Fachinfos - Fachdossiers 09.05.2023

Welche Herausforderungen bestimmen den Politikbereich Pflege?

Am 10. Mai 2023 befasst sich der Bundesrat in einer Enquete mit dem Thema "Herausforderungen der Zukunft: Nachdenken über Pflege von morgen und gesundes Altern". Das Fachdossier stellt zentrale Herausforderungen dieses Politikbereichs vor.

Neue Aufmerksamkeit für erwartbare Herausforderungen?

In der COVID‑19-Pandemie erlangte die Pflege verstärkte Aufmerksamkeit. Neben der Verschärfung des Personalmangels ist der Bereich mit weiteren Herausforderungen konfrontiert, die Folgen langjähriger gesellschaftlicher Entwicklungen sind. In einer Enquete (66/VER-BR/2023) setzt sich der Bundesrat damit auseinander. Dieses Fachdossier stellt zentrale Herausforderungen sowie Lösungsansätze vor.

Aktuelle Rahmenbedingungen

Aufgabe der Pflege ist es, pflegebedürftige Menschen zu unterstützen und zu fördern. Neben Primärprävention ist – im Gegensatz zu anderen medizinischen Berufen (v. a. im Spitalsbereich) – das Ziel nicht die Heilung, sondern kontinuierliches physisches und psychisches Wohlbefinden (Goldgruber u. a. 2021). Dementsprechend bedarf es im Pflegebereich anderer Strukturen als im "klassischen" Gesundheitswesen (Krankenhäuser, Ärzt:innenpraxen etc.) und besonderer Aufmerksamkeit für die Beziehungen zwischen Gepflegten und Pflegenden. Die politischen Verantwortungsträger:innen in Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungsträgern sehen sich mit zwei Phänomenen konfrontiert, die im Zusammenspiel besonders problematisch sind: Während auf der einen Seite der Pflegebedarf kontinuierlich steigt, erhöht sich auf der anderen Seite die Unzufriedenheit von Menschen, die den Pflegeberuf ausüben (Goldgruber u. a. 2021). Die Ursachen dafür haben mit verschiedenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zu tun. Notwendig wären daher Anpassungen auf struktureller Ebene. Die Auswirkungen zeigen sich aber auch auf individueller Ebene, nämlich in Form geänderter Bedürfnisse der zu Pflegenden sowie der Pflegenden.

Demografische Entwicklungen

Der offensichtlichste Grund für den gestiegenen Pflegebedarf ist die Alterung der Gesellschaft. Die Prognose der Statistik Austria im Demographischen Jahrbuch 2021 (S. 49) lautet: Waren 2021 noch 19,4 % der österreichischen Bevölkerung älter als 65 Jahre, werden es 2080 voraussichtlich 28,9 % sein. Ab 2040 erreichen Angehörige der Babyboom-Generation das Alter von 80 Jahren. Demnach werden ab 2046 mehr als eine Million Menschen in Österreich leben, die 80 Jahre oder älter sind – 1975 waren es noch 202.000 (ebd., S. 66).

Ein weiterer Faktor sind Entwicklungen von Haushalten. Laut Haushaltsprognose 2022 der Statistik Austria kommt es zu einem überdurchschnittlichen Anstieg von Einpersonen-Haushalten und einer kontinuierlichen Abnahme der durchschnittlichen Haushaltsgröße. Da traditionellerweise sehr viel Pflege innerhalb größerer, generationenübergreifender Haushaltsverbände (meistens Familien) geleistet wird, wird sich diese Entwicklung laut dem WIFO (Famira-Mühlberger u. a. 2017, ab S. 12) negativ auf das Pflegepotenzial auswirken.

Auch der Trend, dass immer mehr Menschen in Ballungszentren wohnen und arbeiten, hat großen Einfluss auf die Pflege. Stadt und Land unterscheiden sich in Bezug auf soziale Beziehungsgeflechte, das Angebot an Pflegeinfrastruktur sowie infrastrukturelle Gegebenheiten, um dieses Angebot in Anspruch nehmen zu können (z. B. öffentliche Verkehrsmittel). Wie die Zahlen für Österreich der Population Division der Vereinten Nationen zeigen, gibt es diesen Trend auch in Österreich.

Budgetäre Folgen

Aus diesen Entwicklungen folgt laut Expert:innen bereits jetzt eine merkliche Steigerung der öffentlichen Ausgaben – bis 2025 vor allem für das Pflegegeld und öffentlich (mit-)finanzierte Pflege- und Betreuungsdienste (siehe Famira-Mühlberger u. a. 2017, S. 38). Eine Analyse des Budgetdienstes der Parlamentsdirektion zeigt, dass dies ein langfristiger Trend ist. Demnach werden die Ausgaben für den Bereich Pflege aufgrund demografischer Entwicklungen im Jahr 2060 3,1 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) betragen. Im Jahr 2019 waren es noch 1,3 % des BIP (siehe Analyse zur Langfristigen Budgetprognose 2022 / PDF, 2748 KB, ab S. 31).  

