Fachinfos - Fachdossiers 25.07.2022

Wie wird in Österreich über Sterbehilfe diskutiert?

Das Fachdossier bietet einen Überblick der Debatten und Maßnahmen betreffend Sterbehilfe. (Erstveröffentlichung am 27.07.2021, aktualisiert aufgrund neuer Regelungen am 27.10.2021 und des Inkrafttretens des Sterbeverfügungsgesetzes am 25.07.2022)

Wie wird in Österreich über Sterbehilfe diskutiert?

Aufgrund der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) vom 11. Dezember 2020, dass das Verbot jeglicher Beihilfe zum Suizid nicht verfassungskonform ist (siehe dazu das Fachdossier „Aufhebung des Verbots der Beihilfe zum Suizid), wird in Österreich aktuell über mögliche gesetzliche Regelungen der Sterbehilfe diskutiert.

Die Begleitung von Sterbenden und der Umgang mit dem Lebensende wird seit mehr als 20 Jahren in Österreich auf politischer Ebene diskutiert. Von Beginn an haben sich alle politischen Parteien skeptisch gegenüber der Tötung auf Verlangen, im Sinne einer aktiven Sterbehilfe, gezeigt. Daraus folgten meist Debatten über das Angebot an Hospiz- und Palliativversorgung – also die medizinische Betreuung von schwerkranken und sterbenden Menschen, bei der nicht die Heilung um jeden Preis im Zentrum steht. Dies wird oft damit begründet, dass Hospiz- und Palliativversorgung die Nachfrage nach Sterbehilfe generell reduzieren würde (siehe unten). Besondere Impulse für diese Debatten gingen vom Nationalrat aus. Die Frage der Beihilfe zum Suizid rückte erst in den letzten Jahren in den Mittelpunkt. 

Enquete „Solidarität mit unseren Sterbenden“, Österreich-Konvent und Patientenverfügung

2001 hielt der Nationalrat die Enquete „Solidarität mit unseren Sterbenden – Aspekte einer humanen Sterbebegleitung in Österreich“ ab. Die Ergebnisse mündeten in einer einstimmigen Entschließung des Nationalrates, mit der aktive Sterbehilfe abgelehnt und Vorgaben für den Ausbau von Hospiz- und Palliativangeboten formuliert wurden.

Im Rahmen des Österreich-Konvents, in dem von 2003 bis 2005 über Reformen der Bundesverfassung diskutiert wurde, wurde die genannte Entschließung aufgegriffen. Der Ausschuss „Grundrechtskatalog“ erarbeitete einen Textvorschlag für ein verfassungsrechtliches Verbot der Tötung auf Verlangen und für ein Grundrecht auf Sterbekarenz.

Die Entschließung 2001 wurde außerdem zum Ausgangspunkt für die Ausarbeitung des Patientenverfügungs-Gesetzes, das 2006 vom Nationalrat beschlossen wurde.

Darüber hinaus besteht seit 2005 Einvernehmen zwischen dem Bund und den Ländern, im Rahmen der jeweils gültigen Art.-15a-Vereinbarung über die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens, den Ausbau einer österreichweit gleichwertigen und flächendeckenden Versorgung im Palliativ- und Hospizbereich vorrangig zu behandeln. Die Regelung über eine Bund-Länder-Vereinbarung ist erforderlich, weil Hospiz- und Palliativangebote nicht klar dem Gesundheits- oder dem Sozialbereich zugeordnet werden können.

Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“, Palliativ- und Hospizangebote

2014/15 befasste sich der Nationalrat im Rahmen der Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“ erneut mit Fragen des Lebensendes. In einem offenen Konsultationsprozess wurden 686 Stellungnahmen eingebracht. Darüber hinaus fand ein intensiver Austausch mit Fachexperten und -expertinnen statt. Schwerpunkte bildeten die Evaluierung von Hospiz- und Palliativangeboten sowie die Patientenverfügung. Weiters wurde über ein Verbot der aktiven Sterbehilfe in der Bundesverfassung diskutiert. Dazu hat die Parlamentsdirektion auch einen europaweiten Vergleich  erstellt: Darin kam der Rechts-, Legislativ- und Wissenschaftliche Dienst der Parlamentsdirektion zu dem Ergebnis, dass es nirgends ein solches verfassungsrechtliches Verbot gibt. Die Empfehlungen der Enquete-Kommission wurden vom Nationalrat in einer Entschließung angenommen, die wiederum als Basis für eine Anpassung des Pflegefondsgesetzes diente. Im Zuge dessen konnten in den Jahren 2017 bis 2021 jährlich zusätzlich 18 Mio. Euro für die Erweiterung der Hospiz- und Palliativangebote zur Verfügung gestellt werden.

