Parlamentskorrespondenz Nr. 229 vom 08.03.2022

Außenminister Schallenberg: Ukraine-Krieg ist Angriff auf unser Lebensmodell

Neutralität Österreichs im Zentrum der Aussprache im Außenpolitischen Ausschuss

Wien (PK) – Der Krieg in der Ukraine markiere eine Zeitenwende in Europa und sei nicht nur ein Angriff auf die europäische Sicherheitsarchitektur, sondern auch auf unser Lebensmodell. Das sagte Außenminister Alexander Schallenberg heute in der Aktuellen Aussprache im Außenpolitischen Ausschuss, die die Abgeordneten für eine intensive Debatte zur Neutralität Österreichs nutzten. Auch sonst stand die Aussprache ganz im Zeichen des Ukraine-Krieges. Aktuelle Vermittlungsversuche, Auswirkungen auf andere europäische Staaten und humanitäre Aspekte wurden dabei diskutiert.

Anlässlich der von Schallenberg vorgelegten Jahresvorschau für die EU-Außenpolitik war auch der Beitrittsantrag der Ukraine Thema im Ausschuss. Ein Vollbeitritt sei nicht die einzige Option, um die Ukraine an die EU heranzuführen, es gebe auch Abstufungen, sagte der Außenminister.

Schallenberg: Militärische Neutralität heißt nicht Werteneutralität

Der Krieg in der Ukraine hat auch eine Debatte über die Neutralität Österreichs ausgelöst, die im Ausschuss intensiv fortgeführt wurde. Für Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) habe es zu lange gedauert, bis der Bundeskanzler nach Äußerungen von ÖVP-Kollegen in Bezug auf die Neutralität Österreichs klare Worte gefunden habe. Ihrer Meinung nach müsse Österreich im Sinne einer aktiven Neutralität den Auftrag der Vermittlung und der Diplomatie wahrnehmen. In den vergangenen Tagen und Wochen sei hier nicht immer der richtige Ton getroffen worden, kritisierte Rendi-Wagner. Österreich habe damit die Rolle als Vermittler verspielt. Auch Harald Troch (SPÖ) forderte, zu einer Äquidistanz zurückzukehren und in militärischen Bereichen eine klare Neutralität zu leben. Dann könne Wien auch wieder Ort der internationalen Begegnung werden, meinte er.

Schärfere Kritik kam von den Freiheitlichen. Axel Kassegger (FPÖ) zeigte sich entsetzt über das Verhalten der Bundesregierung in der Neutralitätsdebatte. Dass Russland Österreich auf die Liste der unfreundlichen Staaten gesetzt habe, habe mit kluger Neutralitätspolitik nichts zu tun. Auch die Lieferung von Helmen und Splitterschutzwesten an eine Kriegspartei sei für ihn nicht mit der Neutralität vereinbar. Und auch bei den wirtschaftlichen Sanktionen verhalte sich Österreich sehr einseitig. Die Regierung habe für Kassegger bei der Positionierung des Landes als neutraler Verhandlungsort versagt. Auch Martin Graf (FPÖ) kritisierte die Regierung scharf. Die "Schnellschussmentalität" sei in der aktuellen Situation nicht angebracht.

Helmut Brandstätter (NEOS) hingegen argumentierte, dass die österreichische Mitwirkung an der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sehr wohl verfassungsrechtlich gedeckt sei. Die so oft für ihre Neutralität gelobte Schweiz habe sich den Sanktionen ebenfalls angeschlossen und gebe fast doppelt so viel Geld für ihre Verteidigung aus, so Brandstätter.

Von der ÖVP sah Carmen Jeitler-Cincelli es positiv, dass die Debatte um die Neutralität aktuell mit Leben erfüllt werde. Europa müsse darüber nachdenken, wie es sich sicherheitspolitisch aufstellen wolle. Jeitler-Cincelli ortete im aktuellen Konflikt eine Chance, dass die EU näher zusammenrücke. Zu einer sachlichen Diskussion über die Neutralität rief Martin Engelberg (ÖVP) auf. Es handle sich um ein Ereignis ähnlich wie 9/11 in den USA, das den ganzen Kontinent betreffe. Sich in so einer Situation keine Gedanken darüber zu machen, was das Beste für unser Land sei, wäre verantwortungslos, meinte Engelberg.

