Fachinfos - Judikaturauswertungen 07.02.2023

Unmöglichkeit rechtlicher Geschlechtsanerkennung verletzte Art. 8 EMRK

EGMR 1.12.2022, 57864/17 u.a., A.D. u.a. gg. Georgien

Die Anträge von drei Transgender-Männern (bei der Geburt weiblich zugeordnet) auf Änderung ihres Geschlechts im Personenstandsregister wurden von der georgischen Personenstandsbehörde und in weiterer Folge von den Gerichten abgelehnt, weil sie sich keiner operativen und irreversiblen Geschlechtsumwandlung unterzogen hatten. Sie erhoben Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und brachten insbesondere eine Verletzung in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens vor (Art. 8 EMRK). Der EGMR stellte eine Verletzung in diesem Recht fest: Die ungenaue Rechtslage in Georgien führe dazu, dass die rechtliche Geschlechtsanerkennung in der Praxis nicht möglich ist. Den Behörden werde damit ein übermäßiger Ermessensspielraum überlassen, der zu willkürlichen Entscheidungen führen könne. Dies stehe im Widerspruch zur Pflicht des beklagten Staates, schnelle, transparente und zugängliche Verfahren für die rechtliche Geschlechtsanerkennung bereitzustellen.

Sachverhalt

Die Beschwerdeführer, drei georgische Staatsangehörige, die Transgender-Männer sind (bei der Geburt weiblich zugeordnet), wurden 1979, 1988 bzw. 1973 geboren. Nach erfolgreichen Anträgen bei der Personenstandsbehörde zwischen 2011 und 2015 wurden ihre Vornamen im Personenstandsregister von traditionell weiblichen in traditionell männliche Namen geändert. Außerdem erhielten sie ärztliche Atteste von Psycholog:innen, die bei ihnen eine „Geschlechtsidentitätsstörung (Transsexualismus)“ diagnostizierten. Darauf gestützt beantragten sie jeweils die rechtliche Anerkennung des Geschlechts, d.h. die Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister von weiblich zu männlich. Zuvor hatten sich der zweite und dritte Beschwerdeführer einer Hormonbehandlung unterzogen, um den Testosteronspiegel zu erhöhen; der erste Beschwerdeführer hatte sich einer Mastektomie (chirurgische Entfernung von Brustgewebe) unterzogen. Ihre Anträge wurden von der Behörde jeweils mit der Begründung abgelehnt, sie hätten nicht nachgewiesen, sich einer chirurgischen Geschlechtsumwandlung unterzogen zu haben.

Auch die jeweiligen Berufungsgerichte kamen zu dem Ergebnis, dass die Selbstidentifizierung des Geschlechts nicht ausreiche. Das georgische Recht mache die Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister von einer (operativen und irreversiblen) Geschlechtsumwandlung abhängig. Der Oberste Gerichtshof wies die Rechtsmittel ebenfalls ab bzw. zurück. Die Zurückweisung begründete er damit, dass der dritte Beschwerdeführer kein ärztliches Attest vorgelegt hatte, das bescheinigte, dass die Hormonbehandlung irreversibel war. Außerdem anerkenne die Verfassung keine gleichgeschlechtlichen Ehen. Dürften aber Transgender-Personen ihr Geschlecht in ihren Ausweispapieren allein auf der Grundlage ihrer geschlechtlichen Selbstidentifikation ändern lassen, könnte dies zu Ehen von gleichgeschlechtlichen Paaren führen, was wiederum einen Verstoß gegen die Verfassung darstellen würde.

Die Beschwerdeführer brachten in ihrer Beschwerde an den EGMR vor, insbesondere in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden zu sein. Die unklare georgische Rechtslage verhindere, ihr Geschlecht im Personenstandsregister ändern zu lassen.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR habe in seiner Rechtsprechung zur rechtlichen Anerkennung des Geschlechts bereits festgestellt, dass von den Mitgliedstaaten erwartet wird, schnelle, transparente und zugängliche Verfahren zur Änderung des eingetragenen Geschlechts von Transgender-Personen bereitzustellen. Das Recht auf Änderung des Geschlechts im Personenstandsregister in Georgien sei nicht nur gesetzlich verankert, sondern werde auch als Teil des verfassungsmäßigen Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß Artikel 12 der Verfassung interpretiert. Obwohl ein solches Recht in Georgien seit 1998 bestehe, habe es offenbar keinen einzigen Fall einer erfolgreichen rechtlichen Geschlechtsanerkennung gegeben.

Dem EGMR zufolge liefert das innerstaatliche Recht und die Praxis keinen Hinweis auf die genaue Art der zu befolgenden medizinischen Verfahren. Zudem habe es im Fall des dritten Beschwerdeführers einen Widerspruch hinsichtlich der Hormonbehandlung gegeben: Nach dem Berufungsgericht habe der Abschluss einer Hormonbehandlung mit der daraus resultierenden Änderung der sekundären Geschlechtsmerkmale für eine rechtliche Geschlechtsanerkennung nicht ausgereicht. Der Oberste Gerichtshof habe das Gegenteil behauptet, insbesondere, dass ein ärztliches Attest ausreiche, das die „Unumkehrbarkeit“ der Hormonbehandlung bescheinigt.

Der EGMR stellte fest, dass die uneinheitliche Auslegung des innerstaatlichen Rechts durch die innerstaatlichen Gerichte zumindest teilweise dadurch bedingt war, dass das Gesetz selbst nicht ausreichend detailliert und präzise war. Die Ungenauigkeit der geltenden Rechtsvorschriften untergrabe die Verfügbarkeit der rechtlichen Geschlechtsanerkennung in der Praxis. Außerdem überlasse das Fehlen eines klaren Rechtsrahmens den innerstaatlichen Behörden einen übermäßigen Ermessensspielraum, der zu willkürlichen Entscheidungen führen könne. Eine solche Situation widerspreche grundsätzlich der Pflicht des Staates, schnelle, transparente und zugängliche Verfahren für die rechtliche Geschlechtsanerkennung bereitzustellen.

Der EGMR kam daher zu dem Schluss, dass die Beschwerdeführer ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt wurden.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (jeweils in englischer Sprache).