Das Bundesgesetz zur partnerschaftlichen Zielsteuerung Gesundheit 2017 und der darauf aufbauende Österreichische Strukturplan Gesundheit sehen diesbezüglich weitere Umsetzungsschritte vor. Ebenso wurde das Patientenverfügungs-Gesetz 2018 mit dem Ziel novelliert, den Zugang zu Hospiz- und Palliativangeboten zu erleichtern und die Verbindlichkeit auf acht Jahre auszuweiten. Außerdem wurde der Budgetdienst des Parlaments in einem Entschließungsantrag beauftragt, Möglichkeiten einer kostengünstigen bzw. kostenfreien Bereitstellung der erforderlichen Beratungsleistungen besonders für einkommensschwache Bevölkerungsschichten zu analysieren. Der Budgetdienst kam zu dem Ergebnis / PDF, 1283 KB, dass die Kostenübernahme in unterschiedlichem Ausmaß einkommensabhängig und bedarfsgeprüft – mit Eigenbeteiligung als Regulativ – erfolgen kann. Aufgrund der Empfehlungen der Enquete-Kommission wurde außerdem das Hospiz- und Palliativforum beim Gesundheitsministerium eingerichtet (Anm.: Keine Website). Es soll insbesondere an der Entwicklung einer Regelfinanzierung für Hospiz- und Palliativeinrichtungen und der Erstellung eines Hospiz- und Palliative-Care-Stufenplanes (ursprünglich für 2020 geplant) mitarbeiten. Dafür hat die Gesundheit Österreich GmbH von 2019 bis 2021 eine Analyse der Finanzierungsmodelle vorgenommen, deren wesentliche Ergebnisse im Juni 2021 veröffentlicht wurden. Auch der VfGH ist in seiner Entscheidung zum assistierten Suizid ausdrücklich auf die Empfehlungen der Enquete-Kommission eingegangen (Rn 102).

Die Position der Bioethikkommission 2015

Verschiedene Institutionen und Organisationen tragen mit ihren Positionen zu der Debatte rund um die rechtliche Regelung der Beihilfe zum Suizid bei. 2015 veröffentlichte die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt die Stellungnahme „Empfehlungen zur Begleitung und Betreuung von Menschen am Lebensende und damit verbundene Fragestellungen“. Darin werden ethische und rechtliche Fragen am Lebensende behandelt und Vorschläge für die Verbesserung bestehender Instrumente und Praktiken gemacht. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder sprach sich gegen ein absolutes Verbot des assistierten Suizids aus und plädierte dafür, individuelle Hilfe in Ausnahmefällen zu ermöglichen.

Regierungsprogramm 2020 und Dialogforum Sterbehilfe

Im Regierungsprogramm 2020-24 wird im Bereich Pflege das Ziel formuliert, Palliativpflege und Hospiz in die Regelfinanzierung zu überführen und bei der Entwicklung einer Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Am selben Tag, an dem der VfGH seine Entscheidung zu § 78 Strafgesetzbuch verkündete (siehe oben), nahm der Nationalrat einstimmig eine Entschließung an, mit der die Bundesregierung aufgefordert wird, ihr selbst formuliertes Ziel möglichst rasch umzusetzen.

Nach der Entscheidung des VfGH zum assistierten Suizid richtete das Bundesministerium für Justiz (BMJ) ein Dialogforum Sterbehilfe ein, um eine Neuregelung vorzubereiten. Neben Vertretern und Vertreterinnen des Bundesministeriums Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) und des Bundeskanzleramts (BKA) sowie Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, von denen der Großteil der Bioethikkommission angehörte, nahmen daran Organisationen aus dem Bereich Hospiz und Suizidprävention sowie VertreterInnen von Religionsgemeinschaften, Berufsvertretungen und Interessenvertretungen (von Menschen mit Behinderungen, Senioren und Seniorinnen und Patienten und Patientinnen) teil. Das Dialogforum veröffentlichte am 28. Juni 2021 einen Schlussbericht, in dem die diskutierten Fragen zusammengefasst werden. Im Zentrum standen demnach folgende Fragen:

