Fachinfos - Fachdossiers 09.12.2021

Wie funktionieren Begutachtungsverfahren zu Gesetzentwürfen?

Das Fachdossier behandelt die parlamentarischen Begutachtungsverfahren und zeigt auf, welche Regeln es für solche gibt, wie sie ablaufen und was sie bewirken können. (09.12.2021)

Wie funktionieren Begutachtungsverfahren zu Gesetzentwürfen?

Seit 1. August 2021 kann sich jede und jeder am parlamentarischen Begutachtungsverfahren beteiligen und zu allen Gesetzesvorschlägen, die im Nationalrat und im Bundesrat behandelt werden, Stellung nehmen. Begutachtungsverfahren sind nicht mehr auf Gesetzentwürfe der Ministerien beschränkt, und die Möglichkeiten, Fachwissen, Erfahrung und Kritik in den Gesetzwerdungsprozess einzubringen, sind deutlich erweitert worden. Dieses Fachdossier gibt einen Überblick über die Regelung, die Bedeutung und die Nutzung von Begutachtungsverfahren auf Bundesebene.

Was ist ein Begutachtungs­verfahren?

Als Begutachtungsverfahren werden Verfahren bezeichnet, in denen bestimmte Einrichtungen (Behörden, Interessenvertretungen, Verbände usw.) oder die Öffentlichkeit über staatliche Regelungsvorhaben und Gesetzentwürfe informiert werden und Gelegenheit bekommen, dazu Stellung zu nehmen. Eine andere Bezeichnung dafür, die etwa in der EU gebraucht wird, ist Konsultation. In der Schweiz spricht man auch von Vernehmlassung.

In vielen Staaten sind Begutachtungsverfahren schon seit Langem in Gebrauch. Seit den 1960er-Jahren wurden sie – nicht zuletzt im Kontext der Debatten über den Ausbau von Demokratie – gefördert und verstärkt eingesetzt. Ab den 1980er-Jahren haben viele Staaten begonnen, diese Verfahren auch rechtlich verbindlich zu regeln und die Möglichkeiten zur Teilnahme auszuweiten und zu erleichtern, z. B. durch Aufhebung der Beschränkung des Beteiligungsrechts auf bestimmte Organisationen oder indem zunächst Programmtexte – etwa sogenannte Grünbücher – anstelle von Gesetzestexten zur Stellungnahme aufgelegt wurden.

In den Rechts- und Politikwissenschaften werden Begutachtungsverfahren heute als eines der grundlegendsten und am einfachsten zu organisierenden Verfahren demokratischer Beteiligung gesehen. Ihre beiden Hauptzwecke sind Information der Öffentlichkeit und Sammlung von Stellungnahmen, die in weiteren Teilen des Gesetzgebungsverfahrens aufgegriffen werden. Damit unterscheiden sich Begutachtungsverfahren deutlich von anderen Formen der Partizipation, in denen Austausch, Diskussion und aktive Mitgestaltung im Zentrum stehen und die dementsprechend auch mehr an Planung, Organisation und Betreuung erfordern (siehe dazu das Fachdossier „Partizipative Prozesse und die politische Entscheidungsfindung“).

Welche Regeln gibt es für Begutachtungs­verfahren?

Obwohl Begutachtungsverfahren in Österreich seit den 1920er-Jahren in Gebrauch sind, gibt es nur sehr wenige rechtliche Regelungen dafür. Das betrifft jedoch nicht nur die Begutachtung, sondern die Vorbereitung von Gesetzentwürfen insgesamt. Art. 41 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) beschränkt sich darauf, zu regeln, wer einen Gesetzentwurf in das parlamentarische Verfahren einbringen kann (z. B. Bundesregierung, Abgeordnete). § 3 Abs. 1 Z 2 Bundesministeriengesetz sieht eine Verpflichtung der Bundesministerien vor, die Bundesregierung insbesondere bei der Vorbereitung von Regierungsvorlagen zu unterstützen. § 17 Bundeshaushaltsgesetz enthält Vorgaben für die wirkungsorientierte Folgenabschätzung bei der Vorbereitung von Gesetzentwürfen der Ministerien und von Regierungsvorlagen. Darüber hinaus gibt es keine gesetzlichen Regelungen für die inhaltliche und technische Vorbereitung von Gesetzen.

Einzelne Gesetze, die die berufliche Selbstverwaltung regeln, sehen eine Verpflichtung der Bundesministerien vor, Gesetzentwürfe zu übermitteln und die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben (z. B. § 93 Arbeiterkammergesetz, § 66c Ärztegesetz, § 10 Wirtschaftskammergesetz). Nur im Verhältnis zwischen Bund und Ländern sieht die Bundesverfassung besondere Regelungen für Konsultationen zu Ministerialentwürfen und Regierungsvorlagen vor (Art. 14b Abs. 4 B-VG und Art. 21 Abs. 4 B-VG). Wenn diese nicht eingehalten werden, kann ein Gesetzesbeschluss verfassungswidrig sein. Bund, Länder und Gemeinden haben auch eine Art.-15a-Vereinbarung über einen Konsultationsmechanismus abgeschlossen: Die Vertragspartner müssen einander Gesetz- und Verordnungsentwürfe zur Stellungnahme übermitteln. Damit soll der einseitigen Überwälzung von Kosten vorgebeugt werden. Der Konsultationsmechanismus sieht Mindestfristen für die Stellungnahme und Verhandlungen vor. Der Verfassungsgerichtshof kann gemäß Art. 138a B-VG feststellen, dass solche Pflichten verletzt wurden. (Eine solche Feststellung führt jedoch nicht zur Aufhebung der Regelung; siehe VfSlg. 19.868/2014.).