Außenminister Schallenberg betonte, dass die Neutralität in der österreichischen Verfassung niedergeschrieben ist. Die Debatte darüber sei aus seiner Sicht künstlich an den Haaren herbeigezogen. Den Beginn des Krieges in der Ukraine am 24. Februar bezeichnete er aber als Zeitenwende. Neutralität dürfe hier nicht missverstanden werden als Äquidistanz. Militärische Neutralität bedeute Bündnisfreiheit, aber keine Werteneutralität. Österreich sei immer auf der Seite des Völkerrechts gestanden, so Schallenberg. Aktuell gebe es nicht nur einen Angriff auf die europäische Sicherheitsarchitektur, sondern auch auf unser Lebensmodell. Das Völkerrecht sei hier unser Schutzschirm. Österreich müsse deshalb genau wissen, wo es stehe.

Israel, Türkei und China in Vermittlerrolle

Zahlreiche Abgeordnete erkundigten sich auch nach der Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Russland und der Ukraine. Reinhold Lopatka (ÖVP) etwa sprach das geplante Treffen der Außenminister in Antalya an und fragte nach der Rolle Österreichs. Pamela Rendi-Wagner (SPÖ) führte die mögliche Vermittlerrolle von Staaten wie Israel oder China an und wollte ebenso wie Ewa Ernst-Dziedzic (Grüne) wissen, welche Möglichkeiten es für Österreich gebe, sich in Bemühungen um eine Waffenruhe oder ein Ende des Krieges einzuschalten. Michel Reimon (Grüne) äußerte sich kritisch gegenüber einer etwaigen Vermittlung durch China, wo etwa Tibet besetzt wurde und Millionen von UigurInnen in Gefangenenlagern seien.

Er sei dankbar, dass Israel und andere Staaten sich diplomatisch bemühen, sagte Schallenberg. Er werde selbst nach Antalya reisen und habe auch Wien bereits als Ort der Begegnung angeboten. In Bezug auf humanitäre Korridore habe er dem russischen Botschafter bei einem Gespräch deutlich gesagt, dass Russland für die Unversehrtheit europäischer StaatsbürgerInnen haftbar gemacht werde. "Das sind Kriegsverbrechen, die hier passieren. Das wird noch Konsequenzen haben", sagte Schallenberg. Zur Rolle Chinas verwies der Außenminister auf eine gemeinsame Erklärung von Russland und China am Rande der Olympischen Spiele, die er als "Kampfansage an die multilaterale Welt, die sich nach 1945 entwickelt hat" bezeichnete.

EU-Perspektive der Westbalkanstaaten

Nach den Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Westbalkanstaaten erkundigten sich Martin Engelberg (ÖVP) und Helmut Brandstätter (NEOS). Engelberg wollte wissen, ob Russland-nahe Kräfte in diesen Staaten sich durch den aktuellen Konflikt ermutigt fühlen könnten und ob die Bemühungen für einen EU-Betritt der Westbalkanstaaten durch die Beitrittsansuchen der Ukraine sowie von Georgien und Moldawien in den Schatten gestellt würden. Brandstätter sprach sich zwar prinzipiell für eine Aufnahme der Westbalkanstaaten in die EU auf. Die aktuelle Situation in Serbien, wo es kaum noch freie Medien gebe und staatsnahe Zeitungen von einem ukrainischen Überfall auf Russland berichteten, müsste der EU aber zu denken geben. Schallenberg zeigte sich in diesem Zusammenhang erfreut, dass der gesamte Balkan der UN-Resolution gegen Russland zugestimmt habe. Das sei ein nicht zu unterschätzendes Signal gewesen, so der Außenminister.

Henrike Brandstötter (NEOS) und Petra Bayr (SPÖ) sprachen eine weitere Problematik im Zusammenhang mit dem Krieg an. Die Ukraine sei einer der wichtigsten Getreide-Exporteure, auch Russland sei ein wichtiger Lieferant von Getreide. Es werde mit einem Totalausfall der Exporte gerechnet, was insbesondere nordafrikanische Länder gefährde, so Brandstötter. Bayr wollte wissen, ob Österreich vor diesem Hintergrund Beiträge zum Welternährungsprogramm leisten werde. Man müsse sich bewusst sein, dass die drohende Getreideknappheit ein Brandbeschleuniger in der Dritten Welt sein könne, so Schallenberg. Die Beiträge zum Welternährungsprogramm seien bereits im vergangenen Jahr massiv aufgestockt worden, sagte der Außenminister.

Von Harald Troch (SPÖ) auf die Verhandlungen zu einem Atomabkommen mit dem Iran angesprochen, meinte Schallenberg, man befinde sich auf der Zielgeraden. Man rechne mit einer rationalen Haltung Russlands, denn auch Moskau könne kein Interesse an einem atomwaffenfähigen Iran haben.  

