Es wurde am 23.02.2022 erstveröffentlicht und anlässlich neuerer Rechtsprechung deutscher und österreichischer Höchstgerichte am 04.07.2025 aktualisiert.
Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht
Wie entscheiden Verfassungsgerichte in Deutschland und Österreich dazu?
Das Deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich in den letzten Jahren kritisch mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts befasst. Insbesondere in einem Urteil vom 5. Mai 2020 zum Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (Public Sector Purchase Programme, PSPP) hat es wesentliche Aussagen über Rechtsakte der Europäischen Union (EU) und deren Wirkung in der deutschen Rechtsordnung sowie insbesondere zum sogenannten Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht getroffen. Das Urteil wird häufig im Zusammenhang mit der Diskussion zur Rechtsstaatlichkeit in Europa und dem Verhältnis zwischen der EU, nationalen Verfassungen und den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten genannt (siehe dazu das Fachdossier "Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit als Grundwert der EU?"). Im Kern geht es dabei um die Frage, wie eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) in Deutschland wirkt, die aus der Sicht des BVerfG nicht nachvollziehbar ist. Diese Linie setzt das BVerfG seither in seiner Rechtsprechung fort (vgl. Beschluss vom 23.7.2024, 2 BvR 557/19). Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat diese Frage bisher noch nicht entschieden; das Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht wird in Österreich anders beurteilt als in Deutschland.
Was bedeutet es, dass dem Unionsrecht Anwendungsvorrang zukommt?
Nach der Rechtsprechung des EuGH hat das gesamte Recht der EU Vorrang vor dem nationalen Recht der EU-Mitgliedstaaten. Es handelt sich dabei um einen Anwendungs- und keinen Geltungsvorrang. Das heißt, wenn nationales Recht dem Unionsrecht widerspricht – also auch nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden kann –, darf es nicht angewendet werden. Es tritt aber nicht außer Kraft, sondern bleibt in Geltung. Ein Gericht oder eine Behörde in Österreich muss nationales Recht also unangewendet lassen, wenn es feststellt, dass dieses gegen das Unionsrecht verstößt. Dies gilt nach Ansicht des EuGH auch, wenn es sich bei dem nationalen Recht um Verfassungsrecht handelt. Das nationale Recht wird vom Recht der EU „verdrängt“.
Das gesamte nationale Recht wird danach also vom Recht der EU "verdrängt". Das gilt für Gesetzes- und Verfassungsbestimmungen gleichermaßen wie für Rechtsprechung. Auch nationale Rechtsprechung, die dem Unionsrecht widerspricht, bleibt folglich unangewendet; nach einer aktuellen Entscheidung des EuGH ist ein:e nationale:r Richter:in dementsprechend auch nicht verpflichtet, eine Entscheidung des Verfassungsgerichts seines bzw. ihres Mitgliedstaats anzuwenden, wenn diese dem Unionsrecht entgegensteht. Die Richter:innen dürfen in solchen Fällen nicht disziplinarrechtlich belangt werden (vgl. idZ auch das Vorabentscheidungsverfahren Rs C‑56/25, Petlichev, das sich um die Frage dreht, ob eine womöglich unions- aber jedenfalls verfassungsrechtswidrige Rechtsvorschrift dem EuGH vorgelegt werden kann oder ob zuvor die Anwendbarkeit dieser Rechtsvorschrift durch das nationale Verfassungsgericht zu klären ist).
Wie hat das BVerfG zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts entschieden?
Das BVerfG hat in der Vergangenheit bereits in mehreren Verfahren auf die Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsvorrang reagiert. Stets betonte es dabei, dass es wichtig und notwendig ist, das Kooperationsverhältnis zwischen den europäischen Gerichten im sogenannten Verfassungsgerichtsverbund zu fördern. Den Anwendungsvorrang des Unionsrechts erkannte es dabei stets grundsätzlich immer an.
Sieht das BVerfG dennoch Grenzen für den Anwendungsvorrang?
Dem BVerfG zufolge bestehen dennoch Grenzen für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts. Diese nimmt es aber nur für ganz bestimmte Konstellationen und krasse Ausnahmefälle an. Stoßen Rechtsakte der EU an diese Grenzen, kann es nach der Rechtsprechung des BVerfG in Einzelfällen unter bestimmten Voraussetzungen dazu kommen, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem deutschen Recht nicht greift.