Dauer von Begutachtungen

Darüber hinaus bestanden bis 2021 keine gesetzlichen Regelungen für das Begutachtungsverfahren. Es besteht jedoch eine seit den 1960er-Jahren etablierte Praxis, Gesetzentwürfe der Bundesministerien (= Ministerialentwürfe) zur Begutachtung auszusenden. Das geschah zunächst an einen geschlossenen Kreis von Behörden, Kammern, Universitäten und ausgewählten Organisationen bzw. Interessenvertretungen. Dieser wurde aber immer wieder erweitert. 1971 hat der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt erstmals in einem Rundschreiben empfohlen, dass für Begutachtungen mindestens eine sechswöchige Frist vorgesehen werden sollte. Dieses Rundschreiben wurde 2008 erneuert. Die Grafik „Begutachtungsdauer von Gesetzentwürfen der XXVI. und XXVII. Gesetzgebungsperiode“ zeigt jedoch, dass auch seither für einen großen Teil der Begutachtungen deutlich weniger Zeit vorgesehen ist. In der XXVI. Gesetzgebungsperiode waren es nur 14%, in der XXVII. Gesetzgebungsperiode nur 9% der Entwürfe, für deren Begutachtung mehr als sechs Wochen vorgesehen waren.

Quelle: Parlamentsdirektion, Stand 9.12.2021, eigene Darstellung.

Obwohl das Begutachtungsverfahren bis 2021 nur für die Vorbereitung von Gesetzentwürfen im Bereich der Bundesregierung angewandt wurde, kommt dem Parlament seit 1998 eine besondere Rolle dabei zu: Seit diesem Jahr werden die Ministerialentwürfe und die im Begutachtungsverfahren dazu übermittelten Stellungnahmen auf der Parlamentswebsite veröffentlicht und dann auch mit später folgenden Regierungsvorlagen und deren parlamentarischer Behandlung verknüpft. 2014 und 2015 hat sich der Nationalrat im Rahmen der Enquete-Kommission „Stärkung der Demokratie in Österreich“ auch mit dem Begutachtungsverfahren befasst. Aufbauend darauf wurde 2017 mittels einer Entschließung das „Erweiterte Begutachtungsverfahren“ initiiert. Seither werden die wesentlichen Inhalte von Gesetzentwürfen in verständlicher Sprache dargestellt, um eine einfache und übersichtliche Information sicherzustellen. Jede und jeder kann nun im Begutachtungsverfahren Stellungnahmen abgeben und Stellungnahmen anderer unterstützen. Außerdem wurde die Bundesregierung aufgefordert, später in den Regierungsvorlagen kurz darzustellen, welche Anregungen sie aus dem Begutachtungsverfahren aufgenommen hat.

Die Praxis des Begutachtungsverfahrens war auch Gegenstand der 4. Evaluierungsrunde der Gruppe von Staaten gegen Korruption GRECO (siehe Fachdossier „Wer ist GRECO?“). Im Evaluierungsbericht Österreich wurde die mangelnde Transparenz des Begutachtungsverfahrens ebenso wie die Tatsache, dass Gesetzentwürfe, die nicht von der Bundesregierung sondern von Abgeordneten ausgehen, nicht begutachtet werden, kritisiert. Der Nationalrat hat daher einen neuen § 23b Geschäftsordnungsgesetz (GOG-NR) erlassen, der am 1. August 2021 in Kraft getreten ist. Dieser bestimmt, dass alle Arten von Gesetzesinitiativen – also Regierungsvorlagen, selbständige Anträge von Abgeordneten und Ausschüssen auf Erlassung von Gesetzen, Gesetzesanträge des Bundesrats und Volksbegehren – auf der Website des Parlaments zu veröffentlichen sind. Während des gesamten parlamentarischen Verfahrens können dazu Stellungnahmen abgegeben werden. Weitere Regelungen (z. B. Fristen, Behandlung der Eingaben) sind nicht vorgesehen. Auch zu Petitionen und parlamentarischen BürgerInneninitiativen können während der gesamten parlamentarischen Behandlung Stellungnahmen abgegeben bzw. unterstützt werden.

Wie laufen Begutachtungs­verfahren ab?

Begutachtungsverfahren werden grundsätzlich über die Webseite des Parlaments abgewickelt. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass Stellungnahmen z. B. auch direkt an das zuständige Ministerium gesendet werden. Jeder Ministerialentwurf wird auf der Website des Parlaments und im Rechtsinformationssystem RIS veröffentlicht. Stellungnahmen können nur auf der Website des Parlaments unmittelbar eingebracht werden. Hierfür sind zwei Möglichkeiten vorsehen

Die nebenstehende Grafik zeigt den Ablauf und die Verfahrensweise von vorparlamentarischen und parlamentarischen Begutachtungsverfahren.

