Fachinfos - Fachdossiers 02.10.2023

Perspektiven von Kindern im Lichte gesellschaftlicher Entwicklungen

Perspektiven für Kinder in Krisenzeiten

Eine Sonderauswertung des SORA Demokratie Monitors zu jungen Menschen und Demokratie im Auftrag des Parlaments ergab, dass junge Menschen 2022 die Teuerung, den Klimawandel sowie die Schere zwischen Arm und Reich als dringendste politische Anliegen ansehen (S. 19). All diese Themen rücken existenzielle Fragen betreffend Zukunftsperspektiven, Rechte und Probleme von Kindern und Jugendlichen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dementsprechend stehen sie auch auf der Tagesordnung des österreichischen Parlaments.

Im Juni 2023 wurden Maßnahmen im Kampf gegen Kinderarmut beschlossen. Am 5. Juli 2023 wurde das Kinderrechte-Volksbegehren im Nationalrat behandelt. Im Bundesrat gibt es einen eigenen Kinderrechteausschuss. Am 4. Oktober 2023 widmet sich der Bundesrat im Rahmen einer Enquete dem Thema "Kindern Perspektiven geben - unbeschwert, chancenreich und demokratisch erwachsen werden". 

Das vorliegende Fachdossier behandelt die Schwerpunkte der Enquete – Demokratie und Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen, Bildung als Basis für ein gutes Leben sowie Kampf gegen Armut – und stellt Verbindungen zwischen ihnen her.

Festgeschriebene Kinderrechte

Die grundlegendsten Rechte von Kindern sind in der UN-Konvention über die Rechte des Kindes (KRK) festgeschrieben. Diese wurde am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und mit Ausnahme der USA von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unterschrieben. Die KRK beruht auf den vier Prinzipien Gleichbehandlung, Vorrang für das Wohl des Kindes, Recht auf Leben und Entwicklung sowie Achtung vor der Meinung des Kindes. Österreich ratifizierte die KRK 1992. Im Gegensatz zu anderen Staaten wie z. B. Deutschland gilt sie in Österreich nicht unmittelbar. Allerdings wurden 2011 die wichtigsten Kinderrechte in der Verfassung verankert.

Der UN-Kinderrechtsausschuss überwacht die Umsetzung der KRK in den unterzeichnenden Staaten. Die österreichische Bundesregierung (BReg) berichtet den Vereinten Nationen alle fünf Jahre betreffend Maßnahmen zur Umsetzung der KRK, zuletzt im Jahr 2019. Ergänzend erstellt das Netzwerk Kinderrechte Österreich im Namen der Zivilgesellschaft einen sogenannten Schattenbericht. Der UN-Kinderrechtsausschuss reagiert mit Empfehlungen darauf.

In ihrem Bericht bezieht sich die BReg vor allem auf die vorangegangenen Empfehlungen des UN-Ausschusses und listet Aktivitäten auf, die seit damals gesetzt wurden. In Bezug auf die Frage der Kinderarmut verweist der Bericht in einem Satz auf deren kontinuierlichen Rückgang (S. 41). Wie die Daten der Statistik Austria für die Jahre 2019, 2020, 2021 und 2022 zeigen (siehe jeweils Tabelle 8.1: Lebensbedingungen für Kinder bis 17 Jahre), konnte dieser Trend in den darauffolgenden Jahren aber nicht mehr aufrechterhalten werden.

Der Schattenbericht kritisiert die Beschäftigung der BReg mit dem Thema als zu knapp und formuliert Forderungen betreffend wirtschaftliche und soziale Absicherung aller Kinder, Unterhaltssicherung, Familienbonus Plus, Wohnen, Bildung und Gesundheit (S. 35-41). Der UN-Ausschuss betont weiteren Handlungsbedarf vor allem in den Bereichen Gesetzgebung, Nichtdiskriminierung, familiäres Umfeld und alternative Betreuung, Kinder mit Behinderungen, psychische Gesundheit sowie Asylsuchende und Kinder von Migrant:innen.

