Fachinfos - Judikaturauswertungen 12.04.2021

Deutschland: „Reservestellvertretung“ im Landtag

„Reservestellvertretung“ im Landtags-Plenum bzw. Ausschuss durch dienstältestes Mitglied ist sachlich gerechtfertigt. VerfGH Baden-Württemberg 19.3.2021, 1 GR 93/19.

Sachverhalt

Nach einer Novelle der Geschäftsordnung des Landtages von Baden-Württemberg (LTGO) im Juni 2019 kommt das Amt des Alterpräsidenten/der Alterspräsidentin nicht mehr dem (lebens-)ältesten Mitglied des Landtages zu, sondern dem dienstältesten – also dem Landtag am längsten angehörenden – (anwesenden) Mitglied. Der/die Alterpräsident/in ist zur Einberufung der Konstituierung des Landtages sowie der Ausschüsse berufen. Auch die Bestimmungen für die „Reservestellvertretung“ (vorübergehende Leitung einer bereits einberufenen Sitzung) knüpfen nunmehr an das Dienstalter der Abgeordneten an.

Ein Abgeordneter der Alternative für Deutschland (AfD) war in der 16. Wahlperiode des Landtages zwischenzeitlich das (lebens-)älteste Mitglied des Landtages und durfte – den neuen Regelungen entsprechend – eine bereits einberufene Ausschusssitzung nicht mehr als „Reservestellvertreter“ leiten. Er strengte ein Organstreitverfahren gegen den Landtag vor dem Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg (VerfGH) an und beantragte die Feststellung, durch die LTGO-Änderungen in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden zu sein.

Entscheidung des Verfassungs­gerichtshofes für das Land Baden-Württemberg

Hinsichtlich der Anknüpfung an das Dienstalter in Bezug auf die Alterspräsidentschaft wies der VerfGH den Antrag des Abgeordneten mangels aktueller Betroffenheit zurück. Die LTGO-Änderungen hätten keinen Einfluss auf die bereits vor ihrer Einführung gesetzten, konstituierenden Akte für die 16. Wahlperiode gehabt. Überdies sei der antragstellende Abgeordnete damals nicht das (lebens-)älteste Mitglied des Landtages gewesen. Für die bevorstehende 17. Wahlperiode habe er eine Verletzung oder unmittelbare Gefährdung seiner Rechtspositionen auch nicht substantiiert darzulegen vermocht (es sei dafür unerheblich, dass er für die nächste Landtagswahl nicht mehr kandidiere).

Alterspräsidentschaft kein „Daueramt“

Die Landesverfassungsbestimmung zur Alterspräsidentschaft beschränke sich zeitlich und sachlich bereits nach dem Wortlaut und ihrem Zweck entsprechend allein auf die Einberufung und die Leitung der ersten Sitzung des Landtages, in der die verfassungsgesetzlich normierte Wahl eines Präsidenten/einer Präsidentin des Landtages erfolge. Nur bis zu diesem Zeitpunkt bedürfe es eines ex lege definierten Leitungsorgans. Auch in der Parlamentspraxis würde ein/e Alterspräsident/in weder protokollarisch berücksichtigt noch in Veröffentlichungen aufscheinen. Der Umstand, dass in der Vergangenheit ehemalige Alterspräsident/inn/en derart bezeichnet wurden, habe keine rechtliche Relevanz und deute allenfalls auf eine gewisse Wertschätzung hin. Darüber hinaus enthielten die Bestimmungen der LTGO keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme eines „Daueramtes“.

Auch die Bestimmungen über die „Reservestellvertretung“ änderten daran nichts: Diese könnten nicht analog herangezogen werden, um ein dauerndes Amt eines Alterspräsidenten/einer Alterspräsidentin herzuleiten: Während die Normen, die die Alterspräsidentschaft behandeln, eine möglichst rasche Herstellung der Funktionsfähigkeit des Landtages bezweckten, zielten jene betreffend die „Reservestellvertretung“ auf eine Sitzungskontinuität ab. Auch im Fall einer dauerhaften Verhinderung sei ein analoger Einsatz der Alterspräsident/inn/en nicht möglich: Jede dauerhafte Verhinderung impliziere zumindest auch eine vorübergehende, weshalb die Regelungen betreffend die „Reservestellvertretung“ zur Anwendung gelängen. Selbst solcherart zur Sitzungsleitung berufene Abgeordnete würden aber – wie im Übrigen auch Alterspräsident/inn/en – nur über eine schwache demokratische Legitimation verfügen, weshalb in diesen Fällen bereits im Rahmen der vertretenden Sitzungsleitung eine unverzügliche Neuwahl des Präsidenten/der Präsidentin geboten wäre. Weiters erkannte der VerfGH kein verfassungsgewohnheitsrechtliches Senioritätsprinzip, da es an Anhaltspunkten für die notwendige Rechtsüberzeugung einer entsprechenden verfassungsrechtlichen Verpflichtung mangelt.