Entwicklungen des Arbeitsmarktes

Neben den budgetären Herausforderungen sind Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt zentral. Die Bedarfsprognose des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK 2019) zeigt eine ohnehin schon angespannte Personalsituation, weil bis 2030 ca. 42.000 Arbeitsplätze infolge von Pensionierungen nachbesetzt werden müssen. Da infolge demografischer Entwicklungen im selben Zeitraum ein zusätzlicher Bedarf von ca. 34.000 Pflege- und Betreuungskräften erwartet wird, werden bis 2030 voraussichtlich bis zu 76.000 neue Kräfte benötigt. Wie und ob dieser Bedarf gedeckt werden kann, hängt stark mit der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen zusammen. Waren 1971 noch 54,7 % der Frauen im Alter von 20 bis 54 Jahren erwerbstätig oder arbeitssuchend, waren es im Jahr 2016 83,7 % (siehe Statistik Austria 2019, S. 1). Die Folgen sind ambivalent: Einerseits stehen damit weniger Frauen für die Erledigung der sogenannten informellen Pflege – der unbezahlten Pflegearbeit im Familien- oder Bekanntenkreis – zur Verfügung (73 % davon wird nach wie vor von Frauen geleistet; siehe Famira-Mühlberger u. a. 2017, S. 13). Andererseits stellen sie ein großes Potenzial für den Markt bezahlter Pflegearbeit dar – vorausgesetzt die Rahmenbedingungen sind attraktiv (z. B. durch regelmäßige Einhaltung vereinbarter Arbeitszeiten; siehe Schalek/Fahimi 2020, S. 1). Hinzu kommt, dass sich die Anforderungen an Pflegekräfte weiterentwickeln, immer diverser und spezieller werden, worauf auch die entsprechenden Ausbildungsstätten reagieren müssen (siehe Goldgruber u. a. 2021).

Bedürfnisse der zu Pflegenden

Abseits aller Herausforderungen aufseiten des Pflegeangebots muss auch der Nachfrageseite Beachtung geschenkt werden. Bei Diskussionen rund um den Ausbau von Pflegeeinrichtungen wird oft aus den Augen verloren, dass viele Menschen im eigenen Zuhause gepflegt werden wollen. Diese Option ist zwar laut Einschätzung des Hilfswerks auch aus volkswirtschaftlicher Hinsicht vielversprechend, aber aufgrund oben genannter Entwicklungen (kleinere Haushalte, Rückgang informeller Pflege) schwierig zu bewältigen. Außerdem rufen Pflegebedürftige zunehmend nach mehr Autonomie und Unabhängigkeit, auch im Alter (siehe Diakoniewerk 2020, S. 10).

Was sind die gesetzlichen Grundlagen und welche Lösungsansätze werden diskutiert?

Die Zuständigkeiten in der Gesetzgebung und Vollziehung sind im Pflegebereich auf verschiedene Regierungsebenen verteilt. Die gemischte Zuständigkeit (siehe Bericht des Rechnungshofes zur Pflege in Österreich, S. 15) ergibt sich infolge einer Kombination aus diversen bundesrechtlichen Grundlagen, Gesetzen aller neun Länder sowie 15a-Vereinbarungen zwischen dem Bund und den Ländern (siehe dazu das Fachdossier Was sind 15a-Vereinbarungen?).

Grundsätzlich fällt der Aufgabenbereich Pflege in die Zuständigkeit der Länder. Gesetzliche Regelungen betreffen z. B. die Sozialhilfe, Wohn- und Pflegeheime und die Mindestsicherung. Dementsprechend existieren in den Ländern auch unterschiedliche Organisationsformen: So liegt die Zuständigkeit für die stationäre Pflege in Salzburg, Tirol und Vorarlberg weitgehend bei den Gemeinden, in Kärnten, Oberösterreich und der Steiermark bei den Sozialhilfeverbänden und im Burgenland, in Wien und Niederösterreich vor allem bei den Ländern. Darüber hinaus tätigen die Länder den überwiegenden Teil der Pflegeausgaben.

Der Bund ist in erster Linie für die Finanzierung von Geldleistungen (Pflegegeld) zuständig. Daneben gibt es eine Reihe von Regelungen zwischen Bund und Ländern zur (Ko )Finanzierung von pflegebezogenen Leistungen. Für das Budget des Bundes ist dabei vor allem die Dotierung des Pflegefonds für Zweckzuschüsse an die Länder zum bedarfsgerechten Aus- und Aufbau des Betreuungs- und Pflegedienstleistungsangebots relevant (siehe Pflegefondsgesetz). Hinzu kommen Förderungen für die 24-Stunden-Betreuung (Kostenteilung Bund – Länder 60 : 40), Zuschüsse an pflegende Angehörige sowie das Pflegekarenzgeld (Rechtsanspruch seit 1. Jänner 2020). Aufgrund dieser Verflechtungen zwischen Bund und Ländern spielt der Politikbereich Pflege auch in den derzeit laufenden Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eine wesentliche Rolle. In Summe ergibt sich dadurch, wie der Rechnungshof (RH) feststellt, eine "hohe wechselseitige Abhängigkeit der Gebietskörperschaften" (RH 2020, S. 9).