Demokratie und Mitbestimmung

Gemäß dem Grundprinzip Achtung vor der Meinung des Kindes in der KRK (s. o.) haben Kinder und Jugendliche ein Recht darauf, in Entscheidungen, die sie betreffen, eingebunden zu werden. Teilhabe an demokratischen Prozessen ist für Kinder und Jugendliche grundlegend anders gelagert als bei Erwachsenen, vor allem weil die meisten nicht wahlberechtigt sind. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern dürfen in Österreich seit 2007 Staatsbürger:innen bereits ab 16 Jahren an Wahlen auf Gemeinde-, Landes-, Bundes- und EU-Ebene teilnehmen. Jüngere Kinder haben kein Wahlrecht, aber auch immer mehr Eltern sind trotz Hauptwohnsitz in Österreich aufgrund fehlender Staatsbürgerschaft vom Wahlrecht ausgeschlossen – laut einer Auswertung von APA und OGM im Vorfeld der letzten bundesweiten Wahl betraf das z. B. in Wien rund ein Drittel der Bevölkerung im Wahlalter. Es gibt noch wenig Forschung zur politischen Teilhabe dieser Gruppen. Bloemraad u. a. (2016) weisen jedoch darauf hin, dass Kinder und Jugendliche in dieser Situation hin- und hergerissen sein können: Sie halten sich zurück, spüren aber den Drang, sich für ihre Familien einzusetzen.

Ein international oft zitiertes Vorzeigebeispiel, wie das Interesse von Kindern und Jugendlichen für Demokratie und Mitbestimmung geweckt werden kann, ist die Demokratiewerkstatt des österreichischen Parlaments. Sie versteht sich als Ergänzung zur (politischen) Bildung im Schulunterricht. Initiativen wie diese wollen Kinder dafür rüsten, politische Entscheidungsfindungen selbst mitzubestimmen.

Abgesehen davon existieren aber auch Initiativen, welche im Namen der Generationengerechtigkeit unmittelbar für die Rechte von Kindern eintreten. Dazu zählen sogenannte Klimaklagen (siehe dazu das Fachdossier Was bewirken Klimaklagen?), die mit Gerichtsentscheidungen eine aktivere Politik im Kampf gegen den Klimawandel bewirken wollen. 2023 wurde auch in Österreich im Namen von zwölf Kindern beim Verfassungsgerichtshof (VfGH) ein Antrag auf Gesetzesprüfung eingereicht. Damit sollte erreicht werden, dass der VfGH bestimmte Teile des Klimaschutzgesetz 2011 aufhebt, weil diese in der Verfassung verankerte Kinderrechte verletzen: Sie würden "die Ergreifung wirksamer Klimaschutzmaßnahmen verhindern" (S. 3). Der Antrag wurde im Juli 2023 vom VfGH aus formalen Gründen zurückgewiesen.

Recht auf Bildung

Ebenfalls in der KRK festgeschrieben ist das Recht auf Bildung. Es bringt den Konsens zum Ausdruck, dass Bildung zentral für die Entwicklung von Menschen ist. Weitaus umstrittener ist jedoch die Frage, wer Zugang zu welcher Bildung bekommt.

Die jüngste Analyse der Bildungspolitik aller Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) findet sich im Bericht Bildung auf einen Blick 2023. Demnach lagen in Österreich die öffentlichen Gesamtausgaben für Bildung im Primär-, Sekundär- und postsekundären Bereich im Verhältnis zu den öffentlichen Gesamtausgaben im Jahr 2020 mit 5,3 % weit unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten (7,3 %; S. 346). Im vorangegangenen Bericht Bildung auf einen Blick 2022 wurde mit Blick auf Österreich noch positiv hervorgehoben, dass seit 2010 der Elementarbereich (vor dem regulären Schuleintritt) für Fünfjährige sowie seit 2017 formale oder nicht formale Bildung bis zum Alter von 18 Jahren verpflichtend sind (S. 161).

