Fachinfos - Fachdossiers 03.05.2024

Was ist eine wehrhafte Demokratie?

Was ist eine wehrhafte Demokratie?

Die Zahl demokratischer Staaten geht weltweit zurück. In Europa geraten demokratische Rechtsstaaten durch autoritäre Bewegungen unter Druck. Damit erhält das Konzept der "wehrhaften Demokratie" neue Aufmerksamkeit.

Eine wehrhafte Demokratie kann jene politischen Handlungsmöglichkeiten einschränken oder verbieten, die die gleichberechtigte Teilhabe an demokratischen Prozessen und die Institutionen des Rechtsstaats zerstören können. Das gilt auch dann, wenn solche Forderungen mit demokratischen Mitteln, z. B. in Wahlkämpfen oder parlamentarischen Instrumenten, erhoben werden.

Internationale Studien betonen, dass die Zahl demokratischer Staaten weltweit zurückgeht. Der Bertelsmann-Transformationsindex 2024 zeigt, dass in 25 von 137 untersuchten Staaten das Wahlrecht, in 32 die Versammlungsfreiheit und in 39 die Meinungs- und Medienfreiheit stärker eingeschränkt wurden als bei der letzten Erhebung 2022. Das umfasst auch Staaten, die formal als demokratische Rechtsstaaten qualifiziert werden können, wie z. B. Südafrika. Ein Faktor dieser Entwicklungen ist die wachsende Unzufriedenheit vieler mit Politiker:innen und dem politischen System, worauf etwa der österreichische Demokratie Monitor oder der Economist Democracy Index 2023 hinweisen. Ein weiterer ist die Zunahme politisch motivierter Gewalt (siehe dazu das Fachdossier "Wie kann politische Gewalt die Demokratie gefährden?"). Solche Entwicklungen sind nicht unumkehrbar. Ihnen kann durch Bildungs- und Präventionsmaßnahmen sowie durch rechtliche Kontroll- und Sanktionsinstrumente entgegengetreten werden.

Dieses Fachdossier gibt einen Überblick über die Entwicklung und das Verständnis von wehrhafter Demokratie. Es geht besonders auf Deutschland und Österreich ein.

Verteidigung der Demokratie

Moderne Demokratien sind in Europa nach dem Ende des Ersten Weltkriegs entstanden (siehe dazu am Beispiel Österreichs das Fachdossier "100 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz"). In vielen Staaten, darunter Österreich, gab es jedoch keine breit verankerte demokratische Kultur in der Bevölkerung und in der Verwaltung. Ebenso fehlte in der Wissenschaft eine umfassende Auseinandersetzung damit. Beides musste aufgebaut werden.

Gegner:innen der parlamentarischen Demokratie begannen ab Beginn der 1920er-Jahre gezielt, die Instrumente der jeweiligen Verfassung einzusetzen, um diese zu zerstören. In vielen Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Österreich, wurde zum einen mit Verboten, zum anderen aber mit der Übernahme von Forderungen dieser Gruppen reagiert. Es wurden auch taktische Bündnisse geschlossen. In Österreich geschah das z. B. zwischen den Christlichsozialen und der Heimwehr, die eine faschistische Politik unterstützte. In anderen Staaten wie Finnland, Estland und der Tschechoslowakei konnte hingegen ein Konsens der führenden politischen Parteien erreicht werden, die sich gegen solche Entwicklungen stellten (Etzemüller 2024). Dazu begrenzten sie die demokratischen Beteiligungsmöglichkeiten durch Parteiverbote, Symbol- und Uniformverbote sowie die Beschränkung von Versammlungs- und Kommunikationsrechten. Das Strafrecht wurde im Zusammenhang mit Verhetzung verschärft und die politische Betätigung von Beamt:innen eingeschränkt. Das alles wurde als Mittel der Verteidigung von Demokratie legitimiert (siehe dazu Loewenstein 1937).

Das Verständnis von Demokratie als "wehrhaft" wurde zeitgleich entwickelt (Hacke 2024). Die Schöpfer des Konzepts, Karl Loewenstein (z. B. 1937) und Karl Mannheim (z. B. 1970) nahmen auf die eigenen praktischen Erfahrungen Bezug: Loewenstein zeigte, wie faschistische Bewegungen demokratische Instrumente genutzt hatten, um wie ein trojanisches Pferd eine starke Verankerung in Öffentlichkeit und Parlamenten aufzubauen. Mannheim forderte eine "geplante Demokratie", die durch politische Bildung und strikte Reglementierung politischer Beteiligung geprägt sein sollte. Beide betonten, dass Demokratien nur dann bestehen können, wenn sie ein klares Verständnis davon haben, wie sie sich gegen ihre Feinde von außen und von innen verteidigen müssen. Demokratie müsse Partei für sich selbst ergreifen.

