Parlamentskorrespondenz Nr. 108 vom 13.02.2024
VfGH hob 2022 erstmals die Bestimmung eines Staatsvertrags als verfassungswidrig auf
Wien (PK) – Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat im Jahr 2022 erstmals in der Geschichte die Bestimmung eines Staatsvertrags für verfassungswidrig erklärt. Betroffen davon war das Amtssitzübereinkommen mit der OPEC. Das berichtet der VfGH in seinem Tätigkeitsbericht 2022, den Verfassungsministerin Karoline Edtstadler Anfang Februar dem Nationalrat vorgelegt hat (III-1115 d.B. und III-846-BR/2024 d.B.). Außerdem war das Berichtsjahr weiterhin stark von der COVID-19-Pandemie geprägt. Auch die anhaltend hohe Zahl an Asylbeschwerden und die wiederholte Anrufung des VfGH als Streitschlichtungsorgan im U-Ausschuss-Verfahren sorgten laut VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter und Vizepräsidentin Verena Madner für viel Arbeit.
Konkret ging es bei der Staatsvertragsprüfung um die der OPEC – wie vielen anderen internationalen Organisationen auch – gewährte Immunität, die den Zugang eines ehemaligen OPEC-Angestellten zum Arbeitsgericht verhindert hat. Das verstößt laut VfGH gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, zumal es für OPEC-Beschäftigte keinen alternativen Rechtsschutz gibt. Er hat daher entschieden, dass Artikel 9 des Abkommens und weitere damit zusammenhängende Bestimmungen mit Ablauf des 30. September 2024 von den mit der Vollziehung berufenen Organen nicht mehr anzuwenden sind.
In Zusammenhang mit der Corona-Politik hat sich der Gerichtshof unter anderem mit dem COVID-19-Impfpflichtgesetz beschäftigt und dessen Verfassungskonformität grundsätzlich bestätigt. Zudem musste er gleich 96 Mal über Streitigkeiten in Bezug auf Aktenvorlagen und Meinungsverschiedenheiten in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen urteilen, was laut VfGH nicht nur vom quantitativen Aspekt her, sondern auch wegen der Komplexität der aufgeworfenen Fragen und des Zeitdrucks – gesetzlich ist eine vierwöchige Entscheidungsfrist geboten – herausfordernd war. Große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregte auch das Erkenntnis zur ORF-Gebühr, Stichwort "Streaming-Lücke". Asylbeschwerden machten mit 1.867 Fällen rund 43,5 % der im Jahr 2022 neu anfallenden Verfahren aus, 2021 waren es 47 % gewesen.
4.293 neu anhängige Verfahren, 4.555 Erledigungen
Insgesamt wurden im Jahr 2022 4.293 neue Fälle an den Verfassungsgerichtshof herangetragen. Das ist ein Minus von 19,5 % gegenüber 2021. Gleichzeitig konnte das Höchstgericht 4.555 Fälle abschließen. Dazu zählen neben 3.789 Individualbeschwerden gegen verwaltungsgerichtliche Entscheidungen (davon 2.083 Asylrechtsangelegenheiten) und den 96 U-Ausschuss-Fällen auch 317 Gesetzesprüfungen, 304 Verordnungsprüfungen und die Prüfung eines Staatsvertrags. Weiters wurden 14 Verfahren in Wahlsachen, 29 Klagen in Zusammenhang mit vermögensrechtlichen Ansprüchen gegen eine Gebietskörperschaft, vier Fälle von Kompetenzkonflikten und eine sonstige Sachfrage erledigt.
Die durchschnittliche Verfahrensdauer stieg leicht an, konnte mit knapp fünf Monaten (146 Tagen) ohne Asylentscheidungen bzw. 138 Tagen inklusive der Berücksichtigung von Asylrechtssachen im internationalen Vergleich aber weiterhin kurz gehalten werden. Zum Jahresende waren noch 1.241 Verfahren offen, das waren um 262 weniger als zu Jahresbeginn (1.503).
Quote der Stattgaben sank auf 7,9 %
Nach wie vor relativ gering ist die Chance, beim Verfassungsgerichtshof mit einem Anliegen durchzudringen. Lediglich 361 der abgeschlossenen Verfahren endeten im Sinne der Beschwerdeführer:innen. Damit sank die Quote der Stattgaben von 10,3 % im Jahr 2021 auf 7,9 %. Auch 2020 (9,4 %) und 2019 (7,5 %) hatte es ähnliche Werte gegeben.
Den 361 Stattgaben stehen 1.529 Ablehnungen (33,6 %), 359 Zurückweisungen (7,9 %) und 220 Abweisungen (4,8 %) gegenüber. Dazu kommen 1.989 negative Entscheidungen über Verfahrenshilfeanträge (43,6 %) und 97 "sonstige Erledigungen" wie Verfahrenseinstellungen (2,2 %).
317 abgeschlossene Gesetzesprüfungsverfahren
Von den 317 abgeschlossenen Gesetzesprüfungsverfahren mündeten 43 in eine Aufhebung der angefochtenen Bestimmungen, wobei 15 der betreffenden Verfahren vom VfGH selbst in die Wege geleitet wurden und 21 auf Anträgen von Gerichten basierten. Dazu kommen fünf erfolgreiche Parteianträge von gerichtlichen Verfahrensparteien und eine erfolgreiche Individualbeschwerde sowie eine abstrakte Normenkontrolle ohne konkreten Anlassfall. Nicht aufgeschlüsselt ist im Bericht, wie viele Gesetzesmaterien von den Prüfverfahren betroffen waren, einzelne Bestimmungen werden oft mehrfach angefochten.
