Bibliothek - Aktueller Tipp 05.02.2025

Alle Menschen wurden Brüder? – Österreichs EU-Beitritt 1995

Eine Hymne auf Europa?

"Europa muss die Herzen der Menschen erreichen" – so lautete 2020 die Überschrift eines Beitrages des damaligen Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka in der Publikation "Fundamente. Meilensteine der Republik". Damals im Fokus: das 25-Jahr Jubiläum des Beitritts Österreich zur Europäischen Gemeinschaft (heute: Europäische Union). Fünf Jahre später, nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ("Brexit"), dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie, dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und inmitten einer herausfordernden wirtschaftlichen Lage, steht Österreichs EU-Beitritt einmal mehr im Zentrum des Erinnerns.

Ob in den letzten fünf Jahren – unter diesen Vorzeichen – Europa die Herzen der Menschen vermehrt erreichen konnte, bleibt der persönlichen Einschätzung überlassen. Auf einer abstrakteren Ebene hält das Eurobarometer (Befragungszeitraum: Oktober 2024) jedenfalls fest: "Österreicher haben mehr Vertrauen in die EU", das seien mit 51 % der Befragten ein Zuwachs von fünf Prozentpunkten im Vergleich zum vorangehenden Halbjahr. Was die Frage nach dem Zugehörigkeitsgefühl anbelangt, so liegt der Wert nur knapp darüber: 53 % der Menschen in Österreich (immerhin 63 % sind es im EU-Durchschnitt) fühlen sich der Europäischen Union verbunden.

Die Mehrheit der Menschen in Österreich fühlen sich der Europäischen Union verbunden.

Eine Hymne für Europa I

Verbundenheit und das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stärken – diese Vorhaben sind eng mit der Geschichte der Europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Als Symbol dieses Strebens nach Zusammengehörigkeit (wie sie auch durch eine gemeinsame Flagge oder eine gemeinsame Währung zum Ausdruck gebracht werden soll) und um "die Herzen der Menschen" auf der Ebene der Musik zu erreichen, wurde schon früh über eine gemeinsame Hymne nachgedacht. Nicht erst seit der Gründung des Europarates 1949 wird die Frage nach einer – nach innen wie nach außen – identitätsstiftenden europäischen Hymne diskutiert. Bereits die Proponenten der 1923 von Richard N. Coudenhove-Calergi (1894-1972) in Wien gegründeten Pan-Europa-Bewegung beschlossen, die "Ode an die Freude" aus dem vierten Satz der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens (uraufgeführt wurde die Sinfonie 1824) als Abschluss der von ihnen veranstalteten Kongresse zu spielen. Coudenhove-Calergi war es auch, der 1955 in einem Brief an den Direktor des Informationsdienstes des Europarates, Paul M. G. Lévy, das Stück erneut als europäische Hymne vorschlug. Jedoch erst 1972, nach Jahren des Zögerns, vielen Diskussionen und Gegenvorschlägen, billigte das Ministerkomitee des Europarates die "Ode an die Freude" als Europahymne.

"Der Ausschuss empfiehlt..." – Eine Hymne für Europa II

Keinesfalls geklärt war mit dieser Entscheidung jedoch die Frage nach einer Hymne der Europäischen Gemeinschaften  – EGKS, EWG und EURATOM. Wenngleich diese Frage in den 1960er und 1970er Jahren nicht die oberste Priorität besaß, so stand sie mit zunehmenden Diskussionen rund um ein "Europa der Bürger" und der generell voranschreitenden europäischen Einigung wieder vermehrt im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der gleichnamige Ausschuss für das "Europa der Bürger" (nach seinem Vorsitzenden auch "Adonnino-Ausschuss" genannt), der im Juni 1984 vom Europäischen Rat in Fontainebleau eingesetzt wurde, lieferte den in der Frage nach einer Hymne – sowie für viele andere Maßnahmen – entscheidenden Anstoß. Im Abschlussbericht aus dem Juni 1985 heißt es: "Der Ausschuss empfiehlt dem Europäischen Rat, dass diese Hymne bei geeigneten Anlässen und Feiern gespielt werden möge". Diesem und anderen Vorschlägen des Berichtes erteilte der am 28. und 29. Juni 1985 in Mailand tagende Europäische Rat seine Zustimmung und beauftragte die Kommission, sowie die damals zehn Mitgliedsstaaten der EG, mit der Umsetzung. Ein Jahr später, am 29. Mai 1986, erklang in Brüssel vor dem Berlaymont-Gebäude, dem Sitz der Europäischen Kommission, das erste mal die offizielle Europahymne.

