Fachinfos - Fachdossiers 28.11.2022

Herausforderungen staatlicher Institutionen in Krisenzeiten

Das Fachdossier widmet sich der Frage, welche Rolle staatlichen Institutionen in Krisen zugeschrieben wird. Darüber hinaus identifiziert es besondere Herausforderungen diesbezüglich in aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatten.

Mit welchen Herausforderungen sind staatliche Institutionen in Krisenzeiten besonders konfrontiert?

Am 29. November 2022 findet eine parlamentarische Enquete des Bundesrates zum Thema "Verlässliche öffentliche Strukturen als Basis des gesellschaftlichen Zusammenhalts" statt. Die Teilnehmer:innen beschäftigen sich in diesem Rahmen mit den Möglichkeiten des Staates, in Zeiten der Krise und gesellschaftlicher Transformation wirtschaftliche Entwicklungen mitzugestalten und mithilfe öffentlicher Strukturen stabilisierend auf die Gesellschaft einzuwirken, sowie mit der Bedeutung der Daseinsvorsorge.

Komplexe gesellschaftliche Entwicklungen in Krisenzeiten

Die Frage, wie mit großen Veränderungen umgegangen werden soll, stellt sich in Krisenzeiten aus einer anderen Perspektive. Aufgrund ihrer gewichtigen Regelungsfunktion stehen dabei speziell staatliche Institutionen vor einer doppelten Herausforderung. Sie sollen die Frage beantworten, wie die Krise bewältigt werden kann. Gleichzeitig sollen sie aber auch andere Entwicklungen nicht aus den Augen verlieren, die sich abzeichnen oder bereits akut sind. Als derzeit besonders im Fokus stehende Beispiele werden die globale Klimaerwärmung und Dekarbonisierung (siehe dazu die Ergebnisse der eben abgeschlossenen UN-Klimakonferenz COP 27 oder Punkt C der Summary for Policy Makers des Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC), das Spannungsfeld zwischen Globalisierung und Regionalisierung (siehe z. B. Globalisierung, Region und Regionalisierung des Geografen Benno Werlen) oder Herausforderungen hinsichtlich Digitalisierung genannt.

Ganz grundlegend wird in Zusammenhang mit allen diesen Problemstellungen die Frage gestellt, welche Bereiche des gesellschaftlichen (Zusammen-)Lebens wie stark von staatlichen Institutionen geregelt werden sollen und inwieweit sie überhaupt eingreifen können. Man kennt solche Diskussionen besonders aus der Ökonomie: Welche Rolle muss bzw. soll der Staat in Sachen Wirtschaftslenkung einnehmen? Wie viel soll dem Markt überlassen werden?

Krisen zeichnen sich durch besondere Dynamiken aus: Ähnlich wie die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 (siehe dazu ein Vergleich der wirtschaftlichen Auswirkungen vom deutschen Statistischen Bundesamt Destatis) führte auch die COVID-19-Pandemie dazu, dass der Ruf nach staatlicher Unterstützung plötzlich sehr laut wurde. Dass dieser Ruf gehört wurde, zeigen z. B. Datenbanken des Internationalen Währungsfonds, welche einen Überblick über finanzpolitische Maßnahmen und wirtschaftspolitische Maßnahmen nationalstaatlicher Regierungen gewähren, oder Statistiken über staatliche Subventionierungen von Einkommen auf der ganzen Welt. Der Budgetdienst des österreichischen Parlaments analysiert in diversen Anfragebeantwortungen z. B. COVID-19 Auftragsvergaben und Beschaffungsvorgänge der Bundesregierung / PDF, 1702 KB, beschlossene COVID-19-Maßnahmen / PDF, 1450 KB und zuletzt Einmalzahlungen während der COVID-19-Krise / PDF, 1075 KB.

Im Umgang mit krisenhaften Situationen kommt außerdem eine zeitliche Dimension hinzu, welche sich mit den Fragen zusammenfassen lässt: Wie geht es nach der Krise weiter? Und: Was lernt man aus der Krise für die Einschätzung von und Vorbereitung auf mögliche zukünftige Krisen?

Rolle staatlicher Institutionen vor, während und nach einer Krise

Internationale Organisationen wie die Weltbank betonen ihr Vertrauen in staatliche Institutionen, um für die Zeit nach einer Krise nachhaltiges Wachstum sicherzustellen (siehe dazu die Ausführungen der Weltbank in Bezug auf Governance & Institutions COVID-19 Response Resources).

Aber auch in der Vorbereitung auf zukünftige Krisen sind vor allem staatliche Institutionen gefordert. Sie müssten, wie Frances Z. Brown vom etablierten Think Tank Carnegie Endowment for International Peace argumentiert, ihre Resilienz gegenüber externen Schocks stärken. Laut Policy Brief #74: Resilient institutions in times of crisis der Vereinten Nationen (UN) seien dafür für Institutionen wie Parlamente und das Justizsystem Beteiligung (v. a. der Zivilgesellschaft), Transparenz und Verantwortlichkeit von zentraler Bedeutung. Nur so wären sie in der Lage, im Notfall effektiv, schnell und mit den notwendigen – unter Umständen drastischen – Maßnahmen zu reagieren. Diese Prinzipien schlagen sich ebenfalls im Sustainable Development Goal 16 der UN nieder.

