Fachinfos - Fachdossiers 15.05.2025

Was ist der Staatsvertrag von Wien?

Warum ist der Staatsvertrag bis heute wichtig?

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dauerte es zehn Jahre, bis Österreich wieder ein freier und unabhängiger Staat wurde. Der "Kampf um den Staatsvertrag" wurde für lange Zeit zum zentralen Bezugspunkt im Selbstverständnis der Zweiten Republik (Wegan 2002). Das änderte sich erst in den 1980er-Jahren, als der Kalte Krieg zu Ende ging und Österreich sich entschloss, der EU beizutreten. Bis heute kommt dem Staatsvertrag aber identitätsstiftende Bedeutung zu und er sichert wichtige Minderheitenrechte sowie die Demokratie in Österreich.

Was war Österreich 1945?

Österreich wurde von den Alliierten 1945 als befreiter Staat, aber nicht als Teil der Siegermächte gesehen (wie z. B. Dänemark oder die Tschechoslowakei; Stourzh 2004, S. 9). Am 27. April 1945 hatte die von den politischen Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ gebildete provisorische Staatsregierung die Unabhängigkeit Österreichs proklamiert, sich vom Deutschen Reich losgesagt und den Status Österreichs als Opfer betont (Stourzh 1998, S. 26). Der Staat wurde im Sinne des Bundes-Verfassungsgesetzes (B-VG) von 1920 in der Fassung von 1929 wiederaufgebaut, blieb aber, wie es der Historiker Manfried Rauchensteiner ausdrückte, bis 1955 eine "konstitutionelle Militärdiktatur" (Rauchensteiner 2005). Auf der Grundlage des Zweiten Kontrollabkommens von 1946 konnte der Alliierte Rat ein aufschiebendes Veto gegen einfache Gesetze einlegen. Verfassungsgesetze brauchten die Zustimmung aller vier Besatzungsmächte. Das war auch einer der Gründe, warum in Österreich anders als z. B. in Italien oder Deutschland keine neue Verfassung ausgearbeitet wurde.

Österreich befand sich in dieser Zeit in einer prekären Lage. Der Historiker Gerald Stourzh hat herausgearbeitet, dass in unterschiedlichen Phasen verschiedene Möglichkeit für die staatliche und politische Zukunft Österreichs gab. Dazu zählten die Errichtung einer sowjetischen Volksdemokratie, eine völlige Westorientierung einschließlich Beitritt zur NATO, eine Teilung des Landes, eine langfristige Besetzung oder ein besonderer Status zwischen den Blöcken (Stourzh 1998, S. 579 ff.).

Wie kam es zum Staatsvertrag?

Am 1. November 1943 veröffentlichten die Außenminister von Großbritannien, der USA und der Sowjetunion die Moskauer Deklaration. Sie legte die Grundsätze für eine Nachkriegsordnung fest. Österreich wurde zwar als der erste freie Staat genannt, der Hitler zum Opfer fiel. Gleichzeitig wurde aber auch festgehalten, dass Österreich eine Verantwortung für die Teilnahme am Krieg an der Seite Nazi-Deutschlands trage. Schließlich enthielt die Erklärung das Bekenntnis, ein freies, unabhängiges Österreich wiederherzustellen(Stourzh 1998: 11 ff.; Bischof 2005).

Die Alliierten machten 1946 klar, dass sie mit Österreich als befreitem Staat keinen Friedensvertrag schließen würden. Die österreichischen Verhandler sprachen aber schon früh von einem Staatsvertrag. Damit knüpften sie auch an die österreichische Bezeichnung des Friedensvertrags von Saint-Germain-en-Lay 1919 als "Staatsvertrag von St Germain" an (Stourzh 2004, S. 10).