Moderne Demokratien stehen heute zudem vor zusätzlichen Herausforderungen, etwa Desinformation oder die bewusste Verzerrung öffentlicher Debatten durch wenige Personen. Eine entsprechende Studie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) wurde Ende Februar in einem parlamentarischen Dialogforum präsentiert. Eine weitere Kurzstudie im Auftrag des österreichischen Parlaments soll bis Oktober 2024 die Auswirkungen neuer Anwendungsmöglichkeiten von Künstlicher Intelligenz (KI) auf Gesellschaft, Politik und Demokratie untersuchen.

Parteiverbot und Grundrechtsverwirkung in Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland gilt wehrhafte Demokratie als Verfassungsprinzip (Schliesky 2014). Es soll gewährleisten, dass "Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören." (BVerfGE 144, 20 Rn. 418). Elemente dieses Prinzips sind das Verbot verfassungsfeindlicher Vereine (Art. 9 Abs. 2 GG) und Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) sowie die Möglichkeit, dass Grundrechte verwirkt werden, wenn sie zum Kampf gegen die demokratische Grundordnung missbraucht werden (Art. 18 GG). Darüber hinaus zählt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Verfassungsschutz durch Geheimdienste, die beamtenrechtliche Treuepflicht und die Möglichkeit, eine Partei von staatlicher Finanzierung auszuschließen, zu den Instrumenten der wehrhaften (oder streitbaren) Demokratie (Lübbe-Wolff 2023).

Wehrhafte Demokratie bezieht sich immer auf das Verbot konkreter Verhaltensweisen und Handlungen, mit denen die rechtsstaatliche Demokratie zerstört werden kann. Sie rechtfertigt jedoch weder die Unterdrückung einer antidemokratischen Mehrheit durch eine demokratische Minderheit noch die Entrechtung von Menschen (Wagrandl 2019).

Das BVerfG hat bis heute zwei Parteiverbote ausgesprochen. 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei SRP verboten (BVerfGE 2, 1) und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands KPD (BVerfGE 5, 85). Mit dem Urteil des BVerfG wurden die Parteien für aufgelöst erklärt und ein Verbot ausgesprochen, Ersatzorganisationen zu schaffen.

Außerdem gab es mehrere Anläufe, die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) zu verbieten. Zuletzt hat das BVerfG 2017 einen Antrag abgelehnt (BVerfGE 144, 20). Es stellte fest, dass die NPD zwar auf die Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung hinarbeitet, sah allerdings nicht "hinreichende Wirkungsmöglichkeiten", die "ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen" (Rn. 586).

Seit 2021 wird die Partei Alternative für Deutschland (AfD) vom deutschen Bundesamt für Verfassungsschutz im Verfassungsschutzbericht als Verdachtsfall geführt. Jurist:innen, Politiker:innen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft diskutieren, ob im Sinne der wehrhaften Demokratie ein Verbotsverfahren gegen sie eingeleitet werden sollte. Einen solchen Antrag kann nur der Bundestag, der Bundesrat oder die Bundesregierung stellen. Damit hätte das BVerfG erstmals über das Verbot einer im Bundestag und in (14 von 16) Landtagen vertretenen Partei zu entscheiden. Im Zentrum der Debatte steht die Frage, ob nicht schon die Größe der Partei einem Verbotsverfahren entgegensteht und ob dieses als Mittel gesehen werden kann, die politische Auseinandersetzung mit der AfD zu vermeiden (Lübbe-Wolff 2023).

Die Hürden für ein Parteiverbotsverfahren sind sehr hoch und werden streng geprüft. Jurist:innen haben daher vorgeschlagen, einzelnen Politiker:innen – konkret beziehen sich die Debatten auf den Thüringer AfD-Politiker Björn Höcke – bestimmte Grundrechte wie das Wahlrecht abzuerkennen. Bisher hat das BVerfG in solchen Fällen viermal entschieden. Da es sehr strenge Maßstäbe anlegt, hat es noch nie die Verwirkung von Grundrechten ausgesprochen (von Coelln 2024).

Schutz der Demokratie ist auch Schutz der Verfassung und der Verwaltung

Die Wehrhaftigkeit von rechtsstaatlichen Demokratien wird auch breiter betrachtet. Die verschiedenen Instrumente der EU zur Sicherung des Rechtsstaats machen das deutlich. Sie sollen Gesetzmäßigkeit, Rechtssicherheit, Willkürverbote und Respekt für Menschenrechte in den Mitgliedstaaten sicherstellen (siehe zu den entsprechenden Instrumenten das Fachdossier "Was bedeutet Rechtsstaatlichkeit als Grundwert der EU?").

Sie sind deshalb von Bedeutung, da der Rückbau von Demokratien durch die Änderung vieler Gesetze erfolgen kann. Die Rechtssoziologin Kim L. Scheppele nennt das "autokratischen Legalismus" und analysiert ihn mit der Juristin Kriszta Kovács am Beispiel Ungarns (Kovács/Scheppele 2021). Juristische Studien weisen darauf hin, dass die Einschränkung von demokratischer Partizipation und Grundrechten in vielen Staaten nur mit den Mitteln des Verwaltungsrechts – und damit mit einfachen Mehrheiten oder nur mit Verwaltungsentscheidungen – geschieht (Schotel 2022).

