Fachinfos - Fachdossiers 08.07.2021

Veröffentlichung abweichender Meinungen von VerfassungsrichterInnen

Das Fachdossier zeigt auf, in welchen Staaten abweichende Meinungen von VerfassungsrichterInnen veröffentlicht werden, und beleuchtet Transparenz und Qualität solcher Entscheidungen.

In welchen Staaten werden abweichende Meinungen von VerfassungsrichterInnen veröffentlicht?

In Verfassungsgerichten werden abschließende Entscheidungen entweder in der Vollversammlung oder in Richtersenaten getroffen. Das setzt Beratungs- und Entscheidungsprozesse voraus, die Abstimmungen umfassen. In Europa gibt es zwei Modelle dafür: jenes, in dem der Beratungsverlauf und die Abstimmungsergebnisse geheim bleiben, und jenes, in dem (einzelne) RichterInnen eine abweichende Meinung formulieren können, die gemeinsam mit der Entscheidung des Gerichts veröffentlicht wird.

Österreich

Österreich gehört zur Gruppe der Staaten mit dem ersten Modell. Seit den 1960er-Jahren wird jedoch auch hier über die Einführung abweichender Meinungen diskutiert. Ein erster Gesetzentwurf wurde 1992 vom Bundeskanzleramt zur Begutachtung ausgesandt. 1998 befasste sich eine parlamentarische Enquete des Nationalrates damit, 2004 der Österreich-Konvent. Keiner der daraus entstandenen Vorschläge fand damals die für eine Mehrheit erforderliche Zustimmung. 2021 legte das Bundeskanzleramt einen Entwurf für die Abschaffung des Amtsgeheimnisses und der Einführung des Informationsfreiheitsgesetzes vor, der auch  einen Vorschlag für die Veröffentlichung von abweichenden Meinungen bei Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) enthält.

Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik

Verfassungsgerichtsbarkeit  bedeutet, dass Gerichte Gesetze und Handlungen staatlicher Organe am Maßstab der Verfassung beurteilen können. Ihre Verfahren und Entscheidungen stehen somit in großer Nähe zu politischen Auseinandersetzungen. In den USA wurde sie schon bald nach der Staatsgründung eingeführt und akzeptiert. In Europa wurde sie hingegen lange als Einmischung von Gerichten in Politik gesehen. Erst im Zuge der Entstehung der österreichischen und tschechoslowakischen Verfassungen 1919/20 wurden hier spezialisierte Verfassungsgerichte  geschaffen. Dieses sogenannte „österreichische Modell“ fand nach dem Zweiten Weltkrieg in über 60 Staaten Nachahmer. Es wurde gerade nach den Erfahrungen von Diktaturen, Faschismus und Krieg als Garant dafür gesehen, die politische Handlungsmacht von Regierungen, Verwaltung und Parlamenten zu begrenzen und die Grund- und Menschenrechte dauerhaft zu sichern.

Das besondere Verhältnis von Verfassungsgerichten und Politik hat der österreichische Jurist Hans Kelsen bereits 1928 in einer Weise erläutert, die bis heute prägend ist: Er betonte, dass in einem Verfassungsstaat alles Staatshandeln letztlich in rechtlicher Form erfolgt. Das schließt die parlamentarische Gesetzgebung ein. Wenn grundsätzlich jede Rechtsanwendung gerichtlich überprüft werden kann, dann muss das auch für die Gesetzgebung gelten. Zugleich betonte Kelsen, dass die Verfassung und Gesetze immer nur einen Rahmen für Entscheidungen bilden können. Somit kann jede rechtliche Entscheidung auch politische (im Sinne von „wertende“) Aspekte aufweisen. Folglich hat Kelsen gezeigt, dass Verfassungsgerichte immer auch ein politische Organe sind. Verfassungsgerichtsbarkeit war für ihn aber eine der Garantien dafür, dass politische Handlungsmacht im demokratischen Rechtsstaat begrenzt bleibt und diskutiert werden kann.

