LVwG Vorarlberg 4.9.2023, LVwG-1-410/2023-R7 und LVwG Vorarlberg 1.12.2023, LVwG-1-421/2023-R10
Das LVwG Vorarlberg hob – mit ähnlicher Begründung wie bereits zuvor das LVwG Tirol in einem vergleichbaren Fall – in zwei Fällen die angefochtenen Straferkenntnisse der Bezirkshauptmannschaft (BH) Bregenz betreffend eine nicht angezeigte Versammlung im Sitzungssaal des Vorarlberger Landtages auf. Zwar sei eine Versammlung im Sinne von Art. 11 EMRK, Art. 12 StGG und des Versammlungsgesetzes 1953 (VersG) vorgelegen, die grundsätzlich gemäß § 2 Abs. 1 VersG anzeigepflichtig gewesen wäre. Allerdings sei das Verhalten der Beschwerdeführerinnen, denen im Übrigen weder eine individuelle noch eine kollektive Veranstalter:inneneigenschaft zugekommen sei, in der betreffenden Sitzung im Dezember 2022 schon durch die Ausübung der Sitzungspolizei durch den Landtagspräsidenten beendet worden, weshalb für nachträgliche Bestrafungen nach dem VersG kein Raum bleibe. Zudem verbiete § 7 VersG nur Versammlungen "unter freiem Himmel", nicht im Sitzungssaal selbst.
Konkret wurde zur sogenannten Bannmeilenregelung in § 7 VersG (in beiden der genannten Entscheidungen) sowie zur Ausübung der Sitzungspolizei durch den Landtagspräsidenten (insbesondere in der Entscheidung vom 4. September 2023) ausgeführt:
Gemäß § 7 VersG darf, während der Nationalrat, der Bundesrat, die Bundesversammlung oder ein Landtag versammelt ist, im Umkreis von 300 Metern von ihrem Sitze keine Versammlung unter freiem Himmel stattfinden. Eine Bestrafung wegen Übertretung dieser Regelung komme bei einer Versammlung im Sitzungssaal eines Landtages jedoch schon auf Grund des eindeutigen Wortlautes nicht in Betracht. Verboten seien nur Versammlungen "unter freiem Himmel", nicht im Sitzungssaal selbst. Dies ergebe sich auch aus den Gesetzesmaterialien, denen zufolge der Hintergrund der Bannmeilenregelung die Befürchtung sei, dass, sollte eine in unmittelbarer Nähe eines gesetzgebenden Organs durchgeführte Versammlung außer Kontrolle geraten, nicht zeitgerecht ausreichend Sicherheitsorgane herbeigeführt werden könnten, um ein Eindringen von Demonstrant:innen in den Sitzungssaal zu verhindern (Hinweis auf RV 874 d.B. XI. GP). Zudem ergebe sich aus der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfGH), dass die 300-Meter-Zone gemäß § 7 VersG nicht vom Mittelpunkt des Sitzungssaals, sondern von der Außengrenze des Gebäudes aus zu messen sei (Hinweis auf VfSlg. 14.365/1995).
Gemäß § 15 Abs. 2 zweiter Satz der Geschäftsordnung für den Vorarlberger Landtag (GO-LT) obliegt dem Präsidenten insbesondere die Ausübung der Sitzungspolizei und des Hausrechts in den Räumen des Landtages. Er hat für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Sitzungssaal und in den Räumen des Landtages zu sorgen und kann die Räumung des Zuhörerraumes oder die Entfernung einzelner Ruhestörer verfügen (§ 44 Abs. 7 GO-LT). Die Protestaktion habe im Sitzungssaal und somit innerhalb der Räumlichkeiten des Landtages stattgefunden. Die Beschwerdeführerinnen hätten als Besucherinnen den Ablauf der betreffenden Sitzung derart gestört, dass sie zunächst aufgefordert worden seien, die Besuchergalerie zu verlassen und letztlich gemäß § 44 Abs. 7 GO-LT aus dem Sitzungssaal entfernt wurden. Die angefochtenen Straferkenntnisse der BH Bregenz würden das Verhalten der Beschwerdeführerinnen nach dem VersG ahnden, obwohl dieses bereits im Rahmen der durch die GO-LT abschließend geregelten Ausübung der Sitzungspolizei eingestellt worden sei. Für eine nachträgliche Bestrafung nach dem VersG bleibe aber in Fällen wie den vorliegenden kein Raum. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des VfGH, der dies in Bezug auf eine nachträgliche Bestrafung wegen Störung der öffentlichen Ordnung gemäß § 81 des Sicherheitspolizeigesetzes während einer Sitzung des Nationalrates ausdrücklich ausgesprochen habe (Hinweis auf VfSlg. 19.990/2015).
Hinsichtlich der Entscheidung vom 1. Dezember 2023 wurde vom LVwG Vorarlberg die Erhebung einer ordentlichen Revision zugelassen, da Rechtsprechung zu der Frage fehle, ob die Veranstaltereigenschaft insbesondere bei kleineren Versammlungen wie der vorliegenden – wie in den Straferkenntnissen der BH Bregenz vertreten worden war – auch auf das Kollektiv, also auf alle Beteiligten ausgedehnt werden könne. Der Verwaltungsgerichtshof wies eine in diesem Zusammenhang von der BH Bregenz erhobene Amtsrevision mit Beschluss vom 8. April 2024, Ro 2024/01/0001, zurück.
Vgl. zu diesen Verfahren die Volltexte der Entscheidungen (hier und hier).