Wie die SDG-Landkarte des Budgetdienstes der Parlamentsdirektion zeigt, liegt Österreich allerdings bei der Vorschulbildung und Betreuung von unter dreijährigen Kindern unter dem EU-Durchschnitt. In einem Interview anlässlich der Veröffentlichung des jüngsten Berichts 2023 unterstreicht der OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher, dass Österreich vor allem bei der frühen Förderung von sozial benachteiligten und schwachen Schüler:innen, beginnend mit der frühkindlichen Bildung, großen Aufholbedarf hat.

Nach wie vor nicht von der österreichischen Bildungspolitik adressiert wurde außerdem jene Herausforderung, die von der OECD in ihrem letzten länderspezifischen Education Policy Outlook für Österreich identifiziert wurde: Während im Durchschnitt aller OECD-Staaten die Aufteilung von Schüler:innen auf verschiedene Schultypen im Alter von 14 Jahren erfolgt, passiert das in Österreich bereits im Alter von zehn Jahren. Das wirkt sich auf die Chancengleichheit aus, weil darunter v. a. die Bildungsleistungen von benachteiligten jungen Menschen, vor allem jenen mit Migrationshintergrund, leiden (S. 6).

Welche Entwicklungen aus Sicht des zuständigen Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) von besonderer Relevanz und Aktualität sind, wird im Nationalen Bildungsbericht dargestellt. Auf gesetzlicher Grundlage von § 5 Abs. 3 des Bildungsdirektionen-Einrichtungsgesetzes wird dieser alle drei Jahre veröffentlicht, zuletzt 2021. Darin wurden Distance Learning, Schulentwicklungsberatung, Kompetenzorientierung und Lesekompetenz als besonders relevante Entwicklungsfelder identifiziert. Nicht in dem Bericht enthalten ist das in Österreich ebenfalls kontrovers diskutierte Thema politische Bildung (siehe dazu das Fachdossier Welche Bedeutung hat politische Bildung für eine Demokratie?).

Kinderarmut in Österreich

Beide bisher erwähnten Schwerpunktthemen hängen eng mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen zusammen. In Österreich sind laut Statistik Austria 22 % aller Kinder im Alter von null bis 17 armuts- und ausgrenzungsgefährdet (zur Definition dieser Kategorie siehe die Website der Armutskonferenz). Dasselbe trifft auf 17,5 % der österreichischen Gesamtbevölkerung zu. In diesen Zahlen ist die Teuerung der vergangenen Monate noch gar nicht abgebildet. Laut einer Umfrage im Auftrag der Arbeiterkammer trifft diese allerdings vor allem Familien mit Kindern, insbesondere Alleinerzieher:innen, und wirkt sich damit unverhältnismäßig stark auf Menschen aus, die ohnehin schon als besonders verletzlich gelten.

Forschungsprojekte jener Organisationen, die sich mit Kinderarmut in Österreich beschäftigen, bestätigen diese Dynamik. Beispielsweise zeigt eine Studie des Kinderhilfswerks (Unicef) aus dem Juli 2023, dass Kinder grundsätzlich stärker unter Hitzewellen leiden und infolge der Klimaerhitzung einem weitaus höheren Risiko ausgesetzt sind, an Asthma, Allergien, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemproblemen zu erkranken. Ein Forschungsprojekt von Gesundheit Österreich und Volkshilfe konnte nachweisen, dass armutsgefährdete Kinder noch stärker davon betroffen sind.