In Deutschland wird unter anderem deshalb aktuell im Bund und in den Bundesländern darüber diskutiert, die Verfassungsgerichte rechtlich besser abzusichern. Im Rahmen des sogenannten Thüringen-Projekts zeigen deutsche Rechts- und Politikwissenschaftler:innen, wie mit einfachen Mehrheiten große institutionelle Veränderungen erfolgen können. Sie weisen darauf hin, dass viele Abläufe in Parlamenten und Regierungen auf einer konsensualen Praxis beruhen. Die Ablehnung von Konsens und der missbräuchliche Einsatz parlamentarischer Kontrollrechte kann zur Obstruktion (Lahmlegung) von Parlamenten genutzt werden (Heinze 2024).

Förderung und Stärkung des demokratischen Zusammenhalts

Das Konzept der wehrhaften Demokratie war nie unumstritten. Die Kritiker:innen, allen voran der österreichische Jurist Hans Kelsen, betonten, dass Demokratie letztlich nur durch demokratische Überzeugungen und demokratische Praxis geschützt werden könne. Verbote und Einschränkungen könnten dazu führen, dass politische Konflikte an Gerichte ausgelagert werden (Kelsen 1929, Hacke 2024). Auch stellt sich die Frage, ob das Verbot einer Partei, die in der Bevölkerung eine Zustimmung von 20 Prozent genießt (wie bspw. die AfD), durch die demokratische Wehrhaftigkeit noch legitimiert werden kann. Der Erfolg antidemokratischer Parteien führt auch dazu, dass sich demokratische Parteien mit den möglichen Ursachen für ihre Wähler:innenverluste auseinandersetzen müssen. Dieser Feedbackmechanismus fällt bei Verboten und Einschränkungen womöglich weg. Zudem können letztere zwar Parteien verbieten, die Wähler:innen und ihre Unzufriedenheit mit dem bestehenden politischen Angebot bleiben jedoch bestehen (Merkel 2024).

Instrumente der wehrhaften Demokratie können durchaus als Möglichkeit verstanden werden, um solche Debatten in strukturierter Weise führen zu können und sich der Zielsetzungen von Demokratie und Verfassung zu vergewissern (Hacke 2024). Das kann aber nicht ohne begleitende politische Bildung erfolgen, die viele Altersgruppen erreicht (siehe dazu das Fachdossier "Welche Bedeutung hat politische Bildung für eine Demokratie?") und konkrete Erfahrungen von Demokratie und Beteiligung vermittelt. Der Historiker Thomas Etzemüller (2024) weist besonders darauf hin, dass der Rückgang von Demokratie nicht als etwas Schicksalhaftes verstanden werden darf. Vielmehr brauche es ein Wissen über die friedliche und erfolgreiche Lösung von Konflikten sowie die optimistischen Pragmatiker:innen und ihre Geschichten der Verteidigung von Demokratie. Der Deutsche Bundestag berät in diesem Sinne über einen Ausbau der wehrhaften Demokratie. Mit einem Demokratiefördergesetz soll Demokratieförderung langfristig als staatliche Aufgabe gesetzlich geregelt und finanziell abgesichert werden.

Wehrhafte Demokratie in Österreich

Im Unterschied zu Deutschland sprechen in Österreich weder die Gerichte noch die Rechtswissenschaft von einem Verfassungsprinzip der wehrhaften Demokratie. Die Bundesverfassung enthält jedoch ein klares Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat. Daraus können Pflichten des Staates abgeleitet werden. Das passiert z. B. mit Art. 14 Abs. 5a B-VG, der die Ziele des Schulunterrichts in Österreich festlegt. Er verpflichtet die Schulen auf die Vermittlung der Grundlagen der rechtsstaatlichen Demokratie als bevorzugtes Staats- und Gesellschaftsmodell. Dabei muss die Art des Unterrichts Raum für Kritik lassen.

Darüber hinaus gibt es einzelne Instrumente zur Sicherung der rechtsstaatlichen Demokratie. Die Bundesverfassung enthält auch ein "antinationalsozialistisches Grundprinzip" (Wagrandl 2019). Aus dem Verbotsgesetz folgen (im Verfassungsrang) Parteiverbote für nationalsozialistische, großdeutsche, faschistische, gegen das gleiche Wahlrecht und gegen die gleiche Ämterzugänglichkeit gerichtete sowie kriegshetzerische Parteien. Das Verbotsgesetz, das Abzeichengesetz, Art. III Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen und das Uniform-Verbotsgesetz verbieten das Verbreiten nationalsozialistischer Propaganda. Das Symbole-Gesetz verbietet das Verbreiten radikalislamistischer Propaganda. § 283 Strafgesetzbuch verbietet politische Propaganda, die verhetzend ist.

Ein Parteiverbot kann in Österreich allerdings nur durch ein Bundesverfassungsgesetz und damit nur durch den Nationalrat ausgesprochen werden. Das folgt aus § 1 Abs. 3 Parteiengesetz.

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