Fachinfos - Fachdossiers 23.02.2022

Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit als Grundwert der EU?

Das Fachdossier beschäftigt sich mit einem zentralen Grundwert, auf den sich die Europäische Union stützt: jenen der Rechtsstaatlichkeit. (Erstveröffentlichung am 23.02.2022, ergänzt um eine weitere Quelle des Europäischen Parlaments am 21.07.2022)

Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit als Grundwert der EU?

Die Rechtsstaatlichkeit ist einer der Grundwerte der Europäischen Union (EU). Ihre Sicherstellung ist Voraussetzung, um EU-Mitglied werden zu können. Seit ca. 2015 nahmen Konflikte zwischen den EU-Organen, Ungarn, Rumänien und Polen darüber zu. Im Zentrum stehen vor allem die Weigerung Polens, zahlreichen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) Folge zu leisten, und die Reaktion der EU auf Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit. Am 16.2.2022 hat der EuGH dazu eine wichtige Entscheidung getroffen und bestätigt, dass EU-Mittel für Mitgliedstaaten gekürzt werden dürfen, wenn rechtsstaatliche Grundsätze missachtet werden. Dieses Fachdossier nimmt diese Entwicklungen zum Anlass, um einen Überblick über das Verhältnis von Rechtsstaat und Unionsrecht zu geben. Ein weiteres Fachdossier geht besonders auf die damit zusammenhängende Rechtsprechung des Deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts ein und erläutert auch die Sichtweise des österreichischen Verfassungsgerichtshofs.

Was ist ein Rechtsstaat?

In einem Rechtsstaat soll alles staatliche Handeln eine rechtliche Grundlage haben und durch Recht begrenzt sein. Das heißt, dass Staatsorgane nie willkürlich handeln dürfen und dass jede ihrer Handlungen an rechtliche Regelungen und Prinzipien gebunden ist. In einem Rechtsstaat soll weder ein Staatsorgan noch das das Volk souverän – im Sinne von ungebunden – entscheiden dürfen. Der Rechtsstaat ist also mehr als ein bloßer Gesetzesstaat, in dem es nur darauf ankommt, dass Regelungen in Form von Gesetzen bestehen. Im Rechtsstaat sind auch der Gesetzgebung selbst Grenzen gesetzt.

Die Venedig-Kommission des Europarats, ein ExpertInnengremium, dem eine zentrale Rolle in der Bewertung und Sicherung des Rechtsstaats in Europa zukommt, erstellte im Report on the Rule of Law 2011 eine Checkliste für Rechtsstaatlichkeit:

Tabelle 1: Checkliste der Venedig-Kommission

Kriterium (engl. Bezeichnung) Wesentliche Inhalte
Gesetzmäßigkeit (Legality) Vorrang des Gesetzes; transparente und faire Gesetzgebungsverfahren; Gewaltenteilung
Rechtssicherheit (Legal Certainty) Zugänglichkeit von Gesetzen und Gerichtsentscheidungen; Vorhersehbarkeit; Vertrauensschutz; Rückwirkungsverbot
Verbot von Willkür (Prohibition of Arbitrariness) Klare Kriterien für Ermessensentscheidungen; Überprüfungsverfahren
Zugang zur Justiz; „Justizgewährung“ (Access to Justice) Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte und Richter:innen; Autonomie und Kontrolle der Staatsanwaltschaft; faire Verfahren
Nichtdiskriminierung und Gleichheit vor dem Gesetz (Non-discrimination and Equality before the Law) Verankerung in der Verfassung; Gleichheit im Gesetz und vor dem Gesetz
Respekt für Menschenrechte (Respect for Human Rights)

Das Konzept des modernen Rechtsstaats wurde nach 1945 entwickelt. Nach den Erfahrungen von Faschismus, Diktatur und Totalitarismus sollte er Grundlage und Absicherung von Demokratie und Menschenrechten sein. Um das innerhalb der Nationalstaaten zu garantieren, wurden – nach dem Vorbild Österreichs – vielerorts Verfassungsgerichte geschaffen. Zugleich sollte der Zusammenschluss von Staaten in Organisationen wie z. B. dem Europarat Rechtsstaatlichkeit durch Zusammenarbeit und gegebenenfalls Entscheidungen internationaler Gerichte sichern.

