Der Einkommensteuertarif verläuft in Österreich progressiv, d. h. der Durchschnittssteuersatz steigt mit der Bemessungsgrundlage an. Unter kalter Progression versteht man steuerliche Mehrbelastungen, die ausschließlich durch den Anstieg des Preisniveaus entstehen und zu einem Anstieg der realen Steuerbelastung führen, auch wenn die realen Bruttolöhne gleich bleiben.
Zur Quantifizierung der auf die kalte Progression zurückzuführenden steuerlichen Mehrbelastung seit der letzten Steuerreform 2009 wurden von Anton Rainer (BMF), dem IHS, der Gesellschaft für angewandte Wirtschaftsforschung (GAW) und der Agenda Austria Berechnungen vorgelegt, die sich teils erheblich unterscheiden. Während die Methode von Rainer (BMF) ein makrobasierter Ansatz ist, bei dem die kalte Progression auf Basis von aggregierten VGR-Daten ermittelt wird, erfolgen die Berechnungen der GAW auf Basis von statistisch erhobenen Individualdaten. IHS und Agenda Austria verwenden für ihre Berechnungen die Lohnsteuerstatistik der Statistik Austria. Dabei handelt es zwar nicht um Individualdaten, die Berechnungen folgen jedoch ebenfalls einem disaggregierten Ansatz.
Die Unterschiede in den Ergebnissen erscheinen auf den ersten Blick beträchtlich, sind jedoch bei genauerer Betrachtung größtenteils erklärbar:
- Einer der Hauptgründe für den Unterschied zwischen den Berechnungen ist, dass drei der Studien (Rainer (BMF), IHS, Agenda Austria) die kalte Progression ausschließlich für die Lohnsteuer berechnen, während die GAW bei ihren Berechnungen auch die veranlagte Einkommensteuer miteinbezieht.
- Ein weiterer wesentlicher Grund für den Unterschied zwischen IHS und GAW ist, dass das IHS bei der Simulation des hypothetischen Steueraufkommen mit indexiertem Tarif nur einen Teil des Steuertarifs an die Inflation anpasst, während die GAW auch sämtliche Frei- und Absetzbeträge indexiert.
- In den Berechnungen von Rainer (BMF) wird der gesamte Anstieg der Bruttolohn- und Gehaltssumme von 2009 bis 2013 (13,3 %) implizit einer Nominallohnsteigerung zugeschrieben und mit der kumulierten Inflationsrate von 10 % in Relation gesetzt. Tatsächlich ist der Anstieg zum Teil auf den aufgetretenen Beschäftigungszuwachs zurückzuführen. Weiters werden Veränderungen in der Einkommensverteilung nicht berücksichtigt.
- Die Agenda Austria dürfte hingegen insbesondere aufgrund der Annahme einer Gleichverteilung der Einkommen innerhalb der für die Berechnung herangezogenen Einkommensklassen bei der Hochrechnung der kalten Progression auf die Gesamtbevölkerung den Effekt der kalten Progression überschätzen. Weiters wurden bestimmte steuerfreie Bezüge sowie Korrekturen durch die Arbeitnehmerveranlagung nicht berücksichtigt.
Die Ermittlung des tatsächlichen Effekts der kalten Progression ist mit den verfügbaren Daten nur annähernd möglich, weshalb alle verwendeten Methoden gewisse Verzerrungen aufweisen.
Die Ergebnisse von Rainer (BMF) sind mit 1,428 Mrd. EUR im Jahr 2013 aus Sicht des Budgetdienstes deutlich zu niedrig, was insbesondere in der problematischen Bereinigung des gesamten Progressionseffektes in einen inflationsbedingten und einen durch Reallohnsteigerungen bedingten Progressionseffekt begründet ist. Die Agenda Austria (2,460 Mrd. EUR im Jahr 2013) überschätzt den Effekt der kalten Progression, weil ihre Methode die Bruttolohnsumme zu hoch annimmt und bestimmte steuerfreie Bezüge sowie Korrekturen durch die Arbeitnehmerveranlagung nicht berücksichtigt.
Die aus Sicht des Budgetdienstes plausibelsten Berechnungen von IHS (1,862 Mrd. EUR) und der GAW (2,270 Mrd. EUR im Jahr 2013) dürften sich im Ergebnis weitgehend annähern, wenn die GAW die kalte Progression aus der veranlagten Einkommensteuer nicht einbeziehen und das IHS auch sämtliche Frei- und Absetzbeträge an die Inflation anpassen würde. Dabei müsste jedoch die teilweise Nichtausschöpfung berücksichtigt werden (unterbleibt bei der GAW-Methode). Grundsätzlich ist auch die veranlagte Einkommensteuer von der kalten Progression betroffen und in eine Gesamtbetrachtung miteinzubeziehen, allerdings ist deren Quantifizierung aufgrund der Datenverfügbarkeit wesentlich schwieriger als bei der Lohnsteuer.
Bei der mit der Steuerreform geplanten Tarifsenkung ab 2016 entfällt ein erheblicher Teil des angestrebten Entlastungsvolumens iHv 4,9 Mrd. EUR auf einen Ausgleich der steuerlichen Mehrbelastung aufgrund der seit 2009 eingetretenen kalten Progression. Nach allen vorliegenden Berechnungen wird durch die Entlastung im Jahr 2016 die seither eingetretene implizite Tariferhöhung jedenfalls überkompensiert. Ein Ausgleich der kalten Progression kann neben periodischen größeren Steuerreformen auch durch eine laufende Indexierung des Steuertarifs erfolgen. Solche Regelungen gibt es in 18 von 30 OECD‑Staaten. Die Anpassung erfolgt teilweise jährlich, teilweise bei Überschreiten eines Schwellenwertes und ist an den Verbraucherpreisindex oder an die Lohn- und Gehaltsentwicklung geknüpft.