (ÖVP) fragten Bundeskanzler Nehammer, wie die Länder des Westbalkans gestärkt und an die EU herangeführt werden können. Für Martin Engelberg (ÖVP) wäre es "verantwortungslos" gewesen, angesichts der gegenwärtigen Asylzahlen dem Schengen-Beitritt der beiden Länder zuzustimmen. Wolfgang Gerstl (ÖVP) bedankte sich bei Verfassungsministerin Edtstadler für die auf ihre Initiative erfolgte Reise in die Ukraine und ging näher auf die "mehrfachen Völkerrechtsbrüche" Russlands und die "Zermürbung" der ukrainischen Bevölkerung ein. Von Edtstadler wollte Gerstl wissen, ob die von der Ukraine gewünschte Einrichtung eines eigenen Gerichthofes zur Verurteilung russischer Kriegsverbrechen eine Option sei. Maria Theresia Niss (ÖVP) interessierte sich für die nächsten Schritte bezüglich der Vereinbarungen zur Lukrierung von Flüssiggas.

SPÖ: Außenpolitik der ÖVP hat viel "Porzellan zerbrochen"

Die Sozialdemokratie werfe der ÖVP nicht vor, eine europäische Lösung zu blockieren, sondern zeige lediglich auf, dass das außenpolitische Agieren der ÖVP dem internationalen Ansehen Österreichs geschadet habe, sagte Jörg Leichtfried (SPÖ). Österreich könne seine Interessen nicht mehr adäquat durchsetzen, was zum gegenwärtigen "Eklat" geführt habe. Leichtfried gab außerdem zu bedenken, dass ein großer Teil der irregulären Migration auch über Ungarn stattfinde, das dafür jedoch kaum Kritik aus Österreich erfahre. Die SPÖ betrachte den Zeitpunkt für den Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens als unpassend – jedoch nur, weil bisher migrationspolitisch einiges versäumt worden sei. Es solle so rasch wie möglich alles unternommen werden, damit der Beitritt erfolgen könne, so Leichtfried. Ähnlich argumentierte Christoph Matznetter (SPÖ). Er sah außenpolitisch bereits viel "Porzellan zerschlagen", das nur mit einer klaren Kommunikation über die erforderlichen Maßnahmen wieder "gekittet" werden könne. Der NEOS-Antrag auf ein Ende der Veto-Haltung sei daher wenig sinnvoll. Auch für den Antrag der FPÖ gegen die Makrofinanzhilfe für die Ukraine signalisierte er keine Zustimmung, da die Ukraine ohne die Zahlungen "kapitulieren müsste". Einen "wunden Punkt" habe die FPÖ jedoch laut Matznetter richtigerweise angesprochen: Die EU würde in Argumentationsnot geraten, wenn sie Hilfszahlungen an ein Land leiste, in dem das Mehrparteiensystem aufgrund des Kriegszustandes de facto ausgehebelt worden sei.

FPÖ: Mit Finanzhilfe an Ukraine wird Neutralität "endgültig zu Grabe getragen"

"Die Neutralität endgültig zu Grabe getragen" sah FPÖ-Mandatarin Petra Steger durch die 18 Mrd. € Makrofinanzhilfe. Ihrer Ansicht nach würde die Ukraine damit nicht nur den Wiederaufbau ziviler Infrastruktur finanzieren, sondern vor allem in amerikanische Waffensysteme investieren. Schon vor dem Krieg sei die Ukraine "eines der korruptesten Länder" gewesen, was sich mit dem Einmarsch Russlands nicht geändert habe. Steger zitierte einen Financial-Times-Artikel, laut dem die Ukraine sich auch an der Krypto-Börse verspekuliert hätte. Gemäß EU-Richtlinien bezüglich Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Institutionen dürfe das Geld gar nicht ausbezahlt werden, so Steger. Auch für Axel Kassegger "gehe" sich die Unterstützung der Zahlung für ein neutrales Land "nicht aus". Die "illegale Massenmigration" betrachtete er als Gefährdung für Wohlstand, Sicherheit und sozialen Frieden und fragte Nehammer, ob Polen hinsichtlich Grenzschutz ein "role model" darstellen könne.  

Grüne: Ausstieg aus fossiler Energie sichert Österreichs Überleben als Industriestaat

Lukas Hammer von den Grünen war erfreut darüber, dass die Energieversorgung von den Oppositionsparteien kaum noch thematisiert werde, was daran liege, dass diese mit "großer Kraftanstrengung" von der Bundesregierung zumindest für diesen Winter gesichert worden sei. Für ihn sei es nun erforderlich, dass in den Ratsschlussfolgerungen auch auf den nächsten Winter Bezug genommen werde. Langfristig könne laut Hammer nur der Ausstieg aus der fossilen Energie eine Lösung sein, da das wirtschaftliche Überleben Österreichs als Industriestaat davon abhänge. Er begrüßte die Beschleunigung der Genehmigungsprozesse und drückte seine Hoffnung aus, dass der gemeinsame Gaskauf realisiert werden könne. Eine Gaspreisobergrenze jedoch könne zur Auflösung von Bezugsverträgen führen, gab Hammer zu bedenken. Bezüglich der Außenpolitik fragte Hammer nach der Glaubwürdigkeit Österreichs am Westbalkan. Auch für Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne) stellte das Schengen-Veto nicht den richtigen Lösungsansatz für die Migrationsproblematik dar. Sie fragte nach Perspektiven für einen späteren Schengen-Beitritt.