Wie hängen Rechtsstaat und europäische Integration zusammen?

Die heutige EU geht auf die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, gegründet 1951), die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM, gegründet 1957) zurück. Ihr unmittelbares Ziel war die Schaffung eines gemeinsamen Markts. Dieser sollte mittelbar zur Sicherung von Frieden in (West-)Europa führen. Eine zentrale Bedingung für den Markt war die einheitliche Anwendung der gemeinsamen Vorschriften.

Für die Sicherstellung der einheitlichen Rechtsanwendung sahen die Gemeinschaftsverträge keine Regelung vor. Ein Grund dafür war, dass jede Ähnlichkeit mit einem Bundesstaat vermieden werden sollte. Es lag am Europäischen Gerichtshof (EuGH), solche Regeln zu finden. 1963 stellte dieser in der Entscheidung Van Gend en Loos fest, dass das Gemeinschaftsrecht (heute: Unionsrecht) in den Mitgliedstaaten unmittelbar gelten kann.

In der Entscheidung Costa v. E.N.E.L. definierte der EuGH 1964 das Vorrangsprinzip: Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) hat Vorrang vor staatlichem Recht. Demnach darf nationales Recht der Mitgliedstaaten, das dem Unionsrecht widerspricht, in Fällen mit Unionsbezug nicht angewendet werden. Es tritt aber nicht außer Kraft. Zur Feststellung, ob ein solcher Fall vorliegt, kann sich jedes Gericht eines Mitgliedstaats an den EuGH wenden (Vorabentscheidungsverfahren). Das Prinzip wurde so zum Teil des Acquis communautaire. Es gehört also zum gemeinsamen Rechtsbestand von EU und Mitgliedstaaten. Im Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa 2004 sollte das Vorrangprinzip ausdrücklich verankert werden. Dieser Vertrag trat jedoch nicht in Kraft. Im Vertrag von Lissabon 2007, der bis heute die Grundlage der Union bildet, wird das Prinzip in der politischen Erklärung Nr. 17 bestätigt. Diese Form der Anerkennung zeigt, dass es nach wie vor Vorbehalte der Mitgliedstaaten gibt, das Prinzip festzuschreiben. Es würde, wie der Historiker Morten Rasmussen betont, für etliche von ihnen bedeuten, dass die EU ähnlich wie ein Staat verfasst wäre (wenngleich es dafür noch weiterer Regeln als nur jener des Vorrangs bedürfte). Das Verständnis dieses Prinzips wird so zentral für die Gestaltung des Verhältnisses von EU und Mitgliedstaaten.

Ab den 1980er-Jahren wurde die Etablierung und Sicherung von Rechtsstaatlichkeit zum Fokus der Integration. Damit sollten die neuen Mitglieder Griechenland, Portugal und Spanien, die bis in die 1970er-Jahre diktatorisch regiert worden waren, unterstützt werden. Somit traten die Inhalte, die traditionell mit einer Staatsverfassung verbunden werden – Demokratie, Grundrechte, Rechtsschutz –, in den Vordergrund. 1993 wurden die Kopenhagener-Kriterien definiert, die jeder EU-Beitrittswerber erfüllen muss. Für den Fall, dass es zu Problemen mit Rechtsstaatlichkeit kommt, wollte man zunächst auf politische Weise reagieren. Die weitere Entwicklung prägten die Sanktionen anderer Mitgliedstaaten gegen Österreich wegen der FPÖ-Regierungsbeteiligung 2000. Der sogenannte „Weisenbericht“ darüber wurde zum Ausgangspunkt für ein differenziertes System des Schutzes von Rechtsstaatlichkeit im Unionsrecht.

