Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.07.2021

Türkei: Informationssperre über parlamentarische Untersuchung

Journalistin im Recht auf Zugang zu Informationen verletzt; Universitätsprofessoren nicht. EGMR 4.5.2021, 41139/15 und 41146/15, Akdeniz u.a. gg. Türkei (8. Juli 2021)

Sachverhalt

Im Jahr 2014 beschloss die Große Nationalversammlung der Türkei, einen Untersuchungsausschuss (UsA) zur Aufklärung von Korruptionsvorwürfen und Interessenskonflikten gegen vier zurückgetretene Minister einzusetzen. Der UsA trat zwischen Juli 2014 und Dezember 2014 zu insgesamt zwölf Sitzungen zusammen, während derer er Zeugen anhörte (unter anderem die beschuldigten Minister) und Strafermittlungsakten verarbeitete. Mit den Stimmen der Regierungsfraktion wurde der Großen Nationalversammlung schließlich empfohlen, keine Verfahren gegen die Beschuldigten vor dem Verfassungsgericht einzuleiten.

Für das letzte Monat der Untersuchung erwirkte der Vorsitzende des UsA eine einstweilige Verfügung, mit der die Verbreitung und Veröffentlichung von Informationen über den – vertraulich tagenden – UsA in sämtlichen Medien (Presse, Fernsehen, Internet) verboten wurden. Dagegen erhoben unter anderem zwei Universitäts(assistenz)professoren, Yaman Akdeniz und Kerem Altıparmak, sowie die Journalistin und Fernseh-Moderatorin Banu Güven eine Beschwerde vor dem türkischen Verfassungsgericht, die als unzulässig zurückgewiesen wurde, da es an der direkten Betroffenheit der BeschwerdeführerInnen gemangelt hätte. In „dissenting opinions“ wurde allerdings bereits auf die bedeutsamen Funktionen der Presse als „public watchdog“ sowie von Universitäten zur Meinungsbildung betreffend aktuelle Themen hingewiesen.

Akdeniz, Altıparmak und Güven wandten sich im August 2015 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und behaupteten, durch die Entscheidung des Verfassungsgerichts unter anderem in ihrem gemäß Art. 10 EMRK garantierten Recht auf Zugang zu Informationen und Verbreitung derselben verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Die Entscheidung des EGMR betrifft insbesondere folgende Punkte:

Zur Frage der Zulässigkeit der Beschwerden (Betroffenheit)

In seiner Entscheidung rief der EGMR in Erinnerung, dass auf Basis der EMRK keine Popularklagen, sondern nur individuelle Beschwerden möglich sind. BeschwerdeführerInnen müssten daher von der Wirkung eines staatlichen Eingriffs zumindest indirekt nachteilig betroffen sein oder ein berechtigtes persönliches Interesse an dessen Einstellung haben. Die Betroffenheit von einer – wie im vorliegenden Fall – allgemeinen Maßnahme hänge konkret von den Umständen des Einzelfalles ab, welche in der Natur bzw. Reichweite der Maßnahme, aber auch im Ausmaß der Beeinträchtigung liegen könnten.

Bereits das Verfassungsgericht habe aufgrund der besonderen Stellung von JournalistInnen in der öffentlichen Debatte zu aktuellen Themen und der Kontrolle der öffentlichen Meinung erkannt, dass diese – wie Mitglieder des Parlaments selbst – durch eine Maßnahme wie die vorliegende Informationssperre in ihrem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit verletzt sein könnten. Unter Verweis auf seine „public watchdog“-Rechtsprechung erkannte daher auch der EGMR die Beschwerde der bekannten Journalistin Banu Güven als zulässig an: Sie habe weder Informationen zur Thematik erhalten noch ihren fachlichen Kommentar dazu abgeben können. Der EGMR hob erneut auch die der Pressefreiheit inhärente Bedeutung des Zugangs zu Informationen für Medienschaffende hervor, ohne den eine abschreckende Wirkung auf die Durchführung von Recherchen im Allgemeininteresse gegeben sei.

Die beiden Universitätsangehörigen, Yaman Akdeniz und Kerem Altıparmak, hingegen hätten nicht ausreichend dargelegt, worin ihre spezifische Betroffenheit liege. Zwar seien sie – wie sämtliche TürkInnen – indirekt von der Informationssperre betroffen gewesen, ihre universitäre Arbeit sei jedoch zu keinem Zeitpunkt eingeschränkt gewesen: Weder seien sie daran gehindert gewesen, ihre (akademische) Meinung zu den Vorgängen zu teilen, noch hätten die Beschwerdeführer eine Einschränkung des Zugangs zu notwendigen Informationen geltend gemacht.

Keine hinreichende gesetzliche Grundlage (Art. 10 Abs. 2 EMRK)

Der EGMR hielt fest, dass eine Maßnahme, die die Veröffentlichung und Verbreitung von Informationen im Voraus untersagt, einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit darstellt. Die gegenständliche, beinahe umfassende, präventive Informationssperre in Bezug auf den parlamentarischen UsA habe bereits das türkische Verfassungsgericht im Juli 2019 für rechtswidrig erklärt, da die Rechtsnormen (Pressegesetz und Verfassung), die seitens der Behörden als gesetzliche Grundlage für den Eingriff angeführt wurden, nicht hinreichend vorhersehbar bzw. bestimmt gewesen seien. Der EGMR teilte diese Auffassung und stellte daher fest, dass die Informationssperre Banu Güven mangels hinreichender gesetzlicher Grundlage in ihrem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit verletzt hat.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).