Für die Alliierten hatten die Friedensverträge mit den Verbündeten NS-Deutschlands (Finnland, Italien, Ungarn u. a.) Vorrang. Erst danach wurde über Österreich – dessen Vertreter hatten nur ein Anhörungsrecht – verhandelt (Stourzh 1998, S. 59 ff.). Die Verhandlungen wurden ab 1947 durch Gebietsforderungen Jugoslawiens und den Umgang mit Deutschem Eigentum (= Vermögen und Betriebe, die Alliierten als Wiedergutmachung für die eigenen Kriegsschäden beanspruchten) geprägt. Für die Sowjetunion war der österreichische Erdölsektor von großer Bedeutung. Aufgrund der Auseinandersetzungen mit Jugoslawien kam es zur Ausarbeitung der Minderheitenschutzbestimmungen (Stourzh 1998, S. 155 ff.).

1949 schien eine Verhandlungslösung auf Grundlage eines französischen Vorschlags (Cherrière-Plan) nahe. Die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion bestärkten diese aber darin, ihre Militärkräfte noch für einige Zeit in Österreich zu belassen (Stourzh 2004, S. 16).

Die Situation änderte sich mit dem Tod des sowjetischen Diktators Stalin 1953. Der neue österreichische Bundeskanzler Julius Raab verstärkte die Gespräche mit der Sowjetunion und er vermittelte deutlich, dass Österreich bündnisfrei bleiben werde. 1954 fand in Berlin das erste Mal seit fünf Jahren wieder eine große Außenministerkonferenz statt. Österreich war nun als gleichberechtigter Verhandlungspartner vertreten (Stourzh 2004, S. 17). Dort wurde die Idee der freiwilligen Neutralität Österreichs geboren (siehe das Fachdossier "Was macht die österreichische Neutralität aus?"). Damit kam im Frühjahr 1955 Dynamik in die Verhandlungen und es konnten die Fragen der Neutralität und der Ablöse von nunmehr sowjetischen Eigentum geklärt werden. Ebenso einigte man sich darauf, die österreichische Mitverantwortung an Krieg und Naziverbrechen nicht mehr zu erwähnen (Stourzh 1998, S. 442 ff.).

Was steht im Staatsvertrag?

Der Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich besteht aus einer Präambel und neun Teilen. In der Präambel wird im Sinne der österreichischen Position betont, dass Österreich 1938 mit Gewalt annektiert und dem Deutschen Reich einverleibt worden war. Die Mitverantwortung am Krieg und Nationalsozialismus bleibt unerwähnt. Es werden die Anstrengungen gewürdigt, die das österreichische Volk seit 1945 für den demokratischen Wiederaufbau Österreichs unternommen hatte.

Teil I umfasst politische und territoriale Bestimmungen. Mit ihnen wird Österreich als freier, ungeteilter und unabhängiger Staat wiederhergestellt (Art. 1 bis 3). Art. 4 verbietet den Anschluss Österreichs an Deutschland. Art. 6 verpflichtet Österreich, die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller hier lebenden Menschen ohne Unterschied zu gewährleisten.

Art. 7 sichert die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, dem Burgenland und der Steiermark. Dazu gehören das Recht auf Elementarunterricht in der Minderheitensprache, die Einrichtung von Mittelschulen sowie die Einführung von Slowenisch bzw. Kroatisch als zusätzliche Amtssprachen und die Anbringung zweisprachiger topografischer Aufschriften in jenen Bezirken, in denen diese Minderheiten leben.

Art. 8 verpflichtet Österreich zur Einrichtung einer auf geheime Wahlen gegründeten demokratischen Regierung ("Regierung" wird im Sinne des englischen und französischen Staatsvertragstexts weit verstanden) und bestimmt Grundsätze des Wahlrechts.

In Art. 9 und 10 verpflichtet sich Österreich zur Auflösung aller nationalsozialistischen Organisationen und zur fortdauernden Bekämpfung des Faschismus und der Sicherung der Demokratie.

Teil II des Staatsvertrags (Art. 13 bis 19) umfasst Bestimmungen über Waffen und Kriegsmaterial, Kriegsgefangene, Kriegsgräber und Denkmäler. Davon wurden die Art. 12 bis 16 im Jahr 1990 von der Bundesregierung in einer Mitteilung an die Signatarstaaten des Staatsvertrags für obsolet erklärt. Eine Reaktion der Signatarstaaten unterblieb, womit diese Erklärung völkerrechtlich wirksam wurde (Öhlinger & Eberhard 2022, S. 49).