Reformbestrebungen

Erste Schritte zu einer Pflegereform erfolgten mit der am 7. Juli 2022 vom Nationalrat beschlossenen Pflegereform 2022. Darin enthalten sind u. a. Maßnahmen, die dem Fachkräftemangel entgegenwirken sollen, sowie Maßnahmen zur Entlastung pflegender Angehöriger. Aufgrund der Kompetenzverteilung entwickeln auch die Bundesländer sowie die Gemeinden eigene Modelle im Umgang mit den Herausforderungen des Pflegebereichs (siehe z. B. das Zeitpolster-Modell).

Langfristige Finanzierung?

Kritiker:innen der Pflegereform betonen, dass damit keine langfristig ausreichende finanzielle Absicherung geschaffen wurde. Es sei nur eine Übergangslösung ohne langfristig angelegte strukturelle Maßnahmen (siehe dazu z. B. den Ruf von RH (RH 2020, S. 13) oder Caritas nach einem nachhaltigen Finanzierungssystem).

Koordination, Harmonisierung und Transparenz

Wesentliche Voraussetzung für eine nachhaltige Reform des Pflegebereichs sei laut RH demnach vor allem eine gute Koordination zwischen Bund und Ländern. Dafür wären u. a. einheitliche Qualitätskriterien und Standards sowie eine verbesserte und vergleichbare Datenlage zentral. Eine Harmonisierung würde sich nicht nur auf die Planbarkeit für die politischen Verantwortungsträger:innen auswirken. Transparenz und Nachvollziehbarkeit wären auch für Pflegebedürftige selbst sowie für Pflegende von großem Vorteil (RH 2020, S. 11).

Strukturelle Anpassungen

Weitere Forderungen hinsichtlich struktureller Anpassungen betreffen z. B. eine erhöhte Durchlässigkeit zwischen den drei Säulen des österreichischen Pflegesystems. Diese sind: erstens die Pflege durch mobile Dienste, zweitens die teilstationäre Tagesbetreuung und drittens die stationäre Versorgung in Altenheimen. So argumentiert z. B. das Diakoniewerk (2020, S. 6), dass es (leichter) möglich sein müsse, je nach akutem Bedarf zwischen diesen Säulen hin- und herzuwechseln. Das würde nicht nur den akuten Bedürfnissen von Pflegebedürftigen und Pflegenden entsprechen, sondern könnte auch zu finanzieller Entlastung beitragen.

Unterstützung bzw. Entlastung pflegende Angehöriger

Strukturelle Änderungen können einerseits dazu beitragen, den zusätzlichen Bedarf an Pflegekräften einzuschränken bzw. zu decken. Andererseits kann durch sie die Pflegearbeit von Angehörigen (meist Frauen) reduziert bzw. erleichtert werden. Die Unterstützung von Angehörigen steht im Zentrum unterschiedlicher Überlegungen. Neben der Unterstützung durch mobile Pflegeangebote und der bereits erwähnten Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Informationen betrifft das z. B. auch die verstärkte Nutzung von technologischen Innovationen (wie z. B. der Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Telepflege oder Unterstützung beim Informationsaustausch durch entsprechende Apps; siehe dazu z. B. das internationale Forschungsprojekt Care about Care).

Orientierung an Bedürfnissen der zu Pflegenden

Für die Pflegebedürftigen selbst werden vor allem mehr Autonomie und Flexibilität gefordert (siehe z. B. Österreichische Plattform für Interdisziplinäre Alternsfragen, S. 214; Diakoniewerk 2020). Transparente Informationen über das Pflegeangebot, individuelle Beratung sowie die notwendigen Ressourcen würden es ermöglichen, dass Dienstleistungen dann in Anspruch genommen werden (können), wenn sie gerade gebraucht werden. Regional übergreifende Standards, Normen und Förderungen wären dafür zentral. Sie müssten aber dennoch Raum für regionalspezifische Anforderungen lassen. In urbanen Gebieten kann z. B. der Bedarf nach Investitionen in mobile Sozialbetreuung größer sein, während in ländlichen Regionen mehr Investitionen in mobile Hauskrankenpflege gefragt sind.

Darüber hinaus wird zunehmend gefordert, bestehende soziale Beziehungen gezielt(er) zu nutzen (siehe dazu das Konzept der Sozialraumorientierung) – z. B. indem Angehörige, die gewillt sind, jemanden zu pflegen, auch die entsprechende Unterstützung erhalten. Ebenso zielt die Unterstützung durch sogenannte Community Nurses darauf ab, eine optimale Lebens- und Betreuungssituation im gewohnten Umfeld zu ermöglichen. Auch in der gesundheits-, sozial- und pflegewissenschaftlichen Forschung werden mittlerweile vermehrt Perspektiven entwickelt, die sich auf die pflegebedürftige Person konzentriert (siehe dazu z. B. wissenschaftliche Projekte zu Person-Centred-Practice).

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