Fachinfos - Fachdossiers 09.07.2024

Wie verändert KI die parlamentarische Demokratie?

Kann Demokratie mit Digitalisierung Schritt halten?

Die letzten 30 Jahre sind weltweit durch die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft geprägt. Sie ist eng mit dem Internet und der Entwicklung mobiler Geräte verbunden, die den Alltag durchdringen. Sie prägen die Erwartungen, die Menschen an die Kommunikation untereinander, an die Erledigung von Aufgaben und an die die Erbringung von Dienstleistungen haben. Auch an Politik und Verwaltung wird der Anspruch gestellt, dass sie so schnell kommunizieren und unkompliziert Leistungen zur Verfügung stellen, wie man das von den Dienstleistungen kommerzieller Plattformen (z. B. Einkauf, Tourismus, Zahlungsverkehr und Versicherungen) gewohnt ist. Mit der steigenden Bedeutung von Technologien auf der Basis Künstlicher Intelligenz (KI) steigert sich die Dynamik der Digitalisierung. Welche Auswirkungen das auf unser Verständnis von Demokratie und das Funktionieren des demokratischen Staats haben wird, ist noch offen. Dieses Fachdossier stellt aktuelle Debatten vor.

Worauf baut parlamentarische Demokratie auf?

Demokratie ist ein vielschichtiges und umstrittenes Konzept. Um die Auswirkungen von Digitalisierung auf parlamentarische Demokratie erörtern zu können, ist es erforderlich, Grundlagen zu definieren. Für dieses Fachdossier werden vier Grundpfeiler ausgewählt (vgl. dazu Möllers 2008):

  • Parlamentarische Demokratie soll eine weitreichende Beteiligung der Allgemeinheit an politischen Prozessen sicherstellen (z. B. durch Wahlen oder Begutachtungsverfahren).
  • Sie baut auf der Gleichberechtigung aller Staatsbürger:innen auf. Sie haben gleiche Rechte und gleichen Zugang zu staatlichen Institutionen.
  • Eine parlamentarische Demokratie stellt die Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen und Meinungen durch vermittelnde Institutionen sicher. Die Staatsgewalten Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit ermöglichen, dass Politik und Recht auf vielfältige Weise gestaltet werden können und einander begrenzen. Verfahrensregeln schaffen transparente Entscheidungsprozesse. Weder eine Mehrheit noch eine Minderheit soll über andere willkürlich bestimmen können.
  • In einer parlamentarischen Demokratie üben alle Staatsorgane ihre Ämter in verantwortlicher und transparenter Weise aus. Ihre Handlungen und Entscheidungen können politisch, rechtlich und finanziell geprüft werden.

Damit all das gewährleistet werden kann, braucht es demokratische Bildung und Kultur, demokratische Öffentlichkeit, also die Möglichkeit des freien Meinungsaustausches und der Meinungsbildung, sowie Institutionen, die verlässliche Informationen und sichere Beteiligungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen.

Welche Auswirkungen hat KI auf demokratische Öffentlichkeit?

Die Entwicklung moderner Demokratie und moderner Kommunikationstechnologien hängen eng zusammen. Stenografie, Telegrafie, Tageszeitungen und Radio dienten von Beginn an dazu, parlamentarische Debatten zu verbreiten (Rizzoni 2024). In dieser Tradition stehen neue Kommunikationstechnologien im Zentrum aktueller Debatten über Demokratie und Digitalisierung (ÖAW 2024; Thiel 2023):

  • Viele Kommunikationsprozesse und der Zugang zu Informationen haben sich auf große digitale Plattformen wie Meta, X oder Tiktok verlagert. Diese werden von privaten Unternehmen betrieben und sollen Gewinne erwirtschaften.
  • KI-Systeme ermöglichen es, diese Plattformen in hocheffizienter Weise zu betreiben. Mit ihnen können riesige Datenmengen ausgewertet werden. Damit können in einfacher Weise Informationen generiert, in hoher Zahl verbreitet und zugleich auf individuelle Nutzer:innen abgestimmt werden.
  • KI-Systeme können dazu eingesetzt werden, um Desinformation (gezielte Falschinformation) und Missinformation (irreführende Information) zu erzeugen und zu verbreiten. Generative KI-Systeme (wie ChatGPT) neigen auch dazu, Informationen zu erfinden.

Kommunikation in der Demokratie war lange auf gleichen Rhythmen (z. B. Morgenzeitung, Abendnachrichten) und großen Gruppen aufgebaut. Sie kannten und diskutierten dieselben Informationen und Meinungen. Ihre Gewährleistung sollte im öffentlichen Interesse stehen. Das Fernsehen hat dieses Umfeld bereits verändert, Digitalisierung beschleunigt und dynamisiert die Entwicklungen (Habermas 2022). Sie führt zu massenhafter Informationserzeugung, die immer stärker personalisiert und immer weniger überprüft werden kann (Vincent 2023). Gemeinsame Kommunikationsräume, die inhaltliche Vielfalt und Qualität demokratischer Debatten gewährleisten sollen, werden damit eingeschränkt (Jungherr 2023).