Teil III (Art. 20) regelt das Ende der Besatzung und den Abzug der Alliierten Streitkräfte innerhalb von 90 Tagen nach dem Inkrafttreten des Staatsvertrags. Diese Frist begann am 27. Juli 1955 zu laufen, als Frankreich als letzter Staat die Ratifizierungsurkunde in Moskau hinterlegte. Daraus ergab sich das rechtliche und faktische Ende der Besatzung am 25. Oktober 1955 (Stourzh 2004, S. 7). Am 26. Oktober 1955 war Österreich frei und an diesem Tag wurde das Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität erlassen. Dieser Tag wurde zunächst als "Tag der Fahne" begangen und mit Bundesgesetz vom 25. Oktober 1965 zum Nationalfeiertag erklärt.

Teil IV (Art. 21 bis 24) regelt den Verzicht Österreichs auf Reparationen, den Umgang mit deutschen Vermögenswerten in Österreich und Österreichs Verzicht auf Ansprüche gegen die Alliierten. Teil V (Art. 25 bis 28) regelt vermögensrechtsrechtliche Fragen wie die Rückstellung von Vermögen an Personen und Gruppen, die von den Nazis verfolgt worden waren. Die Teile VI bis VIII regeln verschiedene wirtschaftliche Fragen. Teil IX enthält Schlussbestimmungen.

Ist der Staatsvertrag Teil der Bundesverfassung?

Der Staatsvertrag von Wien regelt Fragen, die typisch für Verfassungen sind: Er legt die Staatsform fest, bestimmt Grundsätze für demokratische Wahlen und sichert Menschenrechte. Er definiert auch die Grenzen politischer Betätigung im Sinne einer wehrhaften Demokratie (siehe das Fachdossier "Was ist eine wehrhafte Demokratie?"). Der Nationalrat behandelte den Staatsvertrag in seiner Sitzung am 7. Juni 1955 und genehmigte den Abschluss einstimmig. In der Debatte wurde betont, dass zahlreiche Bestimmungen "verfassungsgesetzlichen Charakter" hätten.

Die Frage, wie mit Verfassungsänderungen durch Staatsverträge umgegangen soll, beschäftigte Rechtswissenschaft und Gerichte noch länger. 1964 entschied der Verfassungsgerichtshof, dass die Bezeichnungspflicht von Verfassungsrecht gemäß Art. 44 Abs. 1 B-VG auch für Staatsverträge einzuhalten sei (VfSlg 4049/1964). Als Reaktion darauf wurde das Bundes-Verfassungsgesetz geändert und Teile des Staatsvertrags von Wien in den Verfassungsrang gehoben. Art. 4 (Anschlussverbot), Art. 7 Z 2–4 (Minderheitenrechte), Art. 8 (Wahrung der Demokratie), Art. 9 und 10 Z 1 (Verbot nazistischer Organisationen und Bestrebungen) sowie Art. 10 Z 2 (Aufrechterhaltung des Habsburgergesetzes) des Staatsvertrags von Wien sind bis heute Teil des Bundesverfassungsrechts (Öhlinger & Eberhard 2022: 48 f.).

Welche Rolle spielt der Staatsvertrag in der Politik?

Der Staatsvertrag wurde zu einem identitätsstiftenden Element der Zweiten Republik. Dabei standen der Weg zum Vertragsabschluss und die Wiedererlangung der Freiheit und Souveränität Österreichs im Mittelpunkt.