Schengen-Veto für NEOS "kleingeistig und populistisch"

Als "kleingeistig und populistisch" bezeichnete NEOS-Abgeordneter Nikolaus Scherak das Schengen-Veto Österreichs. Bundeskanzler Nehammer habe es bis jetzt geschafft, sich mit inhaltsbezogener Politik positiv vom aus seiner Sicht auf Umfragen fixierten Agieren von Sebastian Kurz abzuheben. Dies habe sich nun jedoch geändert. Scherak regte eine Residenzpflicht für Asylwerber:innen an, um Österreich zu entlasten. Zudem drückte er seine Zustimmung für den FPÖ-Vorschlag aus, die Auszahlung von Mitteln aus der Entwicklungszusammenarbeit an den Abschluss von Rückführungsabkommen zu koppeln. Schengen mit der Asyl-Thematik zu verknüpfen, sei jedoch unzulässig, so Scherak. Helmut Brandstätter (NEOS) sprach über die Lage der Ukraine und die Notwendigkeit, diese so gut wie möglich zu unterstützen. Er habe sich mit Vertreter:innen liberaler Parteien in der Ukraine getroffen, die beteuert hätten, dass sämtliche Fraktionen die Priorisierung der Beendigung des Krieges befürworten würden und somit weiterhin demokratischer Konsens bestehe.

Edtstadler sieht Österreichs außenpolitischen Glaubwürdigkeit gestärkt

Die Haltung der FPÖ sei "an Zynismus nicht zu überbieten", zeigte sich Verfassungsministerin Karoline Edtstadler empört. Die Makrofinanzhilfe würde für den Wiederaufbau und nicht für militärische Zwecke verwendet, was die Europäische Kommission auch kontrolliere. Es sei auch nicht das erste Mal, dass diese ausbezahlt würden und man hoffe diesmal auch auf die Zustimmung Ungarns.

Die Energieversorgung für diesen Winter sei gesichert, doch müssten für den folgenden noch Maßnahmen wie der gemeinsame Gaseinkauf beschlossen werden, erklärte Edtstadler.

Österreichs außenpolitische Glaubwürdigkeit sei laut ihr nicht beeinträchtigt, sondern eher gegenteilig durch eine "stringente Position" etwa bei der Ablehnung eines "Fast-Track-Verfahrens" bei EU-Beitritten gestärkt worden. Bezüglich des Schengen-Beitritts von Bulgarien und Rumänien sah sie ebenfalls die Notwendigkeit, eine Perspektive zu bieten.

Auch an sie sei von ukrainischer Seite hinsichtlich eines Sondergerichtshofs zur Aufklärung russischer Kriegsverbrechen herangetreten worden, so Edtstadler. Der Internationale Strafgerichtshof zeige sich dahingehend aber "skeptisch bis ablehnend". Wichtig sei es nun, vor allem im Bereich der Beweissicherung zu unterstützen.

Nehammer über Sicherheitsprobleme durch irreguläre Migration

Auch Bundeskanzler Nehammer betrachtete die Glaubwürdigkeit Österreichs am Westbalkan als ungebrochen. So habe man die betreffenden Ländern zuletzt mit 1 Mrd. € bei den steigenden Energiekosten unterstützt, um die starke Abhängigkeit der Region von Russland zu reduzieren. Österreich gelte dort seit Jahrzehnten als "geschätzter Brückenbauer" und "redlicher Vermittler". Nicht zuletzt nütze die Zusammenarbeit auch Österreich, vor allem, was die Einfuhr von Flüssiggas über adriatische Häfen betreffe.

Hinsichtlich des Schengen-Vetos bemängelte Nehammer eine "parteipolitisch motivierte" Diskussion, die sich fernab der Fakten bewege. Auch den Vorwurf des Populismus könne er nicht nachvollziehen. Angesichts der Gefahren durch Terrorismus, Drogenhandel und Waffenschmuggel könne man nicht "sehenden Auges" einer Schengen-Erweiterung zustimmen. 75.000 Menschen würden sich laut Nehmamer derzeit in der EU aufhalten, ohne je registriert worden zu sein, was ein "eklatantes Sicherheitsproblem" darstelle. Nun habe Österreich den größten Migrationsdruck und andere Länder würden erst dann reagieren, wenn sie selber betroffen seien. Für den Schengen-Beitritt der beiden Länder brauche es einen Zeitplan und eine Reduktion der Problematik, so Nehammer.

Er sei "in keiner Weise naiv" was die Auslegung des europäischen Rechts durch Viktor Orban betreffe, erklärte Nehammer. Diese Fragen seien durch die Europäische Kommission zu klären. Eine polizeiliche Zusammenarbeit mit Ungarn sei nichtsdestotrotz notwendig.

Die Makrofinanzhilfe für die Ukraine sah Nehammer als "konsequente Fortsetzung der Solidarität", und notwendig, damit diese "nicht zusammenbreche". Sanktionen hätten noch nie einen Krieg beendet, seien jedoch unerlässlich, um den Aggressor unter Druck zu setzen und in seinen Handlungsweisen einzuschränken. Sie stellen laut Nehammer die "friedlichste Form des Protests" gegen den Krieg in Europa dar. (Schluss EU-Hauptausschuss) wit