"Alle Menschen werden Brüder" – diese in Friedrich Schillers Gedicht formulierte Hoffnung bleibt Utopie. Bis dahin empfiehlt die Parlamentsbibliothek aktuelle Literatur aus ihrem Bestand, die sich zentralen europapolitischen Zukunftsfragen, sowie historisch interessanten Aspekten widmet. Weitere Literatur zu den Themen EU und Europa finden Sie im themenspezifischen Freihandbereich der Parlamentsbibliothek sowie online über das Suchportal.

Literaturauswahl

  • Aichhorn, Ulrike, Jeglitsch, Stefan, Österreichische Hymnen im Spiegel der Zeit: Geschichte und Geschichten von Bundes-, Landes-, Europa- und Inoffiziellen Hymnen (Sramek, Wien 2010) – Bestellen
  • Bieber, Roland, et al., Die Europäische Union: Europarecht und Politik (Helbing Lichtenhahn, Basel / Nomos, Baden-Baden 2023) – Bestellen
  • Beethoven, Ludwig Van, Die Europahymne (öbv&hpt, Wien 2000) – Partitur bestellen
  • Hanschitz, Sylvia Claudia, Die Zeichen und Symbole der Europäischen Union: Eine Rechtshistorische Darstellung (Hochschulschrift, Universität Graz 2011) – Online-Zugriff
  • Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (Hg.), Entscheidung um Europa: Welche EU wollen wir? Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin 2024) – Bestellen
  • Göhring, Walter, Richard Coudenhove-Kalergi: Ein Leben für Paneuropa (Kremayr&Scheriau, Wien 2016) – Bestellen
  • Hansen, Peo, Jonsson, Stefan, Eurafrica: The Untold History of European Integration and Colonialism (Bloomsbury Academic, London 2014) – Online-Zugriff
  • Hauser, Gunther, Das europäische Sicherheits- und Verteidigungssystem und seine Akteure (Bundesministerium für Landesverteidigung, Wien 2024) – Bestellen
  • Joannin, Pascale, Schuman Report on Europe: State of the Union 2024 (Editions Marie B, Namur 2024) – Online-Zugriff
  • Kaeding, Michael et al., Climate Change and the Future of Europe: Views from the Capitals (Springer, Cham 2023) – Bestellen
  • Meyer, Sarah, Die Europäische Union und Österreich, 2023, enthalten in: Praprotnik, Katrin, Perlot, Flooh (Hg.), Das Politische System Österreichs (Böhlau, Wien/Köln 2023), S. 300-323 – Bestellen
  • Schrötter, Hans Jörg, Europa: Das Lexikon (Nomos, Baden-Baden 2024) – Bestellen
  • Thöndl, Michael, Richard Nikolaus Graf Coudenhove-Kalergi, Die "Paneuropa-Union" und der Faschismus 1923-1944 (Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2024) – Bestellen
  • Treude, Sibylle, Europäische Desintegration in Zeiten multipler Krisen: Theoretische Ansätze und Perspektiven für die politische Praxis (Springer Fachmedien, Wiesbaden 2024) – Bestellen
  • Vranitzky, Franz, u. a., Europa neu gedacht: wie ein aktives Österreich zu einem starken Europa beitragen kann (Czernin, Wien 2024) – Bestellen