Welche Grenzen sind dies?
Das BVerfG sieht Grenzen im Wesentlichen in drei Fällen:
- Grundrechte: In der Frühphase der europäischen Integration behielt sich das BVerfG selbst eine Kontrolle von Rechtsakten der EU am Maßstab der nationalen Grundrechte vor (sogenannte Solange-Rechtsprechung; ab 1974). Widersprach ein Rechtsakt der EU (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse) aus Sicht des BVerfG den nationalen Grundrechten, hatte er keinen Anwendungsvorrang vor dem deutschen Recht. Seit 1986 prüft das BVerfG einen Rechtsakt der EU in diesem Sinne aber – wegen der Entwicklung des Grundrechtsschutzes auf Ebene der EU (insbesondere mit der EU-Grundrechtecharta) – nur noch dann am Maßstab der nationalen Grundrechte, wenn das betroffene Grundrecht auf Ebene der EU generell nicht gewährleistet sein sollte (wobei es sich dabei aufgrund des umfassenden europäischen Grundrechtsschutzes bisher um eine bloß theoretische Möglichkeit handelt). Das BVerfG übt die Kontrolle also nicht aus, solange die EU einen Grundrechtsschutz gewährleistet, der dem im deutschen Recht gewährleisteten Schutzniveau im Wesentlichen gleichkommt (Grundrechtskontrolle).
- Verfassungsidentität: Seit seinem sogenannten Lissabon-Urteil 2009 prüft das BVerfG auch, ob die in der deutschen Verfassung unabänderlich gewährleisteten grundlegenden Grundsätze (wie etwa die Menschenwürde oder der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt) durch einen Rechtsakt der EU berührt werden. Werden sie im Einzelfall aus Sicht des BVerfG durch einen Rechtsakt der EU verletzt, kann der Rechtsakt in Deutschland für unanwendbar erklärt werden. Der Anwendungsvorrang gilt für ihn dann nicht. Nur das BVerfG selbst kann dies aber feststellen. Zu berücksichtigen ist, dass das BVerfG dabei ausdrücklich europarechtsfreundlich vorgeht (Identitätskontrolle).
- Kompetenzüberschreitung der EU: Das BVerfG geht zwar grundsätzlich davon aus, dass der EuGH die Kontrolle von Rechtsakten der EU am Maßstab der Bestimmungen zu den Kompetenzen der EU, d. h. der ihr von den Mitgliedstaaten übertragenen Zuständigkeiten, vornimmt. Es behält sich aber dennoch vor, einen Rechtsakt der EU ausnahmsweise selbst für in Deutschland unanwendbar zu erklären, wenn dieser eine „ersichtliche Grenzüberschreitung“ darstellt (sogenannter Ultra-vires-Akt). Der Anwendungsvorrang gilt dann für diesen Rechtsakt der EU nicht. Dazu muss der Rechtsakt aber einen „hinreichend qualifizierten Kompetenzverstoß“ darstellen, der „strukturell bedeutsam“ und „offensichtlich“ ist. Das liegt zum Beispiel vor, wenn für den Erlass des Rechtsakts eigentlich eine Änderung der EU-Verträge (EUV/AEUV) notwendig wäre. Nur das BVerfG darf in Deutschland eine solche Entscheidung treffen; es trifft sie auch nur, wenn eine Entscheidung des EuGH dazu nicht vorliegt. Es bleibt daher bei der vorrangigen Zuständigkeit des EuGH zur Überprüfung von Kompetenzüberschreitungen durch Rechtsakte der EU (Kompetenzkontrolle/Ultra-vires-Kontrolle).
Welche Aussagen zu diesen Grenzen traf das BVerfG in seiner jüngeren Rechtsprechung zum Anwendungsvorrang?
Beginnend mit dem PSPP-Urteil hat das BVerfG seine Rechtsprechung zur Kompetenzkontrolle präzisiert: Es sieht sich nämlich seither nicht nur dann für die Prüfung der Einhaltung von Kompetenzbestimmungen der EU zuständig, wenn der EuGH gar nicht diesbezüglich entscheidet, sondern auch dann, wenn der EuGH zwar entscheidet, dies aber „objektiv willkürlich“ und „nicht nachvollziehbar“ tut. Auch in diesen Fällen kann das BVerfG selbst entscheiden, ob ein Rechtsakt der EU mit den Kompetenzen der EU vereinbar ist oder nicht.