Mangels Legitimation könne sich der Antragsteller auch weder auf das demokratische Prinzip noch auf die Chancengleichheit der Parteien berufen.

Dienstalter ist objektiv sachlich gerechtfertigtes Kriterium für Sonderstellung

In Bezug auf die geänderte „Reservestellvertretung“ sei der Antrag unbegründet: Alle Mitglieder des Landtags hätten zwar grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten. Die zur Koordination der politischen Willensbildung einzurichtenden Organisationsstrukturen und Funktionen dürften aber – im Rahmen des freien Mandats – aufgrund der Parlamentsautonomie weitgehend frei gestaltet werden. Für die rein organisatorischen „Reservestellvertretungen“ im Plenum und in den Ausschüssen sei eine Auswirkung auf die parlamentarische Willensbildung fraglich und selbst wenn eine solche bejaht würde, würde anhand eines sachlich gerechtfertigten Kriteriums (Dienstalter) zwischen den Abgeordneten differenziert. Angesichts des Zieles eines möglichst kontinuierlichen Sitzungsablaufes sei es zulässig, wenn der „Reservestellvertretung“ durch Geschäftsordnungsautonomie ein höherer Stellenwert beigemessen wird als dem mittels Wahl zu erreichenden chancengleichen Zugang zu dieser Funktion eines/einer jeden Abgeordneten. Bei der Bestimmung des Kriteriums komme dem Parlament darüber hinaus ein Ermessens- und Beurteilungsspielraum zu. Eine Aufgabe des bisherigen Kriteriums des Lebensalters bedürfe auch keiner gesonderten Rechtfertigung oder Begründung (im vorliegenden Fall durch Erläuterungen gegeben).

Der VerfGH verwies in Bezug auf den erhobenen Vorwurf, die Änderungen der LTGO bezweckten eine Diskriminierung jüngerer bzw. inhaltlich umstrittener Parteien („Lex AfD“), auf die maßgebliche objektive sachliche Rechtfertigung. Demnach seien nicht subjektive Motive, die allenfalls von am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten in Reden etc. zum Ausdruck gekommen seien, sondern die objektive Fehlerhaftigkeit von Bedeutung. Die Änderungen seien nicht anlassbezogen und von einer breiten Mehrheit getragen, weswegen keine missbräuchliche Handhabung zu erkennen sei.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.

Hinweis: Für den Nationalrat bestimmt § 3 GOG-NR die Modalitäten der Konstituierung nach Wahlen: Die Einberufung erfolgt durch den Bundespräsidenten/die Bundespräsidentin (vgl. auch Art. 27 Abs. 2 B‑VG); die Leitung bis zur Wahl eines/einer neuen Präsidenten/Präsidentin erfolgt durch jene/n der letzten Gesetzgebungsperiode. Für sowohl die vorübergehende als auch dauernde Verhinderung sämtlicher drei Präsident/inn/en des Nationalrates sieht § 6 Abs. 2 GOG-NR einen Altersvorsitz vor, welcher ex lege dem/der an Jahren ältesten, am Sitz des Nationalrates anwesenden Abgeordneten zukommt, der/die gleichzeitig selbst nicht verhindert ist und einer der im Präsidium des Nationalrates vertretenen Partei, d.h. parlamentarischen Klub, angehört.

Der Bundesrat tagt seit 1945 in Permanenz, d.h. wird nicht wie der Nationalrat zu Gesetzgebungsperioden bzw. Tagungen einberufen. Die Geschäftsordnung des Bundesrates bestimmt für die Verhinderung aller (Vize-)Präsident/inn/en in § 9 GO-BR ebenfalls einen Altersvorsitz, allerdings hat der/die älteste Bundesrat/Bundesrätin nur 5 statt der 8 Tage im Nationalrat Zeit, eine Sitzung zur Neuwahl von Präsident/inn/en einzuberufen. Außerdem müssen die „interimistischen Vorsitzenden“ im Bundesrat jeweils den Fraktionen angehören, die bisher den Vorsitz stellten.