Wie sichert die EU die Rechtsstaatlichkeit?

Art. 2 EUV bestimmt Rechtsstaatlichkeit als einen der Grundwerte der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Damit enthalten die EU-Verträge klare Vorgaben für die Verfassungen der Mitgliedstaaten. Art. 7 EUV sieht ein mehrstufiges Verfahren im Fall der „Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ (Fall 1) bzw. einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ (Fall 2) dieser Werte in einem Mitgliedstaat vor. Dazu bedarf es eines Vorschlags entweder eines Drittels der Mitgliedstaaten, der Kommission bzw. im Fall 1 auch des Europäischen Parlaments (EP). Die Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung muss im Rat mit einer 4/5-Mehrheit, eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung muss einstimmig (jedoch ohne das betroffene Mitglied) festgestellt werden. Wurde eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung festgestellt, so kann der Rat in weiterer Folge mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte des betroffenen Mitgliedstaats auszusetzen (z. B. Stimmrechte im Rat). Unabhängig davon kann die Kommission als Hüterin der Verträge ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV einleiten, um Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit zu rügen.

Da Art.-7-Verfahren als „letztes Mittel“ gelten, wurden weitere Instrumente geschaffen, die schon davor greifen sollen. Dazu gehören der EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips und der Rechtsstaatsmechanismus. Letzterer hat vor allem deshalb Bedeutung, weil er die Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit mit der Auszahlung von EU-Mitteln an betroffene Mitgliedstaaten verknüpft (auf Basis der sogenannten Konditionalitätsverordnung 2021). Seit 2020 erstellt die Kommission einen Rechtsstaatlichkeitsbericht, mit dem der Dialog über Stand und Perspektiven des Rechtsstaats gefördert werden soll. Bereits 2018 definierte der EuGH Art. 19 EUV als zentralen Maßstab für die Bewertung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten. Dieser Artikel regelt eigentlich die Gerichtsbarkeit der EU. Der EuGH betont jedoch, dass die Wirkung des Unionsrechts nur gewährleistet werden kann, wenn auch die Mitgliedstaaten alle Voraussetzungen für Rechtsstaatlichkeit sichern. Damit betont er auch in diesem Bereich das Vorrangprinzip. Jedes Gericht in der EU kann sich nun in einem konkreten Fall an den EuGH wenden und fragen, ob diese Vorgaben in einem Mitgliedstaat gewährleistet sind (Rechtssache C-64/16).

Worum geht es im Konflikt zwischen der EU und Polen?

Vor allem in den Konflikten zwischen der EU und Polen kommen alle Entwicklungslinien – Rechtsstaat und Demokratie, Vorrang des Unionsrechts und die EU als Garantin von Rechtsstaatlichkeit – zusammen. Zur Diskussion steht, welche Verbindlichkeit die Grundwerte der EU für die Mitgliedstaaten haben und wie Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt werden kann. Viele BeobachterInnen sehen diese Auseinandersetzung als entscheidend für die Zukunft der EU und stellen auch die Frage, ob Rechtsmittel und Sanktionen allein für eine Lösung ausreichen.

Im Hintergrund stehen jahrzehntelange Konflikte in Polen über die Zusammensetzung der Gerichte nach dem Ende des Kommunismus. Kurz vor den Wahlen 2015 wurde ein Gesetz erlassen, um neue Mitglieder des Verfassungsgerichts zu ernennen, obwohl noch nicht alle Amtszeiten abgelaufen waren. Sofort nach den Wahlen erließ die neue, PiS-geführte Regierung ein Gesetz, das die Richterbesetzung abermals änderte. In der Folge wurden weitere Veränderungen des Justizsystems vorgenommen und insb. ein Disziplinarsystem eingerichtet. Es führt nach Ansicht der Venedig-Kommission, der Kommission und des EP, des EuGH und des EGMR (siehe Tabelle 2) dazu, dass nicht mehr klar ist, ob die Gerichte in Polen verfassungsgemäß zusammengesetzt sind. Ebenso wird der Einfluss von Legislative und Regierung auf die Besetzung der Richterstellen als so groß angesehen, dass nicht mehr von unabhängigen und unparteiischen Gerichten gesprochen werden könne.