Weiters verdeutlicht eine Umfrage der Volkshilfe zu den Folgen der COVID-19-Pandemie, dass v. a. Kinder aus armutsgefährdeten Familien unter den finanziellen und emotionalen Mehrbelastungen einer derartigen Krise leiden. Das kann zu einer Verstärkung von Dynamiken führen, die aus wissenschaftlicher Literatur schon länger bekannt sind. Demnach sind armutsgefährdete Kinder weitaus öfter mit Problemen in der Schule konfrontiert, haben grundsätzlich geringere Erwartungen an ihre schulische und berufliche Perspektive und brechen die Schule dementsprechend öfter ab (siehe z. B. Tophoven 2011; Geis/ Schröder 2016). Da sich ökonomische Unterversorgung bereits in früher Kindheit negativ auf die Kompetenzentwicklung auswirken kann, müsste schulische Bildung derartigen Dynamiken entgegenwirken. Wenn sie das aber nicht leistet, trägt sie dazu dabei, dass sich Armut nachhaltig negativ auf den weiteren Lebensverlauf von Kindern auswirkt. Damit wird gesellschaftliche Ungleichheit, wie schon 1966 von Bourdieu beschrieben, auch heute noch in mehrfacher Hinsicht (ökonomisch, kulturell etc.) reproduziert (Tophoven 2011).

Aktuelle Lösungsansätze

Im Zusammenhang damit beschäftigen sich nicht nur öffentliche und politische Debatten rund um mögliche Lösungsansätze mit den sozioökonomischen Rahmenbedingungen. Auch wissenschaftliche Betrachtungen fordern in erster Linie eine ausreichende finanzielle Absicherung sowie "für alle zugängliche soziale Infrastruktur [Gesundheitsvorsorge, Kinderbetreuung, Bildung, öffentlicher Transport etc.; Anm.]" (Tophoven 2023, S. 11).

Die finanzielle Absicherung kann einerseits über bestehende Instrumente erfolgen, welche auf die Eltern der Kinder abzielen (z. B. Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe, Mindestpension). Andererseits wird eine finanzielle Grundsicherung eigens für Kinder diskutiert.

Mit diesem Ansatz beschäftigt sich seit 2019 ein Modellprojekt der Volkshilfe: In dessen Rahmen erhielten 23 armutsbetroffene Kinder eine regelmäßige Grundsicherung (im Schnitt EUR 320,- pro Monat und Kind, gestaffelt nach Haushaltseinkommen). Damit sollten, begleitet von Sozialarbeiter:innen, die vier Dimensionen kindlicher Entwicklung – materielle Versorgung, Bildungschancen, soziale Teilhabe und gesundheitliche Entwicklung – sichergestellt werden. Neben den offensichtlichen Wirkungen, wie Leistbarkeit von Bildung, Wohnen, Kleidung, abwechslungsreicher Ernährung, Gesundheitsversorgung etc., zeigten erste Erfahrungen schnell, dass Kinder in hohem Maße auch davon profitieren, dass ihre Möglichkeiten der sozialen Teilhabe weniger stark eingeschränkt sind (z. B. weil sie an Sportangeboten teilnehmen können; Lichtenberger/ Ranftler 2022). Ein ähnlich gelagertes Projekt zum Thema Existenzsicherung, das vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) gefördert wurde, unterstreicht diese Erkenntnisse (Lichtenberger/ Ranftler 2023).

Die jüngste in diesem Zusammenhang im Parlament beschlossene Maßnahme ist ein Sonderzuschuss von EUR 60,- pro Kind für Bezieher:innen von Arbeitslosengeld und Notstandshilfe bis Ende 2024. Wie in der entsprechenden Parlamentskorrespondenz vom 14.6.2023 nachzulesen ist, stimmten die Regierungsfraktionen ÖVP und Grüne sowie aufseiten der Opposition die FPÖ dafür, während SPÖ und NEOS vor allem die Nachhaltigkeit und Treffsicherheit des Pakets infrage stellten. Diese Maßnahme ist auch Teil der Analyse von Maßnahmen gegen die Teuerung des Budgetdienstes der Parlamentsdirektion.