Entscheidungsfindung in Verfassungsgerichten

Gerade weil diese Nähe zur Politik besteht, setzen sich Wissenschaft und Praxis seit langem damit auseinander, was Organisation, Verfahrensregeln und Argumentationsweisen von Verfassungsgerichten über die Abgrenzung von Verfassungsgerichten und Politik aussagen. Eine besondere Herausforderung für Verfassungsgerichte besteht darin, dass sie auf Basis von Verfassungstexten entscheiden müssen, die nicht nur sehr alt, sondern oft auch sehr allgemein formuliert sind und daher der Auslegung bedürfen. Dennoch müssen ihre Entscheidungen für den aktuellen Fall und dessen Umstände zutreffend sein, die bestehende Rechtsprechung des Gerichts berücksichtigen, auf Erwartungen eingehen, welche die Öffentlichkeit an Gerichte und das Rechtssystem hat (wie z.B. Objektivität und Unparteilichkeit), und dafür sorgen, dass die Begründung einer Entscheidung verständlich ist. Daher kommt der Art und Weise, wie Entscheidungen zustande kommen und veröffentlicht werden, eine große Bedeutung zu.

Weltweit haben sich drei Grundmodelle durchgesetzt, innerhalb derer Verfassungsgerichte versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden:

Das älteste Modell ist die sogenannte Seriatim-Methode, die aus dem englischen Recht stammt. Dabei gibt jedes Mitglied des Gerichts separat seine Entscheidung und die dazugehörige Begründung ab. Aus einer Zusammenschau dieser Meinungen erfolgt das Urteil.

Das zweite Modell wurde 1801 am US Supreme Court eingeführt. Demzufolge gelangen die Mitglieder des Gerichts gemeinsam und im Zuge einer Abstimmung zu einer Entscheidung. Jene Mitglieder, die der Mehrheitsentscheidung nicht zustimmen, müssen ihre eigene Meinung öffentlich darlegen. Das betrifft sowohl konkurrierende Meinungen (concurring opinions), bei der die/der RichterIn zwar die Entscheidung mitträgt, diese aber anders begründet, als auch abweichende Meinungen (dissenting opinions), bei der die/der RichterIn die Entscheidung nicht mitträgt.

Das dritte Modell zeichnet sich dadurch aus, dass zwar ebenfalls mit Mehrheit entschieden wird. Die Öffentlichkeit erfährt allerdings nur die Entscheidung des Gerichts inklusive einer gemeinsamen Begründung, nicht aber das Abstimmungsverhalten und etwaige andere Meinungen der einzelnen RichterInnen.

In den meisten Ländern mit angloamerikanisch geprägten Rechtsordnungen folgen alle Gerichte dem zweiten hier erläuterten Modell nach dem Vorbild des US Supreme Courts. In Kontinentaleuropa ist die Formulierung und Veröffentlichung von abweichenden Meinungen in der Regel nur bei Verfassungsgerichten vorgesehen (nur in Estland und Spanien gibt es sie auch bei anderen Höchstgerichten). Im Unterschied zum US-amerikanischen Modell sind RichterInnen allerdings nicht dazu verpflichtet, ihre Meinung zu veröffentlichen, wenn sie nicht der Mehrheit zustimmen.

Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen es gar nicht möglich ist, eine Meinung zu veröffentlichen, die nicht der Mehrheitsmeinung entspricht (siehe Grafik „Veröffentlichung abweichender Meinungen: Verfassungsgerichte und Höchstgerichte“). Details über die Entscheidungsfindung und das Abstimmungsergebnis werden nur intern festgehalten (§ 36 Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes). Auch der Name der Referentin/des Referenten, die/der eine Entscheidung vorbereitet hat, wird nicht veröffentlicht. Die Bekanntgabe des Stimmverhaltens kann einen Bruch der Amtsverschwiegenheit darstellen. Bei (Ersatz-)Mitgliedern des VfGH kann sie sogar zum Amtsverlust führen. Schon bei der parlamentarischen Enquete 1998 wiesen Mitglieder des VfGH darauf hin, dass die Vorgehensweise in Österreich eine ausschließlich juristische Argumentation sicherstellen und ein einheitliches Auftreten des Gerichts absichern würde. Auch gegenwärtig zeigt sich der VfGH skeptisch gegenüber der Möglichkeit, abweichende Meinungen zu veröffentlichen. So argumentierte der Präsident des VfGH Christoph Grabenwarter in der ORF Pressestunde vom 21.3.2021, dass der VfGH der Öffentlichkeit in grundlegenden gesellschaftspolitischen Fragen eine Begründung für seine Entscheidung liefern müsse, nach der sich diese ausrichten kann. Würde ein/e RichterIn eine abweichende Meinung publizieren, würde das nicht zu mehr Rechtssicherheit führen.