Aus Sicht der EU-Organe werden der Grundwert der Rechtsstaatlichkeit in Polen und die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung und Rechtssicherheit in der EU insgesamt infrage gestellt. Kommission und EP drängen seit 2016 darauf, zu reagieren. 2017 beantragte die Kommission ein Art.-7-Verfahren wegen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Während die Entscheidung darüber aussteht, wurde 2020 der neue Rechtsstaatsmechanismus (siehe oben) und die Kürzung von Haushaltsmitteln angedroht. Die Kommission leitete mehrere Vertragsverletzungsverfahren ein. Auch der österreichische Nationalrat und Bundesrat befassten sich mehrfach mit diesen Fragen (z. B. EU-Ausschuss des Bundesrates am 14.3.2019 oder EU-Unterausschuss des Nationalrates am 6.7.2021).

Da politische Lösungen wegen mangelnder Einigkeit im Rat ausstehen, verlagerte sich der Konflikt auf die rechtliche Ebene. Polen und Ungarn bestritten, dass der neue Rechtsstaatsmechanismus dem Unionsrecht entspricht. Am 16.2.2022 hat der EuGH diesen jedoch bestätigt (Rechtssache C-156/21 und C-157/21) und festgestellt, dass die Verknüpfung von EU-Haushalt und Rechtsstaatlichkeit zulässig ist: Demnach ist der EU-Haushalt eines der wichtigsten Instrumente der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Wenn ein Mitgliedstaat gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstößt, kann unter Umständen keine Gewähr bestehen, dass Ausgaben und Finanzierung durch EU-Mittel rechtmäßig erfolgen. Außerdem haben Gerichte der Mitgliedstaaten sowie Polens den EuGH in Vorabentscheidungsfragen zur Feststellung der Vereinbarkeit polnischen Rechts und Unionsrechts ersucht (siehe Tabelle 2). Parallel dazu haben sich polnische RichterInnen vor allem wegen Disziplinarmaßnahmen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewandt. Alle diese Gerichte sehen die Rechtsstaatlichkeit in Polen nicht mehr gewährleistet. Der EuGH verpflichtete Polen am 27.10.2021 mit einstweiligen Anordnungen sogar zur Zahlung eines Bußgelds von täglich 1 Mio. Euro.

Schon zuvor ersuchte die polnische Regierung den polnischen Verfassungsgerichtshof, die Vereinbarkeit von Unionsrecht und polnischem Verfassungsrecht zu prüfen. Am 7.10.2021 verneinte das Gericht diese in wesentlichen Teilen und hielt fest, dass die polnische Verfassung Vorrang gegenüber allen anderen Rechtsnormen habe. Seiner Meinung nach könne der Konflikt zwischen der EU und Polen nur dadurch gelöst werden, dass Polen seine Verfassung ändere, das Unionsrecht geändert werde oder Polen aus der EU austrete. Eine ähnliche Auffassung wurde am 24.11.2021 gegenüber der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Ausdruck gebracht.

