Nationalrat, XXV.GPStenographisches Protokoll51. Sitzung / Seite 154

HomeSeite 1Vorherige SeiteNächste Seite

Ich darf auch darauf verweisen, dass unser Schulsystem jährlich mehr Menschen entlässt, die nicht sinnerfassend lesen und schreiben können, als wir jährlich in diesen Fördermaßnahmen drinhaben. Die sind für 4 200 Personen vorgesehen. Jedes Jahr verlassen etwa 8 000 Menschen unser Schulsystem, die direkt in dieses Förderpro­gramm hineinkommen könnten. Ich glaube, viel klarer als mit diesem Hinweis kann man das Versagen eines Systems nicht dokumentieren.

Wenn wir nicht in der Lage sind, ein Schulsystem, das Absolventinnen und Absol­venten nach neun Jahren Schulpflicht wenigstens als sinnerfassende Leserinnen und Leser entlässt, zu organisieren, dann sollten wir das tun, was uns die Industriellen­vereinigung vorgestern vorgeschlagen hat, nämlich eine grundlegende Schulreform mit einer gemeinsamen modernen Schule, die auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler endlich eingehen kann. (Beifall bei Grünen und NEOS.)

Lassen Sie mich auch noch ein Wort zu diesen Menschen, die hier betroffen sind, sagen. Ich habe mir eine Studie des Soziologen Manfred Krenn angesehen, der die Ursachen ein bisschen analysiert hat. Ich möchte die Zahlen der Kollegin Jank nicht in Zweifel ziehen, aber der Soziologe Krenn spricht davon, dass ein Sechstel der Unter­suchten Migrationshintergrund hat, klassische Biographien, keiner aus einer Akademi­kerfamilie kommt, allesamt aus armen Schichten, meist übrigens aus dem ländlichen Umfeld – sie kommen dann nach Wien, Kollegin Jank –, dass es sehr häufig auch Kinder mit körperlicher Behinderung sind, die am Schulsystem scheitern, die eine hart­herzige, eine hänselnde Umwelt in der Schule haben – das kennen wir leider auch alles –, denen die Angst vor der Schule schon bei Schuleintritt quasi eingepflanzt worden ist und die dann zwei Möglichkeiten haben: renitent zu handeln oder sich dem System zu verweigern; das Ergebnis ist leider in beiden Fällen dasselbe.

Ich möchte, weil es mich sehr berührt hat, doch vorlesen, was Manfred Krenn darüber schreibt.

„Die Betroffenen erzählen von quälender Scham und anstrengenden Bemühungen, den Makel zu verbergen.“ – Der „Makel“ ist, nicht sinnerfassend lesen und schreiben zu können. – „Überraschend gut geht es hingegen meist im Berufsleben. Das liegt nicht nur an den Hilfsarbeitertätigkeiten, in denen Analphabeten unterkommen, wo es niemandem auffällt, dass sie nicht lesen können. Einer der Befragten hat es zum Computerprogrammierer gebracht. Häufig sind funktionale Analphabeten besonders fleißig, um ihren Makel zu kompensieren, lassen sich viel gefallen. In einem Fall gelang es sogar, ein kleines Unternehmen aufzubauen. Buchhaltung und Bürokratie lässt er von seiner Schwester, die er ins Vertrauen gezogen hat, erledigen, Termine und Kostenvoranschläge macht er im Kopf.“

Das ist die Situation von sehr, sehr vielen Menschen. Es sind nicht die Dummen, die in den Genuss dieses Programms kommen, es sind Menschen, die benachteiligt worden sind, und wir haben die Pflicht, diesen Menschen zu helfen. Von daher ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, dass wir dem heute zustimmen. – Danke. (Beifall bei den Grünen.)

16.11


Präsidentin Doris Bures: Als Nächster zu Wort gemeldet ist Herr Abgeordneter Lugar. 9 Minuten freiwillige Redezeitbeschränkung. – Bitte.

 


16.11.42

Abgeordneter Ing. Robert Lugar (STRONACH): Frau Präsidentin! Frau Minister! Selbstverständlich sind auch wir dafür, dass es einen Ausgleich für das Versagen des Bildungssystems gibt und dass jene unterstützt werden, die von diesem System vernachlässigt wurden, die auf der Strecke geblieben sind, auch schuldlos auf der


HomeSeite 1Vorherige SeiteNächste Seite