Das BVerfG akzeptiert eine Entscheidung des EuGH zwar auch dann, wenn es inhaltliche Argumente gegen diese gibt, solange sich die Entscheidung auf anerkannte Methoden stützt und nicht objektiv willkürlich erscheint. Wenn der EuGH sich allerdings nach Ansicht des BVerfG gar nicht auf anerkannte Auslegungsmethoden und gemeinsame Rechtsgrundsätze stützt, verweigert das BVerfG die Berücksichtigung der EuGH-Entscheidung bei der eigenen Prüfung des Rechtsaktes der EU.
Das führt im Ergebnis zu einem zweistufigen Verfahren: Das BVerfG legt dem EuGH in einem ersten Schritt die Frage vor, ob ein Rechtsakt der EU die Kompetenzen der EU überschreitet. Entscheidet der EuGH diese nach Auffassung des BVerfG – in krassen Ausnahmefällen – „objektiv willkürlich“, erklärt das BVerfG in einem zweiten Schritt das EuGH-Urteil in Deutschland für unanwendbar und prüft selbst, ob der Rechtsakt den Kompetenzen der EU entspricht.
Im Fall des PSPP widersprach das Urteil des EuGH – aus Sicht des BVerfG – auch der vom EuGH selbst sonst in allen anderen Bereichen gewählten Rechtsprechungsmethodik. Der EuGH habe durch diese Entscheidung sein Mandat überschritten und eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten bewirkt, indem er die PSPP-Beschlüsse der EZB als unionsrechtskonform beurteilte. Die Entscheidung verkenne nämlich in offensichtlicher Weise den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) und sei methodisch nicht mehr vertretbar. Das BVerfG stellte nach eigener Prüfung fest, dass das PSPP nicht mit dem Unionsrecht vereinbar und daher in Deutschland unanwendbar sei. Die deutsche Bundesregierung und der Deutsche Bundestag hätten es rechtswidrig unterlassen, dem PSPP im Vorhinein entgegenzutreten.
Zu berücksichtigen ist, dass es sich nur um krasse Ausnahmefälle handelt, in denen das BVerfG tatsächlich eine solche Entscheidung zur Außerachtlassung eines Urteils des EuGH und eines Rechtsakts der EU trifft (vgl. den Beschluss von 23.7.2024, 2 BvR 557/19, wo das BVerfG das Vorliegen eines Ultra-vires-Aktes verneinte). Dennoch wurde das Urteil des BVerfG in der deutschen Rechtswissenschaft zum Teil kritisch rezipiert.
Ein aufgrund des PSPP-Urteils von der EU eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland stellte die Europäische Kommission am 2. Dezember 2021 ein. Sie begründete ihre Entscheidung im Wesentlichen damit, dass Deutschland förmlich erklärt habe, den Anwendungsvorrang anzuerkennen und die Autorität des EuGH zu achten. Deutschland verletze im Ergebnis mit dem Urteil des BVerfG seine vertraglichen Pflichten als EU-Mitgliedstaat nicht.
Wie sehen Rechtsprechung und Rechtswissenschaft in Österreich den Anwendungsvorrang?
Wie sieht es der VfGH?
Der VfGH geht – im Einklang mit der Judikatur des EuGH – von einem umfassenden Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor dem gesamten nationalen Recht – einschließlich des nationalen Verfassungsrechts – aus. Danach wird österreichisches Recht (auch Verfassungsrecht), das dem Recht der EU widerspricht, von diesem gänzlich verdrängt. Der VfGH prüft die anwendbaren Rechtsakte der EU dabei nicht selbst – weder am Maßstab von nationalem Recht (einschließlich des Verfassungsrechts) noch an jenem von höherrangigem Unionsrecht – oder erklärt sie für unanwendbar; der Anwendungsvorrang gilt grundsätzlich umfassend und unabhängig von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des betreffenden Rechtsakts der EU. Der VfGH kann nur – wie jedes andere Gericht – eine Vorlage an den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens formulieren bzw. ist er dazu – als letztinstanzliches Gericht – in der Regel verpflichtet. In der Vergangenheit hat er dies auch mehrfach getan.
