Nationalrat, XXVI.GPStenographisches Protokoll34. Sitzung, 4. Juli 2018 / Seite 135

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15.04.36

Abgeordneter Dr. Peter Pilz (PILZ): Herr Präsident! Willkommen, Herr Bundes­kanz­ler! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Bundeskanzler, das muss für Sie ein tolles Gefühl sein: Sie kommen in einen Plenarsaal, und der Plenarsaal ist fast voll. Sie erinnern sich an Brüssel vor wenigen Tagen: Sie kommen in einen Plenarsaal, um Ihr Programm für den Ratsvorsitz vorzustellen, und der Saal ist leer, gähnend leer. Nie­mand will den österreichischen Kanzler hören (Abg. Höbart: Sie aber auch niemand! – Abg. Winzig: Sie auch nicht!), und ich behaupte, es liegt nicht an Österreich. Es liegt mit Sicherheit nicht an Österreich. Wenn Sie sich diese Bilder anschauen, einen leeren Plenarsaal – das hat es bei der Vorstellung eines Ratsvorsitzes durch einen Regie­rungschef in der Geschichte des Europaparlaments so noch nicht gegeben.

Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist: Warum? – Dazu muss man Brüssel kennen, und der Herr Bundeskanzler wird Brüssel ausreichend kennen, um zu wissen, dass ein Signal dieser Art, bei dem seine eigenen Parteifreunde aus ganz Europa scharen­weise seine Vorstellungsrede boykottiert haben, kein Zeichen des Desinteresses, son­dern der Ablehnung ist, weil man in Brüssel genau gewusst hat, wer Sebastian Kurz als Bundeskanzler dieser Republik ist, was er vertritt und wer sein Koalitions­partner ist. (Zwischenrufe bei der ÖVP.)

Sie, Herr Bundeskanzler, sind in Brüssel durchgefallen, und wir sollten uns gemeinsam im Plenum des Nationalrates überlegen, warum das so gekommen ist.

Meiner Meinung nach geht es um einen ganz einfachen Punkt. Europa, das spüren wir hier im Haus, das spüren unsere Bürgerinnen und Bürger in Österreich und in der ge­samten Europäischen Union, steht an einem bedeutenden politischen Scheideweg. Auf der einen Seite sind die Kräfte, die sagen, nur mit Europa geht es weiter; von den großen sozialen Fragen bis zu den großen Bildungsfragen, bis zu den großen Steuer­fragen und vor allem bis zu den großen Fragen von Integration und Einwanderung lässt sich alles nur gemeinsam lösen. Es gibt auf globale Fragen nur noch bestenfalls europäische Antworten. Das ist die eine Seite. (Beifall bei der Liste Pilz und bei Abge­ordneten der SPÖ.)

Auf der anderen Seite stehen die Trittbrettfahrer. Das Rezept der Trittbrettfahrer ist sehr einfach: Wir nehmen, was wir bekommen, aber wir beteiligen uns an nichts! Her mit Steuergeldern, her mit Subventionen, her mit Posten, aber wir tun nichts für Europa! – In Österreich hat es diese Trittbrettfahrerhaltung in der Geschichte unseres Landes in der Europäischen Union nie gegeben, und ich bin stolz darauf, dass die Republik Österreich niemals Trittbrettfahrer in Brüssel war – bis jetzt, und das ist ein entschei­dender Punkt. Dieser Ratsvorsitz unterscheidet sich völlig von den beiden Ratsvor­sitzen, die Österreich zuvor innegehabt hat: zwei europäische Ratsvorsitze und ein anti­europäischer Ratsvorsitz.

Herr Bundeskanzler Kurz, es war gemeinsam mit Ihrem Koalitionspartner eine be­wusste politische Entscheidung, dass Sie sich diesmal mit Ihrer Bundesregierung auf die andere Seite stellen. Sie wissen doch, wie dieser Slogan „Ein Europa, das schützt“ entstanden ist. Das wurde bereits bei den Ratspräsidentschaften von Estland und Bul­garien gemeinsam mit Österreich vorbereitet, und der Kern waren – und das können Sie nach wie vor in Dokumenten nachlesen – diese fünf Prioritäten: eine Union für Arbeitsplätze, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit; eine Union, die jeden ihrer Bürger befähigt und schützt – und das heißt vor allem Integration und Bildung –; auf dem Weg zu einer Energieunion mit einer zukunftsorientierten Klimapolitik; eine Union der Frei­heit, der Sicherheit und des Rechts und die Union als starker globaler Akteur.

Was ist von all dem übrig geblieben? – Flüchtlinge, nur Flüchtlinge, Flüchtlingsabwehr. In einer Zeit, in der wir alle wissen, dass wir diese großen Fragen nur gemeinsam in


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