Fachinfos - Judikaturauswertungen 31.03.2025

EGMR: Grenzen für die Unwählbarkeit wegen Demonstrationsteilnahme

EGMR 3.9.2024, 32648/22, Shlosberg gg. Russland

Der Beschwerdeführer beteiligte sich in Moskau an einer oppositionellen Demonstration und ermutigte andere, ebenfalls teilzunehmen. Deshalb wurde ihm in der Folge das passive Wahlrecht zur Staatsduma entzogen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erblickte darin eine Verletzung von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK: Die Ausübung der von Art. 11 EMRK geschützten Versammlungsfreiheit könne nämlich nicht als legitime Grundlage für den Entzug des passiven Wahlrechts herangezogen werden.

Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein russischer Oppositionspolitiker, nahm am 23. Jänner 2021 an einer Demonstration zur Unterstützung des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny teil, weshalb über ihn eine Verwaltungsstrafe verhängt wurde. Ihm wurde vorgeworfen, eine nicht genehmigte Demonstration organisiert zu haben. Im Juli 2021 kandidierte der Beschwerdeführer für die Wahlen zur Staatsduma und die zuständige Wahlkommission bestätigte seine Kandidatur. In der Folge legte jedoch ein Mitbewerber ein Rechtsmittel gegen diese Entscheidung ein und beantragte deren Aufhebung. Das Moskauer Stadtgericht gab diesem Rechtsmittel mit Urteil vom 9. August 2021 statt. Begründend führte es aus, dass russische Staatsbürger:innen, die in die Aktivitäten einer von der Justiz als extremistisch deklarierten öffentlichen Organisation involviert gewesen seien, unwählbar seien. Dies betreffe auch andere Personen, wenn sie zur Verwirklichung der Ziele und Aktivitäten der als extremistisch anerkannten Organisation beigetragen und diese unterstützt hätten, einschließlich etwaiger Aussagen, insbesondere in sozialen Medien, oder durch andere Handlungen wie organisatorische, beratende oder sonstige Hilfe. In diesem Sinne habe der Beschwerdeführer mit der Organisation der genannten Demonstration gehandelt; darüber hinaus habe er im Internet den Teilnehmer:innen dieser Demonstration seine Anerkennung ausgesprochen, sie bewundert und ihnen gedankt. All dies stelle eine Beteiligung an den Aktivitäten einer extremistischen Organisation dar.

Dagegen richtete der Beschwerdeführer nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges eine Beschwerde an den EGMR, in der er eine Verletzung in seinen Rechten gemäß Art. 3 des 1. ZP zur EMRK und Art. 18 EMRK geltend machte.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Die Beschwerde sei zulässig: Weil sich der Sachverhalt vor dem Ausscheiden der Russischen Föderation aus der EMRK am 16. September 2022 ereignet habe, sei der Gerichtshof für die Entscheidung dieses Falles zuständig. Daran ändere auch der Umstand nichts, dass die Regierung der Russischen Föderation nicht an dem Verfahren teilgenommen habe.

Die Beschwerde sei auch begründet: Nach der Rechtsprechung des EGMR umfasse Art. 3 des 1. ZP zur EMRK auch subjektive Rechte, einschließlich des Rechts zu wählen und des Rechts bei Wahlen zu kandidieren. Diese Rechte seien jedoch nicht absolut. Vielmehr bestehe Raum für implizit geltende Beschränkungen, und genössen die Vertragsstaaten einen weiten Beurteilungsspielraum. Diese könnten sich zur Rechtfertigung einer Einschränkung auf ein Ziel stützen, das angesichts der Umstände des Einzelfalls mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit und den allgemeinen Zielen der EMRK vereinbar sei. Bei der Beurteilung von Einschränkungen des passiven Wahlrechts sei der EGMR zurückhaltender als bei solchen des aktiven Wahlrechts. Zwar hätten die Staaten einen großen Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der allgemeinen Wahlvoraussetzungen, jedoch erfordere das Prinzip der Wirksamkeit der Rechte, dass das Verfahren zur Feststellung der Wahlberechtigung hinreichende Garantien enthalte, um willkürliche Entscheidungen zu vermeiden.

In diesem Fall sei dem Beschwerdeführer nur sechs Tage nach Bestätigung seiner Kandidatur für die Wahl zur Staatsduma das passive Wahlrecht entzogen worden, was mit der Unterstützung Alexei Navalnys durch seine Demonstrationsteilnahme und die Ermutigung anderer, es ihm gleichzutun, begründet worden sei.

Die Teilnahme an einer friedlichen Versammlung sei ein von Art. 11 EMRK gewährleistetes Recht. Der Gerichtshof habe bereits entschieden, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers für die Ausübung dieses Rechts gegen diese Bestimmung verstoße (vgl. EGMR 27.6.2024, 52263/21, Golikov ua. gg. Russland). Daher könne die Ausübung des Rechts auf Versammlungsfreiheit nicht als Grundlage für eine Strafe, einschließlich des Entzugs des passiven Wahlrechts, herangezogen werden. Dies umso mehr, als das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Verhalten lediglich darin bestanden habe, andere Personen zu ermutigen, sich dieser Demonstration anzuschließen.

Der Entzug des passiven Wahlrechts des Beschwerdeführers sei daher willkürlich erfolgt und habe diesen in seinen von Art. 3 des 1. ZP zur EMRK gewährleisteten Rechten verletzt (vgl. demgegenüber die Judikaturauswertungen zu EGMR 18.5.2021, 63772/16, Galan gg. Italien; 25.7.2024, 42221/18, Ždanoka gg. Lettland [Nr. 2]).

Das vom Beschwerdeführer zur Verletzung von Art. 18 EMRK erstattete Vorbringen überschneide sich mit dem auf Grundlage von Art. 3 des 1. ZP zur EMRK dargelegten. Angesichts der festgestellten Verletzung des Art. 3 des 1. ZP zur EMRK bestehe kein Anlass, die Zulässigkeit oder Begründetheit der Beschwerde auch aus der Perspektive von Art. 18 EMRK zu prüfen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).