Martin Senn beschreibt drei Dimensionen der Neutralitätspolitik. Erstens, die Ausdeutung: Wie kann Neutralitätspolitik gestaltet werden? Debatten darüber finden innerstaatlich statt und werden aktuell, wenn sich innere und äußere Rahmenbedingungen ändern. Zweitens, die Attraktivität, bei der es um Maßnahmen geht, die die Absicherung der Neutralität nach außen vermitteln sollen (z. B. für die Mediation in Konflikten, die Beherbergung internationaler Organisationen, etc.). Drittens, die Abschreckung, also die Kommunikation nach außen, dass der Nutzen einer Verletzung der Neutralität in keinem vertretbaren Verhältnis zu den Kosten stünde, die auf potenzielle Aggressoren zukommen würden.
Senn beschreibt vier Phasen der Entwicklung der österreichischen Neutralität. Beginnend mit dem Beschluss des Neutralitätsgesetzes 1955 beginnt die Phase der Konsolidierung, in der Österreich eine eigenständige, engagierte Form der permanenten Neutralität praktiziert. Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er-Jahre setzt dann eine Phase der Expansion ein. Österreich legt seine Neutralität globaler und umfassender aus und engagiert sich intensiv in der Weltpolitik. Daran anschließend beginnt eine Phase der Reorientierung. Bedingt durch das Ende des Ost-West-Konfliktes, das Fortschreiten der europäischen (EG/EU) und transatlantischen Integration (NATO) und das Aufbrechen neuer Konflikte sowie innenpolitische Änderungen (Ende der SPÖ-Alleinregierungen) verlagerte sich der Fokus der österreichischen Außenpolitik auf das europäische Umfeld. Wie Öhlinger (2018) beschreibt, wird die Neutralität im Zuge dessen zusehends auf ihren militärischen Kern reduziert.
Folgende Schritte führen nun zu einem Verständnis der „differentiellen Neutralität“: Das offizielle Österreich interpretiert den Golfkrieg 1990/91 nicht als internationalen bewaffneten Konflikt, sondern als „Polizeiaktion“ im Rahmen des Systems kollektiver Sicherheit, ordnet die eigene Neutralität den Beschlüssen der Vereinten Nationen unter, tritt der EU bei und verpflichtet sich zur aktiven Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) (s. o.). Ab 1995 hat sich Österreich zudem an der NATO-Partnerschaft für den Frieden (Partnership for Peace – PfP) beteiligt. Das sind Partnerschafts- und Kooperationsprogamme insbesondere in den Bereichen Friedenssicherung und Katastrophenhilfe, die in der Regel einen UN-Beschluss umsetzen (z. B. KFOR im Kosovo). Sie werden daher von Österreich nicht als Beeinträchtigung der Neutralität gesehen (siehe z. B. die Anfragebeantwortungen 1721/AB, XX. GP; 3080/AB, XXI. GP; 9924/AB, XXV. GP).
Vor allem vonseiten der ÖVP gibt es zu dieser Zeit zunehmend Vorstöße in Richtung einer weiteren Annäherung an die bzw. einen Beitritt zur NATO (siehe Prutsch 2006). Auch die FPÖ hatte sich im Laufe der 1990er-Jahre kritisch gegenüber der Neutralität positioniert. Die SPÖ allerdings sah den Beitritt Österreichs zur vertieften Partnerschaft für den Frieden, einem Programm der NATO, als maximal mögliche Annäherung an die NATO und verteidigte die Neutralität weiterhin. Dann kommt es zur vierten historischen Phase, der Stagnation, die mit einer De-Politisierung der Neutralität einhergeht. Mit Ausnahme von NEOS bekennen sich seit Mitte der 2000er-Jahre alle Parlamentsparteien zur Neutralität. Es kommt kaum zu Debatten über die Neutralität und auch zu keiner Weiterentwicklung. Rund um die Intervention der NATO im Kosovo und die Anschläge vom 11. September 2001 steigt aber innerhalb der Bevölkerung die Zustimmung zur Aufrechterhaltung der Neutralität. Diese Zustimmung wird auch von der ÖVP und der FPÖ wieder verstärkt aufgegriffen. Bekenntnisse zur Neutralität finden sich in den aktuellen Grundsatzprogrammen der Grünen (2001), der FPÖ (2011) sowie der SPÖ (2018). Im jüngsten Grundsatzprogramm der ÖVP aus dem Jahr 2015 wird die Neutralität nicht genannt, sondern die „Weiterentwicklung hin zu einer Verteidigungsunion mit dem langfristigen Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee“ (Seite 43) als zentrale Frage identifiziert. Auch NEOS (2019) argumentieren für die (langfristige) Institutionalisierung einer Europäischen Armee (Seite 100). Das Regierungsprogramm 2020-24 betont, dass mit einer „[aktiven] Neutralitätspolitik ein eigenständiger Beitrag Österreichs zu Frieden und Sicherheit in Europa (im Rahmen der GASP) und in der Welt“ geleistet werde (Seite 126).
Insgesamt existieren nur wenige relevante politische Dokumente, die sich mit der Neutralität beschäftigen. So stellen etwa die Sicherheitsstrategie 2013 und die Teilstrategie Verteidigungspolitik 2014 fest, dass solidarische Sicherheitspolitik dem Umstand Rechnung trage, „dass die Sicherheit des neutralen Österreichs und der EU heute weitestgehend miteinander verbunden sind“ (Sicherheitsstrategie, Seite 4).