News 12.09.2024, 15:14

Wie sich das österreichische Wahlsystem entwickelte

Zuerst durften nur Männer wählen, die einen gewissen Stand hatten oder genug Steuern zahlten. 1907 waren es dann alle Männer über 24 Jahren. Bis Frauen wählen konnten, dauerte es noch weitere elf Jahre. Erst das Ende der Monarchie gab der Frau ihre Stimme. Doch das war nur ein Zwischenschritt in der langen Entwicklung des Wahlsystems, wie wir es heute kennen.

Nach dem nationalsozialistischem Regime stand die Zweite Republik vor einer Frage: Soll man ein konkurrierendes Mehrheitswahlrecht oder ein konsensorientiertes Verhältniswahlrecht einführen? Man entschied sich aufgrund der konfliktreichen Geschichte für zweiteres. In den meisten Bundesländern wurde zudem ein Proporzsystem eingeführt. Parteien, die genug Stimmen bekommen haben, hatten einen automatischen Anspruch auf eine Regierungsbeteiligung. Später wurde dies jedoch großteils wieder abgeschafft.

Die Folgen einer Minderheitsregierung

"Die Geschichte des Wahlsystems ist eine Entwicklung zu mehr Proportionalität und Anbindung an die Wählerinnen und Wähler", erklärt Politikwissenschafterin Katrin Praprotnik von der Universität Graz im Gespräch mit der Parlamentsdirektion. Sie ist Mitherausgeberin des Buchs "Das politische System Österreichs" und kennt die Entwicklung des österreichischen Wahlsystems.

Das österreichische Wahlsystem entwickelte sich über die Jahrzehnte mehrmals weiter.

Österreichs Wahlsystem machte drei große Veränderungen durch, die erste 1970. Es sei kein Zufall, dass sie just in jene Zeit fiel, als es die einzige Minderheitsregierung Österreichs unter Bruno Kreisky gab, sagt Praprotnik. Denn: Kreiskys SPÖ-Alleinregierung wurde damals von der FPÖ "mit dem Ziel einer Wahlrechtsreform" gestützt. Das Ziel hat sie auch erreicht.

Mit der Reform von 1970 gab es statt 165 dann 183 Mandate, während die Wahlkreise von 25 auf neun reduziert wurden. Außerdem kam ein anderes mathematisches Verfahren zur Berechnung zum Einsatz. Das hat zu einer Mandatsberechnung geführt, die kleinere Parteien begünstigt. Davor gab es ein Ungleichgewicht: Kleine Parteien wurden bei der Mandatsvergabe zugunsten der beiden großen Parteien benachteiligt. Die FPÖ wollte das ändern. Laut Praprotniks Forschung hat sie das auch geschafft: Die Mandate wurden verhältnismäßiger vergeben, der Nachteil für Kleinparteien war nach 1970 ausgemerzt.

Weg frei für neue Parteien

Für Praprotnik ist es ein Paradebeispiel wie ein theoretisch wirkendes Thema, wie zum Beispiel das mathematische Verfahren zur Mandatsberechnung, in Wahrheit hochpolitisch ist. "Denn die Entscheidung für ein Wahlrecht bestimmt mit, wie ein Parteiensystem aussieht, wie der Nationalrat aussieht und wie eine Regierung aussieht." Durch diese Reform gab es künftig eine Koalitionsalternative zu Rot-Schwarz.

Die Folge war laut Praprotnik eine Normalisierung der Parteienlandschaft in den Achtzigern und Neunzigern. Das Verhältniswahlrecht ist eigentlich durch eine Mehrparteienlandschaft gekennzeichnet – Österreich stach durch sein Zwei- bzw. Dreiparteiensystem hervor. Mit der Zeit wuchs die Parteienlandschaft aber auf eine üblichere Größe an. Derzeit sind fünf Parteien im Nationalrat vertreten.

Dritte Ebene beim Wahlgang

Die zweite größere Änderung im Wahlsystem kam 1992, als man eine dritte Ebene beim Wahlgang einführte. Künftig konnte man seine Stimme nicht nur auf Bundes- und Landesebene vergeben, sondern auch auf regionaler Ebene. Die Idee war, wenn es auf regionaler Ebene schon Grundmandate zu vergeben gibt, müssen sich Politiker:innen vermehrt in ihrer Heimatregion profilieren.

Dafür wurden 43 neue Regionalwahlkreise in ganz Österreich eingeführt. Mitte der 2000er-Jahre schrumpften sie auf 39 - eine Konsequenz der Gemeindezusammenlegungen in der Steiermark.

Außerdem wurden Vorzugsstimmen ausgebaut: Wähler:innen sollten Kandidat:innen direkt unterstützen und sie auf den Regional-, Landes- und Bundeslisten nach vorne reihen können. Kandidat:innen mit genügend Stimmen können – in der Theorie – so ein Mandat ergattern, das sie sonst nicht bekommen hätten.

Die Praxis habe aber gezeigt, dass einerseits die Hürden zu hoch sind und es andererseits die Spitzenkandidat:innen der Parteien sind, die die meisten Vorzugsstimmen bekommen, erklärt die Politikwissenschafterin.

Briefwahl und junge Wähler:innen

Die letzte Aktualisierung des Wahlrechts gab es 2007: Es kam zur Senkung des aktiven Wahlalters von 18 auf 16 Jahre und eine Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre.

Die frühere Einbindung von Bürger:innen in den demokratischen Prozess habe vor allem den Vorteil gehabt, dass die 16-Jährigen mit ihrer neuen Verantwortung nicht allein gelassen werden mussten. "Wenn man so jungen Menschen das Wahlrecht gibt, befinden sie sich in der Regel noch im Schulsystem und können dort auch begleitet und unterstützt werden", so Praprotnik. Eine Studie der Universität Wien zeigte 2017, dass 16- bis 17-jährige Erstwähler:innen besser informiert waren als ältere Erstwähler:innen.

Österreich nimmt mit seinem Wahlalter von 16 Jahren eine Vorreiterrolle ein, in Europa dürfen 16-Jährige sonst nur in Malta ihr Parlament wählen. Und auch bei einer anderen Änderung machte sich Österreich zur Ausnahme: In den meisten Ländern der EU beträgt die Amtszeit vier Jahre.

Die letzte wesentliche Änderung, die 2007 eingeführt wurde, war eine Ausweitung der Briefwahl. Die war davor nur als Notmaßnahme für Menschen gedacht, die es gesundheitlich nicht ins Wahllokal geschafft hätten. Mit der Reform können nun alle Wahlberechtigte ihre Stimme abgeben.

1970 1992 2007
Mandate 183 183 183
Legislaturperiode 4 4 5
Wahlkreise 9 53 (später 49) 49
Prozenthürde 5 Prozent 4 Prozent 4 Prozent
Aktives Wahlalter 19 18 16
Passives Wahlalter 25 19 18