Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.07.2021

Klage Ungarns gegen Entschließung des Europäischen Parlaments

Berechnung des Abstimmungsergebnisses im Zusammenhang mit der Annahme einer Entschließung im Europäischen Parlament. EuGH 3.6.2021, C-650/18, Ungarn gg. Parlament (8. Juli 2021)

Sachverhalt

Mit Entschließung vom 17. Mai 2017 zur Lage in Ungarn (2017/2656(RSP)) beauftragte das Europäische Parlament (EP) seinen Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, einen Sonderbericht über Ungarn auszuarbeiten. Der Bericht wurde am 25. Juni 2018 angenommen und enthielt den Entwurf einer Entschließung zur Einleitung des Verfahrens gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV. Damit sollte der Rat der EU aufgefordert werden, festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der gemeinsamen Werte, auf die sich die Union gründe, durch Ungarn bestehe. Die Abstimmung über die Entschließung wurde für September 2018 in Aussicht genommen.

Mit Schreiben vom 10. September 2018 teilte der Ständige Vertreter Ungarns bei der Union dem Generalsekretär des Parlaments mit, dass nach Ansicht der ungarischen Regierung Enthaltungen bei der Abstimmung über die angefochtene Entschließung des Parlaments gemäß Art. 354 AEUV und Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung zu berücksichtigen seien, und bat um Unterrichtung der Mitglieder des Parlaments.

Am selben Tag wurden die Mitglieder des EP per E-Mail informiert, dass bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses nur die für und gegen die Annahme der Entschließung abgegebenen Stimmen, nicht aber Enthaltungen berücksichtigt würden. Am 12. September 2018 nahm das EP die Entschließung an. Damit wurde das Verfahren gemäß Art. 7 EUV eingeleitet, das zur Aussetzung bestimmter mit der Zugehörigkeit zur EU verbundener Rechte des betroffenen Mitgliedstaats führen kann. 448 Mitglieder stimmten für diese Entschließung, 197 stimmten dagegen, und 48 Mitglieder enthielten sich der Stimme. 2018 hatte das EP insgesamt 751 Mitglieder.

Ungarn war der Ansicht, dass das EP bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses die Enthaltungen hätte berücksichtigen müssen. Daher erhob es gemäß Art. 263 AEUV Klage auf Nichtigerklärung dieser Entschließung.

Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union

Die Große Kammer des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) wies die Klage Ungarns ab. Zunächst wurde festgestellt, dass Art. 269 AEUV der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Entschließung durch den EuGH nicht entgegenstehe. Die Bestimmung beschränke zwar die gerichtliche Überprüfung von Akten des Europäischen Rates und des Rates im Rahmen von Art. 7 EUV, eine Entschließung des Parlaments wie die vorliegende werde dadurch aber der gerichtlichen Kontrolle durch den EuGH nicht entzogen.

Die angefochtene Entschließung des EP stelle auch im Übrigen eine im Verfahren gemäß Art. 263 AEUV anfechtbare Handlung dar. Sie entfalte nämlich ab ihrer Annahme verbindliche Rechtswirkungen: Solange sich der Rat nicht zu den insoweit zu treffenden Folgemaßnahmen geäußert habe, bewirke die Entschließung, dass das für die Mitgliedstaaten grundsätzlich geltende Verbot entfalle, einen von ungarischen Staatsangehörigen gestellten Asylantrag zu berücksichtigen oder zur Bearbeitung zuzulassen. Die angefochtene Entschließung stelle auch keine Zwischenmaßnahme ohne eigenständige Rechtswirkungen dar, deren Rechtmäßigkeit nur im Rahmen eines Rechtsstreits über die endgültige Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient, in Abrede gestellt werden könne. Das Parlament beurteile in der Entschließung eigenständig das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat und die Rechtswirkungen der Entschließung könnten in einem Verfahren gegen eine vom Rat gemäß Art. 7 EUV getroffene Feststellung nicht vollständig beseitigt werden.

Zur Frage des Ausschlusses der Enthaltungen bei der Auszählung der abgegebenen Stimmen wies der EuGH in der Sache zunächst darauf hin, dass der Begriff „abgegebene Stimmen“ in den Verträgen nicht definiert sei, und dass dieser autonome Begriff des Unionsrechts daher entsprechend seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen sei. Nach Auffassung des EuGH umfasst der Begriff in seinem üblichen Sinn jedoch nur die Äußerung eines befürwortenden oder ablehnenden Votums über einen bestimmten Vorschlag, während die als Weigerung, Stellung zu beziehen, verstandene Enthaltung nicht mit einer „abgegebenen Stimme“ gleichgestellt werden könne. Daher sei die in Art. 354 Abs. 4 AEUV vorgesehene Regel, die eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen vorschreibe, so zu verstehen, dass sie die Berücksichtigung von Enthaltungen ausschließe.

Die Vorgangsweise verstoße auch nicht gegen das Demokratieprinzip, vor allem weil bei der Abstimmung über einen begründeten Vorschlag gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV eine doppelte Mehrheit, nämlich die Zustimmung von mindestens der Hälfte der Mitglieder des EP und eine Zweidrittelmehrheit gefordert sei. Damit seien für dieses Verfahren besondere Schutzvorkehrungen getroffen. Entgegen dem Vorbringen Ungarns sei den Mitgliedern des EP (MEP), die ihre Befugnisse so ausüben wollten, dass sie sich bei der Abstimmung der Stimme enthielten, diese Möglichkeit nicht genommen worden. Denn die Enthaltungen hätten überprüft werden müssen, um festzustellen, ob die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments dafür gestimmt hatte. Schließlich hätten die MEPs, die sich der Stimme enthielten, in Kenntnis der Sachlage gehandelt, da sie unstreitig im Voraus darüber informiert worden seien, dass Enthaltungen nicht als abgegebene Stimmen gezählt werden würden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.