Wie kann KI demokratische Partizipation verändern?

Mit der Entstehung des Internets war die Vision verbunden, demokratische Teilhabemöglichkeiten auszubauen und zu vereinfachen (Risse 2023). An KI-Systeme wird nun der Anspruch gestellt, diese Instrumente zu verbessern und zugänglicher zu machen. Sie können Partizipationsprozesse aber auch untergraben:

  • KI-Systeme versprechen, demokratische Mitwirkung in bislang ungeahnter Weise zu ermöglichen. Mit ihrer Hilfe sollen Informationen verständlich aufbereitet, Debatten unter großer Beteiligung durchgeführt und Entscheidungen ermöglicht werden, die auf Daten und Konsens beruhen (Landemore 2024).
  • KI-Systeme werden von politischen Parteien und Organisationen eingesetzt, um das Wissen über und die Kontakte zu Unterstützer:innen auszubauen und direkte Kommunikation mit ihnen zu ermöglichen (Darius & Römmele 2023).
  • Digitale Beteiligungsprozesse sind anfällig für Fehlfunktionen, z. B. durch Überlastung, und Manipulation, etwa durch gezieltes Fördern bestimmter Meinungen (Kreps & Kriner 2023).

In wissenschaftlichen Analysen vertreten viele die Auffassung, dass KI-Systeme zur Verbesserung demokratischer Partizipation beitragen können. Dafür wird aber die Entwicklung digitaler demokratischer Infrastrukturen gefordert, in denen jede:r Einzelne – und nicht Parteien, Lobbygruppen oder Unternehmen – Kontrolle über ihre bzw. seine Daten und Meinungen hat. Zugleich wird betont, dass digitale Partizipation grundlegende Ressourcenprobleme moderner Demokratien – Zeit, Interesse und Wissen – nicht lösen kann. Ebenso kann sie Begegnungen zwischen Menschen, die erst die Ausbildung von Demokratie als Lebensform ermöglichen, nicht ersetzen (Risse 2023).

Braucht Demokratie ein Recht auf Wahrheit und Wissen?

Wichtige Elemente in der Entwicklung moderner Demokratien sind die Abschaffung von Zensur, der freie Zugang zu Informationen und das Recht auf freie Meinungsäußerung. Diese Rechte wurden im Bewusstsein garantiert, dass demokratische Institutionen und Debatten wahrhaftig und damit verlässlich geführt werden sollen. Parlamente wurden daher schon im 19. Jahrhundert als Wissensinstitutionen verstanden und werden als solche heute wiederentdeckt (Rizzoni 2024). Öffentliche Debatten müssen auf der Grundlage stattfinden, dass es als wahr anzusehende Zusammenhänge und richtige Überzeugungen geben kann. Wenn das nicht der Fall ist, können sie sinnlos und beliebig werden (Zürn 2023).

Daraus ergeben sich drei zentrale Diskussionspunkte:

  • Die Digitalisierung des Alltags und deren Dominanz durch große kommerzielle Plattformen hat dazu geführt, dass jene, die Daten über menschliches Verhalten sammeln können, über große Macht verfügen. Die Auswertung und Nutzung dieser Daten ermöglicht es ihnen, Verhalten zu steuern und Handlungsautonomie einzuschränken (Zuboff 2019).
  • Generative KI-Systeme ermöglichen die Imitation von Stimmen und Bildern (Deepfakes) und die massenhafte Produktion von Texten. Sie können Handeln und Meinungsäußerungen von Menschen vortäuschen und damit die Verlässlichkeit im Umgang miteinander untergraben (ITA-AIT 2022a / PDF, 189 KB).
  • Der Umgang mit Digitalisierung setzt voraus, dass die dahinterstehenden Technologien in ihrer Funktion und in ihren Auswirkungen verstanden werden können. Eine davon ist, dass Digitalisierung den Zugang zu und das Angebot von Wissen verändert. Datensammlung und -auswertung kann zu erheblichen Verzerrungen führen, z. B. wenn Informationen in anderen Sprachen als Englisch unterdrückt werden oder Vorurteile gegenüber Geschlecht, Herkunft oder Religion in Analysen einfließen (Risse 2023).

In wissenschaftlichen Debatten nimmt die Aufmerksamkeit für epistemische Fragen zu. Das sind Fragen, die sich auf die Wissensgrundlagen menschlichen Handelns beziehen. Sie betreffen das Wissen über sich selbst, über andere und über das Zusammenleben. Damit Menschen in Freiheit ihr (Zusammen-)Leben gestalten können, wird gefordert, dass ihre Rechte als "epistemische Subjekte" geschützt werden. Das heißt, dass sie Zugang zum Lernen und zu verlässlichem Wissen haben, dass es klare Regeln über den Zugang zu Wissen über sie selbst gibt und dass Wissen für alle in gleicher Weise zugänglich bleibt (Risse 2023).