Tabelle 2: Auswahl politischer und gerichtlicher Entscheidungen im Konflikt EU-Polen

Die Tabelle samt Verlinkung auf die jeweiligen politischen und gerichtlichen Entscheidungen kann hier heruntergeladen werden: Tabelle / PDF, 102 KB

Maßnahmen und Gerichtsentscheide in Polen EU-Kommission und Parlament EuGH EGMR
Reform der Disziplinarkammer am Obersten Gericht 2017 (Bestellung und Disziplinierung von Richter:innen) Empfehlung 2018/103 der Kommission zur Rechtsstaatlichkeit in Polen, 20.12.2017 EuGH 19.11.2019, C-585/18, C-624/18 und C-625/18, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer) EGMR 29.6.2021, 26691/18 und 27367/18, Broda und Bojara
Gesetz über das Oberste Gericht vom 3.4.2018 (Herabsetzung des Pensionsalters aktiver Richter:innen) Einigung zwischen EP und Rat über neuen Rechtsstaatsmechanismus, 16.12.2020 EuGH 24.6.2019, C-619/18, Kommission gg. Polen (Pensionsalter Richter:innen) keine Angabe
Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs vom 7.10.2021 (EUV) und 24.11.2021 (EMRK) Entschließung des EP (Rechtsstaatlichkeitskrise und Vorrang des Unionsrechts), 21.10.2021 EuGH 15.7.2021, C-791/19, Kommission gg. Polen (Disziplinarordnung für Richter:innen) EGMR 8.11.2021, 49868/19 und 57511/19, Dolińska-Ficek and Ozimek gg. Polen

Die Entscheidungen von Regierung und Verfassungsgerichtshof bleiben in Polen nicht unwidersprochen. So betonte etwa der Senat, die zweite Parlamentskammer, in einer Resolution, dass das Urteil grundlegenden Prinzipien der polnischen Verfassung widerspreche. Prominente polnische JuristInnen warnten vor dem Druck auf RichterInnen, die sich kritisch äußern.

Wie bewerten andere EU-Mitgliedstaaten das Verhältnis von Unionsrecht und staatlichem Recht?

Der polnische Regierungschef und andere PolitikerInnen betonen, dass andere EU-Mitgliedstaaten das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht ähnlich sehen würden. Der polnische Verfassungsgerichtshof zitiert dazu ausführlich das Deutsche Bundesverfassungsgericht.

Verfassungs- und Höchstgerichte der Mitgliedstaaten haben die Frage der Reichweite des Vorrangs von Unionsrecht mehrfach behandelt. Besonders einflussreich war Deutschland (siehe Fachdossier „Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht“). Auch dort war das Verhältnis zur jeweiligen Verfassung zentral, aber es gibt einen wesentlichen Unterschied zu Polen (und zuletzt auch zu Rumänien): Die Auseinandersetzungen waren immer auf wenige Einzelfragen beschränkt und es wurden nie die Grundlagen der Union infrage gestellt. Die Beurteilung dieser Einzelfragen wird daher auch als „Dialog der Gerichte“ gesehen, der zu einer Weiterentwicklung und Vertiefung des Unionsrechts führen kann.

Der Vorrang des Unionsrechts vor dem einfachen Gesetzesrecht ist in allen Mitgliedstaaten anerkannt. Unterschiede bestehen jedoch im Hinblick auf das Verhältnis von Unionsrecht und Verfassungsrecht. Dazu lassen sich drei Gruppen von Mitgliedstaaten unterscheiden:

Tabelle 3: Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Unionsrecht in ausgewählten Mitgliedstaaten 

Umfassender Vorrang des Unionsrechts Begrenzter Vorrang des Unionsrechts Vorrang des Verfassungsrechts
Bulgarien, Estland, Niederlande, Luxemburg, Österreich, Zypern Belgien, Dänemark, Deutschland, Irland, Italien, Schweden, Tschechien Frankreich, Griechenland Litauen, Polen, Rumänien, Ungarn
Siehe zur österreichischen Position das Fachdossier 'Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht' Ausnahmen könn(t)en z. B. den Grundrechtsschutz und die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU und andere internationale Organisationen betreffen. Sie sind immer Teil einer detaillierten Prüfung. Verfassung ermächtigt ausdrücklich zur Anerkennung des Vorrangs des Unionsrechts Das Vorrangprinzip wird bzw. wurde (Litauen) infrage gestellt. Rumänien vertritt inzwischen eine ähnliche Sichtweise* wie Polen.

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