Gerade weil diese Nähe zur Politik besteht, setzen sich Wissenschaft und Praxis seit langem damit auseinander, was Organisation, Verfahrensregeln und Argumentationsweisen von Verfassungsgerichten über die Abgrenzung von Verfassungsgerichten und Politik aussagen. Eine besondere Herausforderung für Verfassungsgerichte besteht darin, dass sie auf Basis von Verfassungstexten entscheiden müssen, die nicht nur sehr alt, sondern oft auch sehr allgemein formuliert sind und daher der Auslegung bedürfen. Dennoch müssen ihre Entscheidungen für den aktuellen Fall und dessen Umstände zutreffend sein, die bestehende Rechtsprechung des Gerichts berücksichtigen, auf Erwartungen eingehen, welche die Öffentlichkeit an Gerichte und das Rechtssystem hat (wie z.B. Objektivität und Unparteilichkeit), und dafür sorgen, dass die Begründung einer Entscheidung verständlich ist. Daher kommt der Art und Weise, wie Entscheidungen zustande kommen und veröffentlicht werden, eine große Bedeutung zu.
Weltweit haben sich drei Grundmodelle durchgesetzt, innerhalb derer Verfassungsgerichte versuchen, diesen Anforderungen gerecht zu werden:
Das älteste Modell ist die sogenannte Seriatim-Methode, die aus dem englischen Recht stammt. Dabei gibt jedes Mitglied des Gerichts separat seine Entscheidung und die dazugehörige Begründung ab. Aus einer Zusammenschau dieser Meinungen erfolgt das Urteil.
Das zweite Modell wurde 1801 am US Supreme Court eingeführt. Demzufolge gelangen die Mitglieder des Gerichts gemeinsam und im Zuge einer Abstimmung zu einer Entscheidung. Jene Mitglieder, die der Mehrheitsentscheidung nicht zustimmen, müssen ihre eigene Meinung öffentlich darlegen. Das betrifft sowohl konkurrierende Meinungen (concurring opinions), bei der die/der RichterIn zwar die Entscheidung mitträgt, diese aber anders begründet, als auch abweichende Meinungen (dissenting opinions), bei der die/der RichterIn die Entscheidung nicht mitträgt.
Das dritte Modell zeichnet sich dadurch aus, dass zwar ebenfalls mit Mehrheit entschieden wird. Die Öffentlichkeit erfährt allerdings nur die Entscheidung des Gerichts inklusive einer gemeinsamen Begründung, nicht aber das Abstimmungsverhalten und etwaige andere Meinungen der einzelnen RichterInnen.
In den meisten Ländern mit angloamerikanisch geprägten Rechtsordnungen folgen alle Gerichte dem zweiten hier erläuterten Modell nach dem Vorbild des US Supreme Courts. In Kontinentaleuropa ist die Formulierung und Veröffentlichung von abweichenden Meinungen in der Regel nur bei Verfassungsgerichten vorgesehen (nur in Estland und Spanien gibt es sie auch bei anderen Höchstgerichten). Im Unterschied zum US-amerikanischen Modell sind RichterInnen allerdings nicht dazu verpflichtet, ihre Meinung zu veröffentlichen, wenn sie nicht der Mehrheit zustimmen.
Österreich ist eines der wenigen Länder, in denen es gar nicht möglich ist, eine Meinung zu veröffentlichen, die nicht der Mehrheitsmeinung entspricht (siehe Grafik „Veröffentlichung abweichender Meinungen: Verfassungsgerichte und Höchstgerichte“). Details über die Entscheidungsfindung und das Abstimmungsergebnis werden nur intern festgehalten (§ 36 Geschäftsordnung des Verfassungsgerichtshofes). Auch der Name der Referentin/des Referenten, die/der eine Entscheidung vorbereitet hat, wird nicht veröffentlicht. Die Bekanntgabe des Stimmverhaltens kann einen Bruch der Amtsverschwiegenheit darstellen. Bei (Ersatz-)Mitgliedern des VfGH kann sie sogar zum Amtsverlust führen. Schon bei der parlamentarischen Enquete 1998 wiesen Mitglieder des VfGH darauf hin, dass die Vorgehensweise in Österreich eine ausschließlich juristische Argumentation sicherstellen und ein einheitliches Auftreten des Gerichts absichern würde. Auch gegenwärtig zeigt sich der VfGH skeptisch gegenüber der Möglichkeit, abweichende Meinungen zu veröffentlichen. So argumentierte der Präsident des VfGH Christoph Grabenwarter in der ORF Pressestunde vom 21.3.2021, dass der VfGH der Öffentlichkeit in grundlegenden gesellschaftspolitischen Fragen eine Begründung für seine Entscheidung liefern müsse, nach der sich diese ausrichten kann. Würde ein/e RichterIn eine abweichende Meinung publizieren, würde das nicht zu mehr Rechtssicherheit führen.