Wie verändern digitale Lebenswelten Parlamente?

Parlamente sind zentrale Institutionen der Demokratie. Ihre Verfahren sollen transparente und nachvollziehbare Entscheidungen ermöglichen. Parlamentarische Repräsentation soll Vertrauen zwischen Wähler:innen und Mandatar:innen schaffen und der Politik einen realen Ort geben. Parlamente sollen die Vielfalt der Meinungen und Konflikte in einer Gesellschaft widerspiegeln, Mehrheiten und Minderheiten sichtbar machen und Gespräche ermöglichen.

In diesem Bereich werden neue Herausforderungen identifiziert:

  • Parlamentarische Demokratien sind durch ein Ungleichgewicht (Asymmetrie) der Ressourcen von Regierung/Verwaltung und Parlament geprägt. Weltweit nimmt die Dynamik der Digitalisierung der Verwaltung zu. Zentrale Elemente davon sind die Entwicklung automatisierter Kontroll- und Entscheidungssysteme. Diese erfordern mehr und komplexere Regelungen und eine ständige Anpassung der Regeln an technologische Entwicklungen (Ulbrich & Frey 2024).
  • Mit dem Einsatz datengetriebener Systeme in der Verwaltung steigen die Anforderungen an Kontrolle und die Feststellung menschlicher Verantwortung, die zentrale Elemente parlamentarischer Demokratie darstellen. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren, da Letztere einen großen Teil der technologischen Infrastruktur entwickeln und betreiben (Thiel 2023; Ulbrich & Frey 2024).
  • Die Beschleunigung von Kommunikation in Politik und Gesellschaft steht im Gegensatz zu den Verfahren und der Organisation von Parlamenten. Diese wurden historisch so gestaltet, dass sie eine gleichberechtigte und strukturierte Teilnahme an Debatten ermöglichten. Im Mittelpunkt stand dabei die zeitliche Planung von Abläufen. Verfahrensregeln sollten helfen, Affekte zu kontrollieren, und Zeit geben, um sich in reflektierter Weise mit einer Frage zu befassen (Konrath 2023).

In wissenschaftlichen Debatten wird vorgeschlagen, dass Parlamente ihre Rolle als Zentrum von Wissen und Orte der Debatte neu beleben. Als wichtiger Teil davon wird der Ausbau von Beteiligungsmöglichkeiten der Öffentlichkeit gesehen (Rizzoni 2024; Judge & Leston-Bandeira 2021). Gleichzeitig sollen Parlamente technologisch aufgerüstet werden, um als Gegengewicht zu (digitalisierter) Verwaltung und Gerichten ein demokratisches Datenzentrum zu bilden. Dieses soll Mandatar:innen und der Öffentlichkeit ermöglichen, Verwaltungs- und Rechtsdaten sinnvoll zu verarbeiten und als Grundlage für die eigene Kontroll- und Steuerungsfunktion zu nutzen. Zugleich könnten Parlamente Garanten einer nicht von Privaten abhängigen, neuen Institution demokratischer Beteiligung in der digitalen Welt werden (Ulbrich & Frey 2024).

Wie kann der demokratische Rechtsstaat sichergestellt werden?

Ein zentrales Thema in allen Debatten über Staat und Demokratie in einer digitalisierten Welt ist die Bereitstellung der entsprechenden Infrastruktur (einschließlich geeigneter Technologien). Sie soll die Abwicklung von Wahlen, die Sicherung der Grundrechte, die verlässliche Durchführung von politischen und rechtlichen Debatten sowie die Sicherstellung von Rechtsetzung, Verwaltung und Rechtsprechung gewährleisten. In der Theorie soll diese Infrastruktur allein von staatlichen Institutionen zur Verfügung gestellt werden. In der Praxis passiert dies aber in zunehmender Abhängigkeit von großen Unternehmen in den Bereichen digitaler Infrastruktur und Kommunikation (Ulbrich & Frey 2024).

In Auseinandersetzung mit dieser Abhängigkeit wurde das Konzept der digitalen Souveränität entwickelt, das etwa im Mittelpunkt eines digitalen Aktionsplans der Bundesregierung steht. Digitale Souveränität bedeutet, dass staatliche Institutionen in der Lage sind, eigenständig und unabhängig Entscheidungen über technische Infrastruktur, Softwarelösungen und Datennutzung zu treffen. Sie sollen nicht von einzelnen Akteur:innen abhängig sein (ITA-AIT 2022b / PDF, 149 KB; Jäger u. a. 2022). Im Interesse des demokratischen Rechtsstaats wird vorgeschlagen, digitale Souveränität mit Gewaltenteilung zu denken: Wenn Parlamente, Verwaltung und Gerichte unabhängig voneinander zu Datenzentren werden, kann weder einer von ihnen zum zentralen Akteur werden, noch kann die digitale Infrastruktur eines Staates auf einmal angegriffen werden (Ulbrich & Frey 2024).

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