Corona-Pandemie: Lockdowns für Ungeimpfte waren grundsätzlich zulässig
Abgewiesen hat der Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Aufhebung des – mittlerweile wieder abgeschafften – COVID-19-Impfpflichtgesetzes. Eine Impfpflicht sei zwar ein besonders schwerer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht, das Gesetz sehe aber eine laufende Evaluierung der Erforderlichkeit dieser Maßnahme und die Möglichkeit der Aussetzung vor, argumentierte er. Dieser Verpflichtung sei der Gesundheitsminister nachgekommen, zum Zeitpunkt der Prüfung war die Impfpflicht ausgesetzt. Auch die Ende 2021 und Anfang 2022 geltenden Lockdowns für Personen ohne COVID-19-Impfung bzw. ohne Genesungsnachweis (2G-Regel) sowie die zeitweise bestehende PCR-Pflicht für ungeimpfte Personen in der Nachtgastronomie (1G-Regel) haben die Verfassungsrichter:innen im Wesentlichen bestätigt.
Nach Meinung des VfGH wäre es allerdings erforderlich gewesen, vom Lockdown betroffene Personen nach einer gewissen Zeitspanne einen Friseurbesuch zu ermöglichen, da auch dieser zu den notwendigen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens gehöre. Daher hat er eine Bestimmung der 6. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung als gesetzeswidrig aufgehoben. Außerdem wertete er es als gleichheitswidrig, dass während des allgemeinen Lockdowns vom 22. November bis 11. Dezember 2021 Zusammenkünfte zur Religionsausübung ohne Einschränkung gestattet waren, nicht aber gemeinsame künstlerische Betätigung abseits von klar definierten beruflichen Zwecken. Eine sachliche Rechtfertigung für eine derartige Ungleichbehandlung von Religion und Kunst sei nicht zu erkennen, gab er einem entsprechenden Antrag statt.
"Medienprivileg" im Datenschutzgesetz geht zu weit
Abseits der Corona-Pandemie hob der VfGH unter anderem Teile des Rundfunkgebührengesetzes (RGG) mit einer Frist bis Ende 2023 auf. Es verstoße gegen das BVG Rundfunk, dass Personen, die die Programme des ORF nur über das Internet nutzen, von der Verpflichtung zur Leistung des Programmentgelts nicht erfasst sind, begründete er seine Entscheidung. Zudem gab er einer Beschwerde gegen die Verhängung einer Verwaltungsstrafe wegen unerlaubter Beförderung von Tageszeitungen zum Zweck der Befüllung von Selbstbedienungstaschen statt, da diese Tätigkeit vom Schutz der Pressefreiheit umfasst sei und nicht der Gewerbeordnung unterliege.
Nachbessern muss das Parlament auch beim Datenschutzgesetz (DSG). Die umfassenden Ausnahmebestimmungen für Medien vom DSG und von der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gehen dem Verfassungsgerichtshof zu weit. Es brauche auch in Bezug auf journalistische Tätigkeiten gewisse datenschutzrechtliche Garantien, betont er. Frist für die Gesetzesreparatur ist der 30. Juni 2024.
Weiters urteilte der VfGH, dass eine obligatorische Untersuchungshaft bei schweren Straftaten gegen das Grundrecht auf persönliche Freiheit verstößt, der Spielerschutz im Glücksspielgesetz unzureichend geregelt ist und das Nitrat-Aktionsprogramm gegen gesetzliche Vorgaben verstieß. Außerdem hob er eine gesetzliche Bestimmung auf, wonach irrtümlich ausgezahltes Kinderbetreuungsgeld zurückzuzahlen ist. Eine Beschwerde österreichischer Banken gegen ein gesetzliches Kreditmoratorium für Kredite von Verbraucher:innen und Kleinstunternehmen während der Corona-Pandemie wurde hingegen abgewiesen.
185 erfolgreiche Asylbeschwerden
Im Zuge der 2.038 abgeschlossenen Asylrechtsverfahren hat der Verfassungsgerichtshof in 185 Fällen – zumindest teilweise – zugunsten der Beschwerdeführer:innen entschieden. Damit lag die Stattgabenquote (rund 8,8 %) auf ähnlichem Niveau wie bei den übrigen Rechtsfällen. Unter anderem hatte sich der Verfassungsgerichtshof im Berichtszeitraum mit der Situation von Mädchen und Frauen in Afghanistan, dem Krieg in der Ukraine und den Haftbedingungen auf Malta auseinanderzusetzen. Zudem bekräftigte er, dass zwei aus Nigeria stammende alleinstehende mittellose Frauen ohne familiäre Unterstützung in Nigeria, die Opfer von Menschenhandel geworden waren, sehr wohl einer bestimmten sozialen Gruppe zuzuordnen sind.
In seiner Rolle als Streitschlichtungsorgan für Meinungsverschiedenheiten in Untersuchungsausschüssen befasste sich der VfGH 2022 unter anderem mit der Frage von Aktenvorlagepflichten durch einzelne Ministerien und durch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Außerdem gibt der Tätigkeitsbericht 2022 Auskunft über die personelle Struktur des Verfassungsgerichtshofs, Veranstaltungen, internationale Kontakte und die Öffnung des Gerichtshofs für die Bevölkerung. Auch ein Interview mit dem Wiener Verfassungsrechtsprofessor Ewald Wiederin ist Teil des Berichts. (Schluss) gs