Gründe für die Veröffentlichung abweichender Meinungen

Wie die Grafik „Veröffentlichung abweichender Meinungen: Verfassungsgerichte und Höchstgerichte“ zeigt, besteht gegenwärtig in der Mehrzahl der europäischen Verfassungsgerichte die Möglichkeit, abweichende Meinungen zu einer Entscheidung öffentlich abzugeben. Als Vorreiter gilt das deutsche Bundesverfassungsgericht, an dem dieses sogenannte Sondervotum 1970 eingeführt wurde. Verfassungsgerichte, die diesem Beispiel folgten, sind vor allem jene, die erst nach dem Übergang eines Staats zur Demokratie eingerichtet wurden.

Quelle: European Commission for Democracy through Law (Venice Commission), On separate opinions of constitutional courts, Stand 8.7.2021, eigene Darstellung.

Die Argumente für und gegen Sondervoten sind einander oft sehr ähnlich. Dementsprechend können sie letztlich nur in konkreten Zusammenhängen dargestellt und verstanden werden. Dabei geht es um das Verständnis von Recht und Verfassung, das spezifische politische System sowie die öffentliche Wahrnehmung und Glaubwürdigkeit von Verfassungsgerichten. Besondere Bedeutung kommt dabei auch der Besetzung von Verfassungsgerichten durch PräsidentInnen, Regierungen und Parlamente zu.

Als ein Argument für Sondervoten wird in erster Linie Transparenz ins Treffen geführt. Dadurch würde Spekulationen über politische oder wirtschaftliche Abhängigkeiten vorgebeugt und die Unabhängigkeit von RichterInnen gestärkt.  Dem gegenüber steht die Überlegung, dass die Veröffentlichung abweichender Meinungen Auswirkungen auf die weitere Karriere von RichterInnen haben könnten, weswegen sie erst recht nicht unbeeinflusst entscheiden könnten. Letzteres würde vor allem dann zutreffen, wenn Mitglieder von Verfassungsgerichten ihre Funktion nur auf bestimmte Zeit (üblicherweise zwischen 9 und 12 Jahre) ausüben. Die Ernennung auf Lebenszeit bzw. bis zu einem Höchstalter wie in Österreich (70 Jahre) bildet die Ausnahme.

Ein weiteres Argument betont, dass Transparenz die Qualität der Entscheidungen positiv beeinflussen könnte: Demnach müsse eine Entscheidung von der dahinter stehenden Mehrheit umso genauer begründet werden, wenn abweichende Meinungen veröffentlicht würden. Dadurch könne die juristische Auseinandersetzung insgesamt gestärkt sowie mögliche Alternativen aufgezeigt werden. Aber auch in diesem Fall gibt es die gegenteilige Auffassung, wonach die Möglichkeit der Veröffentlichung von abweichenden Meinungen die Qualität der Entscheidung eher beeinträchtigen würde. Aus dieser Perspektive sei die Begründung einer Entscheidung qualitativ hochwertiger, wenn auch jene RichterInnen daran mitarbeiten, die (anfangs) dazu tendieren, entgegen der Mehrheitsmeinung zu stimmen.

Verfassungsgerichte in politischen und öffentlichen Auseinandersetzungen

Aus sozial- und vor allem politikwissenschaftlicher Sicht wird in jüngster Vergangenheit darauf verwiesen, dass die Einführung von Sondervoten verstärkt  im Licht politischer Debatten gesehen werden müsse. Entsprechende Studien können diesbezüglich auf Erfahrungen aus Staaten verweisen, in denen Sondervoten und/oder intensive Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Politik und Gerichten häufiger vorkommen. Die Grafik „Entscheidungen des Deutschen Bundesverfassungsgerichtes und des US Supreme Court mit abweichenden Meinungen“ zeigt einen Vergleich der Häufigkeit von Sondervoten zwischen Deutschland und den USA. Sie machen darauf aufmerksam, dass Gerichtshöfe und RichterInnen ebenso Teil gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen und Auseinandersetzungen sind wie andere Institutionen und Akteure.

