Bibliothek - Aktueller Tipp 29.10.2024

Jüdisches Erleben, jüdisches Überleben – Fluchtgeschichte 1938-1945

"Das Menetekel war deutlich...

"…für das Judentum, doch nur Wenige erkannten die drohende Gefahr rechtzeitig und konnten fliehen." Das in diesen Worten von Alfred Glück (1921-2007) angesprochene Menetekel, das drohende Unheil für die europäischen Jüdinnen und Juden, manifestiert sich in einer der Zeichnungen Glücks. An einem malerischen Aussichtsplatz, über den Dächern Wiens, formieren sich dunkle Wolken in Form eines Hakenkreuzes am Himmel. Glück hatte die sich im Zuge des "Anschlusses" 1938 nun auch in Österreich bahnbrechende nationalsozialistische Gewalt nicht nur vorausgeahnt, er geriet ab 1939 mit Ausbruch des Krieges in den gewaltigen Sog des NS-Terrorregimes. Von Dänemark aus versuchten er und seine Mitstreiter:innen 1943 in das heutige Israel (damals noch britisches Mandatsgebiet) zu gelangen, wurden jedoch an der Grenze zur Schweiz entdeckt. Alfred Glück überlebte anschließend nicht nur die Deportation in und das Vernichtungslager Auschwitz selbst, sondern auch einen der vielen Todesmärsche im Jänner 1945. Nach seiner Befreiung im Konzentrationslager Buchenwald im April 1945 durch US-amerikanische Truppen gelangte Glück nach Kriegsende in das Displaced-Persons-Lager in Bergen Belsen, in dem er 1946 das in der Ausstellung zu sehende Album mit seinen Zeichnungen anfertigte.

Einer von vielen, einer von wenigen

Auf teils verschlungenen Wegen versuchten knapp zwei Drittel der ursprünglich etwa 206.000 in Österreich lebenden Jüdinnen und Juden in Sicherheit zu gelangen. An Orten wie den USA und Großbritannien, aber auch Israel, oder Shanghai fanden einige von ihnen Zuflucht. Mit seinen Erfahrungen und seiner Zeitzeugenschaft angesichts der nationalsozialistischen Gräueltaten ist Alfred Glück einer von vielen österreichischen Jüdinnen und Juden, die sich nach dem "Anschluss" endgültig zur Flucht aus Österreich gezwungen sahen. Als einer von wenigen war es ihm – seine Eltern sowie seine Schwester fielen dem NS-Vernichtungswahn zum Opfer – beschieden, den Holocaust zu überleben. Glücks Beispiel, dessen Erfahrungen sich in den von ihm angefertigten Zeichnungen verdichten, ist eine jener Personen, deren Geschichte(n) anhand von ganz persönlichen Objekten in der Ausstellung "Aus dem Leben gerissen – Schicksale österreichischer Jüdinnen und Juden nach dem 'Anschluss' 1938" nachvollzogen werden können. Noch bis 26. November 2024 kann die Ausstellung kostenlos in der Säulenhalle des Parlaments besichtigt werden. Der Aktuelle Tipp liefert aus diesem Anlass eine Auswahl rezenter Literatur zu den verschiedenen Facetten jüdischer Flucht- und Verfolgungsgeschichte.

Literaturauswahl

  • Achankeng, Fonkem (Hg.), Refugees, Forced Migrants and Human Tragedies: An Interdisciplinary Critical Perspective (Lexington Books, London 2023) – Bestellen
  • Basso, Andrew R., Destroy Them Gradually : Displacement as Atrocity (Rutgers University Press 2024) – Bestellen
  • Borger, Julian, Suche liebevollen Menschen: Mein Vater, sieben Kinder und ihre Flucht vor dem Holocaust (Molden Verlag, Wien/Graz 2024) – Bestellen
  • Finkelstein, Daniel, Hitler, Stalin, Meine Eltern & Ich: Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte. (Hoffmann und Campe, Hamburg 2024) – Bestellen
  • Hofreiter, Gerda, Verstoßen: Die Wege der jüdischen Kinder und Jugendlichen aus dem Gau Tirol-Vorarlberg 1938 – 1945 (Tyrolia-Verlag, Wien/Innsbruck 2023) – Bestellen
  • Hödl, Sabine (Hg.) 1970-. Dinge Bewegen: Mobile Menschen, Gegenstände und Erinnerungen in der Jüdischen Geschichte Österreichs (Institut Für Jüdische Geschichte Österreichs, St. Pölten 2022)
    Ausstellungskatalog bestellen
  • Jüdisches Museum Wien (Hg.) Die dritte Generation: Der Holocaust im familiären Gedächtnis (Hentrich&Hentrich, Berlin/Leipzig 2024) – Publikation zur Ausstellung bestellen
  • Kühschelm, Oliver, Geflohen und geblieben: Jüdische Österreicher*innen in Uruguay. (Böhlau Verlag, Wien 2024) – Bestellen
  • Möckelmann, Reiner, Transit Istanbul – Palästina: Juden auf der Flucht aus Südosteuropa (Wbg Theiss, Darmstadt 2023) – Bestellen
  • Thies, Jochen, Evian 1938: als die Welt die Juden verriet (Klartext, Essen 2017) – Bestellen
  • Yelin, Barbara, et al. Aber ich lebe: Vier Kinder überleben den Holocaust (C.H. Beck, München 2022) – Bestellen