Schallenberg: EU-Vollbeitritt für Ukraine nicht einzige Option

Geht es um den EU-Beitrittsantrag der Ukraine, informierte Schallenberg, dass der Wunsch nach einem Beitrittskandidatenstatus in den Gesprächen zwischen ihm und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor drei Wochen bereits großes Thema war. Die Ukraine sei zweifelsfrei ein europäischer Staat, man müsse aber vorsichtig sein, wenn es um Erwartungshaltungen bei der ukrainischen Bevölkerung und einer Signalwirkung gegenüber dem Westbalkan gehe. Ein Vollbeitritt sei nicht die einzige Option, um die Ukraine an die EU heranzuführen, es gebe auch Abstufungen, wie man am Beispiel von anderen Ländern wie Norwegen sehe. Man sei sich wohl einig, dass es für die Ukraine keine Aufnahme im Eilverfahren geben werde, sagte Helmut Brandstätter (NEOS) und thematisierte Verbesserungen im Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine.

Man habe in der Vergangenheit gesehen, dass rasche Aufnahmen in die EU aufgrund von rein politischen Motiven, ohne etwa wirtschaftliche Faktoren oder die Kopenhagener Kriterien mit zu bedenken, zu problematischen Ergebnissen geführt habe, sagte Petra Bayr (SPÖ). Sie sehe es zudem als problematisch, innerhalb der EU vor dem Hintergrund der Medienfreiheit Russia Today und Sputnik "zuzudrehen".

Das sei ein heikles Thema, so Schallenberg. Bei Russia Today und Sputnik handle es sich aber um "Propagandamaschinen", die mit Medienfreiheit oder "normalen Medien" nichts mehr zu tun hätten. Es gebe hier legitimierweise die Möglichkeit, zu unterscheiden.

Vor einem möglichen Domino-Effekt am Westbalkan im Zusammenhang mit der Situation in der Ukraine warnte Grün-Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic. Schon jetzt würden sich Auswirkungen auf den Balkan zeigen, der sich nach wie vor in einer fragilen Situation befinde.

Was die Annäherung des Westbalkans an die EU betrifft, habe er Hoffnung, dass es wieder zu Bewegung kommt. Um einen Domino-Effekt zu vermeiden, sollte die Union jene Schritte setzen, die Österreich schon lange fordere. Dazu zählen ein möglichst rascher Verhandlungsstart mit Albanien und Nordmazedonien, Fortschritte im Berliner Prozess, eine Visa-Liberalisierung für den Kosovo und die Verstärkung der Präsenz vor Ort. "Wir als EU müssen klar signalisieren, dass der Westbalkan zu uns gehört. Wir können hier kein Vakuum zulassen", so Schallenberg.

Anlass für die Diskussion über die Erweiterungspolitik der EU war die von Schallenberg Ende Jänner und damit noch vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine vorgelegte Jahresvorschau für die EU-Außenpolitik (III 542 d.B.). Wien tritt darin weiterhin für die Stärkung der EU als internationaler Akteur ein. Dazu zählen etwa die Bewältigung geopolitischer Herausforderungen im globalen Umfeld nach COVID-19, die Vertretung europäischer Interessen und Werte gegenüber Partnern, Außenbeziehungen der Union, Fragen der strategischen Autonomie, des Multilateralismus und der internationalen Zusammenarbeit, Sicherheit und Verteidigung, Fragen betreffend Handel und Wertschöpfungsketten und des Grenzschutzes, wie im Bericht zu lesen ist. Die Union will die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich Sicherheit und Verteidigung 2022 weiter stärken. Ziel ist ein Grundsatzdokument in Form eines strategischen Kompasses für Sicherheit und Verteidigung, der zu einem gemeinsamen politischen Verständnis und zu einer stärker zielorientierten Planung und Entwicklung von Verteidigungsfähigkeiten beitragen soll. Geplant ist eine Annahme des strategischen Kompasses von den EU-Mitgliedsstaaten noch in diesem Jahr.

Bezüglich Sicherheitsunion, zu der etwa Maßnahmen zur Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Terrorismus und organisierter Kriminalität, zur Verhütung und Aufdeckung hybrider Bedrohungen sowie zur Förderung der Cybersicherheit und zur Erhöhung der Resilienz kritischer Infrastruktur zählen, will Österreich seine Bemühungen fortsetzen. Geht es um die Bestrebungen der Kommission, eine echte europäische Verteidigungsunion zu schaffen und im Rahmen der EU für ein stärkeres Europa als Teil einer stärkeren NATO zu arbeiten, wird Österreich auf die Wahrung seiner Interessen im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik besonderes Augenmerk legen, so das Außenressort in der Jahresvorschau. (Fortsetzung Außenpolitischer Ausschuss) kar/keg