Vor allem in den Konflikten zwischen der EU und Polen kommen alle Entwicklungslinien – Rechtsstaat und Demokratie, Vorrang des Unionsrechts und die EU als Garantin von Rechtsstaatlichkeit – zusammen. Zur Diskussion steht, welche Verbindlichkeit die Grundwerte der EU für die Mitgliedstaaten haben und wie Rechtsstaatlichkeit durchgesetzt werden kann. Viele BeobachterInnen sehen diese Auseinandersetzung als entscheidend für die Zukunft der EU und stellen auch die Frage, ob Rechtsmittel und Sanktionen allein für eine Lösung ausreichen.
Im Hintergrund stehen jahrzehntelange Konflikte in Polen über die Zusammensetzung der Gerichte nach dem Ende des Kommunismus. Kurz vor den Wahlen 2015 wurde ein Gesetz erlassen, um neue Mitglieder des Verfassungsgerichts zu ernennen, obwohl noch nicht alle Amtszeiten abgelaufen waren. Sofort nach den Wahlen erließ die neue, PiS-geführte Regierung ein Gesetz, das die Richterbesetzung abermals änderte. In der Folge wurden weitere Veränderungen des Justizsystems vorgenommen und insb. ein Disziplinarsystem eingerichtet. Es führt nach Ansicht der Venedig-Kommission, der Kommission und des EP, des EuGH und des EGMR (siehe Tabelle 2) dazu, dass nicht mehr klar ist, ob die Gerichte in Polen verfassungsgemäß zusammengesetzt sind. Ebenso wird der Einfluss von Legislative und Regierung auf die Besetzung der Richterstellen als so groß angesehen, dass nicht mehr von unabhängigen und unparteiischen Gerichten gesprochen werden könne.
Aus Sicht der EU-Organe werden der Grundwert der Rechtsstaatlichkeit in Polen und die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsanwendung und Rechtssicherheit in der EU insgesamt infrage gestellt. Kommission und EP drängen seit 2016 darauf, zu reagieren. 2017 beantragte die Kommission ein Art.-7-Verfahren wegen Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit. Während die Entscheidung darüber aussteht, wurde 2020 der neue Rechtsstaatsmechanismus (siehe oben) und die Kürzung von Haushaltsmitteln angedroht. Die Kommission leitete mehrere Vertragsverletzungsverfahren ein. Auch der österreichische Nationalrat und Bundesrat befassten sich mehrfach mit diesen Fragen (z. B. EU-Ausschuss des Bundesrates am 14.3.2019 oder EU-Unterausschuss des Nationalrates am 6.7.2021).
Da politische Lösungen wegen mangelnder Einigkeit im Rat ausstehen, verlagerte sich der Konflikt auf die rechtliche Ebene. Polen und Ungarn bestritten, dass der neue Rechtsstaatsmechanismus dem Unionsrecht entspricht. Am 16.2.2022 hat der EuGH diesen jedoch bestätigt (Rechtssache C-156/21 und C-157/21) und festgestellt, dass die Verknüpfung von EU-Haushalt und Rechtsstaatlichkeit zulässig ist: Demnach ist der EU-Haushalt eines der wichtigsten Instrumente der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Wenn ein Mitgliedstaat gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit verstößt, kann unter Umständen keine Gewähr bestehen, dass Ausgaben und Finanzierung durch EU-Mittel rechtmäßig erfolgen. Außerdem haben Gerichte der Mitgliedstaaten sowie Polens den EuGH in Vorabentscheidungsfragen zur Feststellung der Vereinbarkeit polnischen Rechts und Unionsrechts ersucht (siehe Tabelle 2). Parallel dazu haben sich polnische RichterInnen vor allem wegen Disziplinarmaßnahmen an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewandt. Alle diese Gerichte sehen die Rechtsstaatlichkeit in Polen nicht mehr gewährleistet. Der EuGH verpflichtete Polen am 27.10.2021 mit einstweiligen Anordnungen sogar zur Zahlung eines Bußgelds von täglich 1 Mio. Euro.
Schon zuvor ersuchte die polnische Regierung den polnischen Verfassungsgerichtshof, die Vereinbarkeit von Unionsrecht und polnischem Verfassungsrecht zu prüfen. Am 7.10.2021 verneinte das Gericht diese in wesentlichen Teilen und hielt fest, dass die polnische Verfassung Vorrang gegenüber allen anderen Rechtsnormen habe. Seiner Meinung nach könne der Konflikt zwischen der EU und Polen nur dadurch gelöst werden, dass Polen seine Verfassung ändere, das Unionsrecht geändert werde oder Polen aus der EU austrete. Eine ähnliche Auffassung wurde am 24.11.2021 gegenüber der Europäischen Menschenrechtskonvention zum Ausdruck gebracht.