  • Wie kann die Verfügbarkeit von Palliativ- und Hospizversorgung ausgebaut werden? Diesbezüglich gab es einen breiten Konsens, demzufolge eine organisatorisch und strukturell gut ausgebaute Palliativ- und Hospizversorgung den Wunsch nach frühzeitiger Beendigung des Lebens reduzieren würde.
  • Wie und von wem kann der freie selbstbestimmte Wille sichergestellt werden?
  • Soll Sterbehilfe auf bestimmte Personengruppen beschränkt werden? Wenn Ja, wie kann der Zugang eingeschränkt werden, ohne den freien Willen des/der Einzelnen damit zu beschränken? Einzelne TeilnehmerInnen hielten eine Beschränkung grundsätzlich nicht mit der Entscheidung des VfGH vereinbar. Die meisten Stimmen plädierten für Entscheidungsfähigkeit sowie Volljährigkeit als Mindestvoraussetzung.
  • Wie kann der Prozess der Sterbehilfe strukturiert werden?
  • Wer soll Sterbehilfe leisten dürfen?
  • In welcher Form soll/muss es Beratungsangebote geben?

Im Anschluss an die Zusammenfassung der erörterten Fragen und Positionen stellt der Bericht ergänzende Stellungnahmen der TeilnehmerInnen sowie von Privatpersonen, Organisationen und Einrichtungen zusammenfassend dar. Das zuständige BMJ hält dezidiert fest, dass der Bericht keine Empfehlungen für eine Neuregelung enthält, sondern dafür gedacht ist, „einen Überblick des Meinungsbildes zu verschaffen und als Grundlage für weitere Schritte in Umsetzung des VfGH-Erkenntnisses (G 139/2019-71) zu dienen.“

Ministerialentwurf Oktober 2021 und Begutachtungs­verfahren

Am 23. Oktober 2021 wurden drei Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Beihilfe zum Suizid präsentiert. Die Bundesministerin für Justiz legte Entwürfe für die Erlassung eines Sterbeverfügungsgesetzes und Änderungen des Strafgesetzbuches und des Suchtmittelgesetzes (150/ME) vor. Mit dem Sterbeverfügungsgesetz soll ein zweistufiger Prozess für die Assistenz beim Suizid eingeführt werden: Zuerst soll eine Aufklärung und Untersuchung durch zwei ÄrztInnen erfolgen. Nach drei Monaten (in Ausnahmefällen 14 Tagen) kann dann bei einer Notarin/einem Notar eine sogenannte Sterbeverfügung errichtet werden. Diese ermöglicht den Bezug eines zugelassenen Präparats in einer Apotheke. Die Sterbeverfügung bleibt ein Jahr gültig. Das Sterbeverfügungsgesetz bestimmt, unter welchen Bedingungen (z.B. schwere Erkrankungen) jemand eine Sterbeverfügung errichten darf. Im Strafgesetzbuch würde die Hilfeleistung beim Suizid dementsprechend neu geregelt. Bestimmte Formen der Assistenz sollen strafbar bleiben. Das Suchtmittelgesetz muss geändert werden, um die Abgabe besonderer Präparate zur Durchführung des Suizids zu ermöglichen.

Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz legte zeitgleich einen Ministerialentwurf für die Errichtung eines Hospiz- und Palliativfonds (151/ME) vor. Mit diesem Gesetz sollen vor allem der weitere Aus- und Aufbau von Palliativ- und Hospizversorgung in ganz Österreich geregelt und die Finanzierung sichergestellt werden. Damit würden weitere Forderungen der parlamentarischen Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“ erfüllt werden.

Im Rahmen des vorparlamentarischen Begutachtungsverfahrens können bis 12. November 2021 Stellungnahmen zu beiden Gesetzentwürfen abgegeben werden. Damit die Gesetze rechtzeitig in Kraft treten können, müssen die Regierungsvorlagen bis zu den Novembersitzungen des Nationalrates (16. bis 19. November 2021) eingebracht werden. Für den 7. Dezember 2021 ist eine Sitzung des Justizausschusses vorgesehen, für den 9. Dezember 2021 eine des Gesundheitsausschusses. In Anschluss daran kann der Nationalrat am 15. oder 16. Dezember 2021 über die Gesetzentwürfe abstimmen, der Bundesrat kann sie am 21. oder 22. Dezember 2021 behandeln. Damit wäre es möglich, dass die Gesetze rechtzeitig zum Jahresbeginn 2022 in Kraft treten.

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