Quelle: Bundesverfassungsgericht - Jahresstatistik 2019 (Deutschland), The Supreme Court Database (USA), Stand 8.7.2021, eigene Darstellung.

Ein Beispiel sind Dynamiken im US-amerikanischen Supreme Court, dessen RichterInnen von der/dem amtierenden PräsidentIn nominiert und, nach Zustimmung durch den Senat, auf Lebenszeit ernannt werden. Eine Untersuchung von Entscheidungen seit 1937 zeigt, dass RichterInnen viel eher dazu tendieren, eine abweichende Meinung zu formulieren, wenn sie sich einer besonders großen Mehrheit von Richtern und Richterinnen gegenüber sehen, die von einem Präsidenten der anderen Partei nominiert wurden. Sie nutzen diese Option in der Regel also dazu, um ihrer politischen Meinung öffentlich besonderen Nachdruck zu verleihen. Zu ähnlichen Erkenntnissen kommen wissenschaftliche Untersuchungen in Fällen, die höhere öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. So tendieren Gerichte in den USA viel stärker zu konsensualen Entscheidungen in Fällen, die zum Beispiel das Strafrecht, Schadenersatzansprüche oder Beschwerdebefugnisse betreffen, als in Fragen des Abtreibungsrechts oder der Todesstrafe.

Andere Beispiele weisen hingegen darauf hin, dass große öffentliche Aufmerksamkeit unter anderen Umständen auch zu Konsensbildung beitragen kann, vor allem wenn dabei auch die Rolle oder Zuständigkeit des Gerichtshofes selbst zur Diskussion steht. Das zeigt ein Vergleich zwischen Entscheidungsfindungen des spanischen Verfassungsgerichtshofes (Tribunal Constitucional) und des spanischen Obersten Gerichtshofes (Tribunal Supremo). Der Verfassungsgerichtshof befasst sich in erster Linie mit Fragen der Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Nationalstaat und einzelnen Regionen (vor allem Katalonien und dem Baskenland). Anliegen, die von regionalen nationalistischen Parteien vor ihm eingebracht werden, stellen üblicherweise bestehende Kompetenzverteilungen und damit zumindest indirekt auch dessen Zuständigkeit infrage. In diesen Fällen fallen Entscheidungen ungleich häufiger einstimmig als in Fällen vor dem Obersten Gerichtshof, die sich mit Fragen des Zivil-, Straf-, Sozial- und Militärrechts auseinandersetzen.

Die Möglichkeit, eine abweichende Meinung zu formulieren und zu publizieren – und damit auch die Option, von dieser Möglichkeit nicht Gebrauch zu machen –, kann unter bestimmten Umständen Teil politischer Auseinandersetzungen werden. In Zeiten politischer Unsicherheit wird diese Möglichkeit durchaus genutzt, um die Legitimität des Gerichtshofes bzw. der amtierenden RichterInnen infrage zu stellen. Darauf weist eine Untersuchung der abweichenden Meinungen im polnischen Verfassungsgericht hin: RichterInnen, die von der seit 2015 in Polen allein regierenden Partei ernannt wurden, konzentrieren sich in ihren abweichenden Meinungen vor allem auf rechtliche und prozedurale Verfehlungen des Gerichts, der RichterInnen sowie der Entscheidungsfindungen selbst. Dabei verweisen sie auch auf ältere, längst entschiedene Fälle, die aus politischen Gründen wichtig für sie sind.

In der Politikwissenschaft wurde lange angenommen, dass die öffentliche Unterstützung und damit die Legitimität von Entscheidungen höher sei, wenn sie einstimmig getroffen werden. Neueste Studien zeigen jedoch, dass das gerade in Fällen von großer politischer Bedeutung nicht unbedingt der Fall sein muss. Der Großteil der Bevölkerung geht davon aus, dass unterschiedliche Meinungen auch innerhalb der Richterschaft repräsentiert sein müss(t)en. In diesem Sinne können transparente und gut begründete Entscheidungsfindungen diese Differenzen abbilden und damit sowohl bei BefürworterInnen als auch bei GegnerInnen einer Entscheidung zu einer höheren Glaubwürdigkeit des Gerichts beitragen. Würde die Entscheidung allerdings trotz abweichender Meinungen unzureichend begründet, könnte Dissens wiederum zum Vertrauensverlust bei den BürgerInnen beitragen.

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