Auch die OECD streicht in ihren Policy Responses to Coronavirus (COVID-19) hervor, wie zentral die Rolle von institutionellen Arrangements ist, welche von und rund um Regierungen aufgebaut werden, um adäquat auf Krisen reagieren zu können. Diese müssten sich, erstens, durch klares Leadership auszeichnen. Das hätte sich als positiver Faktor in jenen Fällen herausgestellt, in denen z. B. Koordinator:innen ernannt wurden, welche die Vorgehensweise abstimmen und geeint (nach außen) kommunizieren. Zweitens wäre eine regelmäßige und transparente Koordination mit anderen Regierungsebenen, aber auch zwischen verschiedenen Politikbereichen sowie mit der Zivilgesellschaft von großer Bedeutung. Drittens könnte eine möglichst transparente Verwendung der besten verfügbaren Evidenzen und Expertisen (z. B. durch eine klare Darstellung von Entscheidungsfindungen, der Rolle von Berater:innen sowie möglicher Interessenkonflikte) das Vertrauen in die Entscheidungsfindung steigern und damit Unsicherheiten reduzieren. Und viertens wäre eine effektive und kohärente Kommunikation in und mit der Öffentlichkeit unverzichtbar – vor allem in Hinblick auf die Umsetzung von Maßnahmen. Im Rahmen eines strategischen Risikomanagements käme dabei jenen Organen eine fundamentale Rolle zu, welche Regierungschef:innen, Ministerräte, Ministerien etc. direkt unterstützen und beraten (also Wissenschaftler:innen, Expert:innen etc.).

Besondere Herausforderungen in Krisenzeiten

Bezüglich aller dieser Überlegungen ist allerdings zu beachten, dass sie auf der Annahme beruhen, dass staatliche Institutionen in Krisenzeiten nach wie vor verfassungsgemäß funktionieren. Jedoch zeigen nicht nur historische Beispiele, sondern auch gegenwärtige Entwicklungen rund um neo-autoritäre Tendenzen, dass gerade Krisen oft dazu genutzt werden, um Grundpfeiler demokratischer Systeme zu schwächen. Umso wichtiger ist es, die Qualität demokratischer Institutionen (Gewaltentrennung, Verantwortlichkeit und Kontrolle, Transparenz und Öffentlichkeit, Inklusivität etc.) durch eine starke Institutionalisierung präventiv abzusichern. Während der COVID-19-Pandemie wurde anhand der Situation von Parlamenten ersichtlich, mit welchen Herausforderungen dieser Anspruch einhergeht. Wie Publikationen von Griglio (2020) oder Bolleyer und Salát (2021) zeigen, wurden deren Funktionalität und Position oft auf die Probe gestellt – vor allem hinsichtlich ihrer ausgleichende Rolle gegenüber Regierungen bzw. der Exekutive.

Abgesehen davon geben wissenschaftliche Debatten Aufschluss über etliche weitere Risiken, welche Krisenzeiten immanent und dementsprechend von staatlichen Institutionen zu beachten sind. Die folgenden Fragestellungen sind beispielhaft dafür:

  • Wie beeinflussen Krisen die Teilhabe von Medien an öffentlichen Debatten und politischen Auseinandersetzungen? Können Krisen dazu führen, dass Medien ihre Rolle als „vierte Gewalt“ im Staat nicht adäquat ausüben können?
  • Welche Relevanz hat das Internationale System, bestehend aus internationalem Recht, internationalen Organisationen etc., in Krisenzeiten? Ändern einzelne Staaten ihren Umgang damit, z. B. indem sie dessen Autorität nicht mehr anerkennen?
  • Welche Rolle können die Wissenschaft spielen? Inwiefern basieren politische Entscheidungsfindungen auf wissenschaftlichen Evidenzen? Wann und warum werden wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch bzw. unkritisch rezipiert? Welche Rolle spielen die Sozialwissenschaften – in Ergänzung zu einem rein technokratischen Zugang zu möglichen Lösungen?

In Anbetracht dieser und weiterer sich oft überschneidender Herausforderungen ist gegenwärtig wieder zunehmend die Rede davon, dass sich die Gesellschaft inmitten einer multiplen Krise befindet. In Wissenschaft und Politik herrscht jedoch das Bewusstsein, dass diese auch Chancen für positive Veränderungen bietet, wenn aus den Erfahrungen gelernt und ein übergreifender Ansatz verfolgt wird, der politische Ebenen, staatliche Räume und Politikbereiche verbindet (siehe z. B. Tomczyk 2022).