Sieht die österreichische Rechtswissenschaft Grenzen des Anwendungsvorrangs?
Auch die Rechtswissenschaft in Österreich nimmt grundsätzlich an, dass der VfGH Rechtsakte der EU nicht selbst prüfen kann. Sie können daher in der Regel auch nicht beim VfGH angefochten werden.
Nach herrschender Auffassung in der Literatur gibt es aber eine Ausnahme: Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts findet seine Grenze an den Grundprinzipien der Bundesverfassung (Rechtsstaatsprinzip, Bundesstaatsprinzip, Republikanisches Prinzip, Demokratisches Prinzip, Gewaltenteilungsprinzip, Liberales Prinzip). Verstößt ein Rechtsakt der EU gegen eines oder mehrere dieser Grundprinzipien (was über den Anwendungsvorrang einer sogenannten Gesamtänderung der Bundesverfassung gleichkäme), hat dies nach dieser Ansicht – welche aber bislang nicht von der Rechtsprechung aufgegriffen wurde – Konsequenzen für die Anwendbarkeit des Rechtsakts in Österreich (siehe dazu z. B. Öhlinger/Potacs, Seite 98 f.) und damit den Anwendungsvorrang des Unionsrechts:
- Bei einer Änderung der Verträge der EU (EUV/AEUV) muss der VfGH prüfen, ob durch die Änderung Grundprinzipien der Bundesverfassung verletzt werden. Ist dies der Fall, muss er feststellen, ob das Verfahren für eine Gesamtänderung der Bundesverfassung eingehalten wurde, ob also eine Volksabstimmung durchgeführt wurde (Art. 44 Abs. 3 B-VG). Ist dies nicht erfolgt, ist die Änderung des Primärrechts für in Österreich unanwendbar zu erklären. Der Anwendungsvorrang gilt folglich für die betroffene(n) Bestimmung(en) des Unionsrechts nicht; sie verdrängt bzw. verdrängen nationales (Verfassungs)Recht dann nicht.
- Verstößt ein sonstiger (Sekundär-)Rechtsakt der EU (z. B. eine Verordnung, eine Richtlinie oder ein Beschluss) gegen die Grundprinzipien der Bundesverfassung, ist dieser – ohne vorausgehende innerstaatliche Verfassungsänderung mit Volksabstimmung – absolut nichtig und von österreichischen Organen nicht anzuwenden. Dies könnte zum Beispiel der Fall sein, wenn der Rechtsakt die Kompetenzen der EU offensichtlich überschreitet (sogenannter Ultra-vires-Akt). Auch in diesem Fall wirkt der Anwendungsvorrang nicht, weil der Rechtsakt der EU als nichtig gilt.
Zieht die österreichische Rechtsprechung diese Grenzen für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch?
Der VfGH hat den Anwendungsvorrang bislang nicht in Bezug auf die etwaige Verletzung eines Grundprinzips problematisiert. Zur Frage, ob die – in Umsetzung der EU-Datenschutzrichtlinie (DSRL) normierte – Zuständigkeit der Datenschutzbehörde (DSB) als Aufsichtsbehörde über die Staatsanwaltschaften dem verfassungsrechtlichen Prinzip der Trennung der Justiz von der Verwaltung (Art. 94 B-VG) widerspreche, kam er zu folgendem Ergebnis: Zwar werde Art. 94 B-VG verletzt, weil die DSB als Verwaltungsbehörde die Staatsanwaltschaften als Organe der Gerichtsbarkeit beaufsichtige. Dies sei im Ergebnis jedoch zulässig, weil dem Gesetzgeber kein Spielraum zu einer verfassungskonformen Umsetzung der DSRL zur Verfügung gestanden sei ("doppelte Bindung": d. h. der Gesetzgeber war sowohl durch Unionsrecht als auch nationales Verfassungsrecht in seinem Umsetzungsspielraum beschränkt; in solchen Fällen wird ein unionsrechtskonform umgesetztes, aber verfassungswidriges Gesetz vom VfGH nicht als verfassungswidrig aufgehoben). Für den VfGH sei auch nicht erkennbar, dass die in Rede stehenden Regelungen der DSRL die Kompetenzen der EU überschritten und sohin absolut nichtige ultra-vires-Akte seien (vgl. zu alledem VfGH 13.12.2023, G 212/2023 ua.). Der VfGH ging in diesem Fall also nicht davon aus, dass durch die Umsetzung der DSRL Grundprinzipien der Bundesverfassung verletzt wurden bzw. – ohne vorangegangene Volksabstimmung – eine Gesamtänderung der Bundesverfassung erfolgt ist; daher gibt es auch weiterhin keine Aussage des VfGH zu etwaigen Grenzen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts an den Grundprinzipien der Bundesverfassung.
Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) kam anlässlich einer Beurteilung des Verhältnisses zwischen DSB und Parlament zu einem ähnlichen Ergebnis. Zuvor hatte er den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens gefragt, ob Tätigkeiten parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) fallen (siehe Vorabentscheidungsverfahren EuGH 16.1.2024, C-33/22, Österreichische Datenschutzbehörde). Der EuGH antwortete, dass parlamentarische Untersuchungsausschüsse grundsätzlich vom Anwendungsbereich der DSGVO erfasst seien. Daraus folge, dass die DSB unmittelbar aufgrund der DSGVO auch für die Überwachung deren Einhaltung durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss zuständig sei. Bedenken, wonach auf diese Weise die Legislative durch die Exekutive kontrolliert würde, begegnete der EuGH mit zwei Argumenten: Zum einen dürften sich die Mitgliedstaaten nicht auf Bestimmungen des nationalen Rechts berufen, wenn dadurch die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt würden; diese erforderten nämlich, dass der Vorrang des Unionsrechts auch vor nationalem Verfassungsrecht (hier dem Gewaltenteilungsgrundsatz) gewahrt werde. Zum anderen stehe es den Mitgliedstaaten frei, mehr als eine Aufsichtsbehörde einzurichten, wenn dies verfassungsrechtlich erforderlich sei. Wenn ein Mitgliedstaat aber nur eine einzige Aufsichtsbehörde eingerichtet habe, könne er sich nicht auf nationales Verfassungsrecht berufen, um dieser Aufsichtsbehörde die Überwachung der Verarbeitung von personenbezogenen Daten vorzuenthalten, die in den Anwendungsbereich der DSGVO fielen. Dieser Argumentation schloss sich der VwGH in seinem Erkenntnis an, wobei er dagegen unter Berufung auf das Erkenntnis des VfGH vom 13. Dezember 2023, G 212/2023 ua., auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken hatte.
Quellenauswahl
- Berka, Verfassungsrecht8 (2021), Rz 358.
- Deutsches Bundesverfassungsgericht, Entscheidung vom 5.5.2020, 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 980/16.
- Divjak, Zuständigkeit der Datenschutzbehörde zur Entscheidung über Beschwerden gegen Datenverarbeitungen durch Staatsanwaltschaften nicht verfassungswidrig, JBl 2024, 513.
- Holoubek, Doppelte Bindung und Richtlinienumsetzung, ZÖR 2018, 603.
- Europäisches Parlament (Hrsg.), The Primacy of EU Law and the Polish Constitutional Law Judgment (2022).
- Mayer/Kucsko-Stadlmayer/Stöger, Bundesverfassungsrecht11 (2015), Rz 246/10.
- Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht13 (2022), Rz 158, 191.
- Öhlinger/Potacs, EU-Recht und staatliches Recht: die Anwendung des Europarechts im innerstaatlichen Bereich8 (2023).
- Skouris, Der Vorrang des Europäischen Unionsrechts vor dem nationalen Recht. Unionsrecht bricht nationales Recht Europarecht 2021, 56/1, S. 3-27.
- Storr, Von der Kooperation zur Konfrontation: Das PSPP-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 Journal für Rechtspolitik 2020, 28(2), S. 65-72.
- Verfassungsgerichtshof, Erkenntnis vom 13.12.2023, G 212/2023 ua.
- Verwaltungsgerichtshof, Erkenntnis vom 1.2.2024, Ro 2021/04/0006.
- Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2010, S. 1-7.