In den 1950er-Jahren und anlässlich der Staatsvertragsjubiläen bis in die 1980er-Jahre wurden die Bemühungen um den Staatsvertrag als Fortsetzung des österreichischen "Freiheitskampfes", der bereits 1938 eingesetzt hätte, dargestellt. Sie wurden als der Beitrag zur eigenen Befreiung vermittelt, der in der Moskauer Erklärung gefordert worden war (Käfer u. a. 1965). Der Staatsvertrag selbst wurde zum Symbol für die Freiheit und die Neutralität zum Garanten von Unabhängigkeit (Wegan 2002). Der Ort der Unterzeichnung, das Obere Belvedere, wurde zum Kontrapunkt der Verkündung des "Anschlusses" durch Hitler am Heldenplatz 1938. Die österreichischen Verhandler wurden zu Identifikationsfiguren in ihren jeweiligen Parteien (Binder 2004).

Mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags gingen die österreichischen Aktivitäten im Bereich der Entnazifierung und der Restitution geraubten Vermögens deutlich zurück. Anknüpfungspunkt dafür war die Anerkennung des Opferstatus in der Präambel des Staatsvertrags (Bailer-Galanda & Garscher 2005). Das änderte sich erst in den 1980er-Jahren im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Präsidentschaftskandidatur von Kurt Waldheim und den folgenden Anstößen für einen neuen Umgang mit der Geschichte und Erinnerungskultur Österreichs. Der Historiker Ernst Bruckmüller weist darauf hin, dass angesichts eines gefestigten Österreichbilds in der Bevölkerung und einer neuen weltpolitischen Situation nun auch die Erinnerung an den Staatsvertrag und die Wiederaufbaugeschichte hinter ihre frühere Bedeutung zurücktraten. (Bruckmüller 2005).

Die Historikerin Katharina Wegan hat schließlich gezeigt, dass die demokratischen und menschenrechtlichen Bestimmungen des Staatsvertrags praktisch nie zum Gegenstand von Reden und Jubiläen wurden (Wegan 2002). Auch bis zur Umsetzung der Minderheitenrechte, die seit 1964 auch im Verfassungsrang stehen (Sprachenrechte, Ortstafeln usw.), dauerte es fast 50 Jahre (Matscher 2005; Öhlinger & Eberhard 2022, S. 482 ff.).

Quellenauswahl

Bailer-Galanda, Brigitte/Winfried Garscha (2005), Der österreichische Staatsvertrag und die Entnazifizierung, in: Suppan, Arnold u. a. (Hrsg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955, S. 629–654.

Binder, Dieter (2004), Julius Raab und Leopold Figl. Die Säulenheiligen des staatstragenden Bewusstseins der ÖVP, in: Emil Brix/Ernst Bruckmüller u. a. (Hrsg.), Memoria Austriae I: Menschen, Mythen, Zeiten, S. 79–104.

Bischof, Günther (2005), Die Moskauer Erklärung vom 1. November 1943: "Magna Charta" der Zweiten Republik, in: Karner, Stefan/Gottfried Stangler (Hrsg.), Der Österreichische Staatsvertrag 1955, S. 22–26.

Bruckmüller, Ernst (2005), Staatsvertrag und Österreich-Bewusstsein, in: Suppan, Arnold u. a. (Hrsg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955, S. 923–948.

Käfer, Hermann u. a. (Hrsg.), Österreich: Einheit, Freiheit, Unabhängigkeit; zwanzig Jahre Zweite Republik; zehn Jahre Staatsvertrag.

Matscher, Franz (2005), Die Minderheitenregelungen im Staatsvertrag, in: Suppan, Arnold u. a. (Hrsg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955, S. 783–820.

Öhlinger, Theo/Harald Eberhard (2022), Verfassungsrecht, 13. Auflage.

Rauchensteiner, Manfried (2005), Stalinplatz 4: Österreich unter alliierter Besatzung.

Stourzh, Gerald (1998), Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs.

Stourzh, Gerald (2004), Österreichs Weg zum Staatsvertrag und zur Neutralität, Informationen zur politischen Bildung Band 22, S. 7–20.

Stourzh, Gerald/Wolfgang Mueller (2020), Der Kampf um den Staatsvertrag 1945–1955.

Wegan, Katharina (2002), Gedächtnisort Staatsvertrag, in: Csaky, Moritz/Zeyringer, Klaus (Hrsg.), Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses, S. 193–219.