Quelle: Parlamentswebseite:  Vorparlamentarisches und parlamentarisches Begutachtungsverfahren, Stand 9.12.2021, eigene Darstellung.

Auf der Website des Parlaments wird angezeigt, ob eine Beteiligung in offener Frist möglich ist. Für die Abgabe der Stellungnahme selbst sind unterschiedliche elektronische Formulare vorgesehen – für Privatpersonen und für Organisationen. Die Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil Privatpersonen aus datenschutzrechtlichen Gründen eine Zustimmung zur Veröffentlichung geben und bestätigen müssen, dass sie mindestens 14 Jahre alt sind. Wenn sie keine Zustimmung zur Veröffentlichung geben, kann die Stellungnahme nur im Parlaments-Intranet abgerufen werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, bereits veröffentlichte Stellungnahmen durch „Zustimmung“ zu unterstützen. So sollen Abgeordnete, Ministerien und die Öffentlichkeit auch sehen können, welche Anliegen als besonders bedeutsam erachtet werden.

Die Parlamentsdirektion kontrolliert, ob Stellungnahmen im Sinne des GOG-NR auch der „Würde des Hauses“ entsprechen, also z. B. keine Beschimpfungen enthalten. Außerdem wird vor einer Veröffentlichung kontrolliert, ob eine Stellungnahme z.B. gegen strafrechtliche Bestimmungen, Urheberrecht oder Datenschutzrecht verstößt. In diesen Fällen erfolgt keine Veröffentlichung.

Im vorparlamentarischen Begutachtungsverfahren werden die Stellungnahmen an die zuständigen Ministerien weitergeleitet. Mit dem E-Mail-Service und auf der Website „Neues im Nationalrat“ wird täglich über neu eingelangte Stellungnahmen im vorparlamentarischen und im parlamentarischen Verfahren informiert. Eine weitere Bearbeitung durch die Parlamentsdirektion erfolgt jedoch nicht. Das heißt, es werden weder Übersichten der Stellungnahmen noch Zusammenstellungen und Auswertungen der vorgebrachten Argumente erstellt. Es liegt in der Verantwortung der zuständigen Ministerien oder der Abgeordneten, welche Stellungnahmen sie aufgreifen und allenfalls weiter bearbeiten.

Vor Einführung des parlamentarischen Begutachtungsverfahrens 2021 wurden immer wieder auch sogenannte Ausschussbegutachtungen durchgeführt (z. B. zur Reform des Untersuchungsausschussrechts). Auf Grundlage von § 40 GOG‑NR wurden ausgewählte Personen oder Institutionen zur Abgabe schriftlicher Stellungnahmen eingeladen. Dies ist nach wie vor möglich. In Einzelfällen wurde dann die Parlamentsdirektion beauftragt, eine Zusammenstellung der Eingaben (= Synopse) zu erstellen.

Was können Begutachtungs­verfahren bewirken?

Auch wenn sich Begutachtungsverfahren in Österreich auf Information und Stellungnahmemöglichkeiten beschränken, kommt ihnen Bedeutung im Gesetzgebungsprozess zu. Generell werden Begutachtungsverfahren als Möglichkeit gesehen, Fachwissen und Praxiserfahrungen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Sie bieten damit auch die Chance, die Akzeptanz und Anwendungstauglichkeit vorgeschlagener Maßnahmen zu überprüfen und die Qualität der Gesetzgebung zu sichern. In Österreich kommt das besonders darin zum Ausdruck, dass sich auch Ämter und Behörden wie z. B. der Verfassungsdienst im Bundeskanzleramt, der Rechnungshof, die Volksanwaltschaft oder die Ämter der Landesregierungen am Begutachtungsverfahren beteiligen können. Damit haben Fachexperten und -expertinnen die Chance, sich öffentlich zu äußern. Abgeordnete, Medien und z. B. auch Interessenvertretungen können dann unmittelbar auf deren Expertise zugreifen und sich in ihrer Berichterstattung bzw. in Debattenbeiträgen darauf berufen. Da alle Stellungnahmen von Ämtern, Behörden und Organisationen veröffentlicht werden und mit den parlamentarischen Materialien verknüpft sind, kann in weiterer Folge auch in der Wissenschaft und in Gerichtsverfahren darauf zurückgegriffen werden.

Begutachtungsverfahren dienen aber nicht nur der Einholung von Expertenwissen. Sie sind offen gehalten und können daher auch genutzt werden, um Kritik oder Protest zu äußern. Damit hat jede und jeder – unabhängig vom Wahlrecht oder der Staatsangehörigkeit (zu beachten ist jedoch, dass die Verhandlungssprache grundsätzlich Deutsch ist) – die Möglichkeit, ihre bzw. seine Meinung in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. In den letzten Jahren hat die Nutzung der Möglichkeit zur Stellungnahme bei gesellschaftlich besonders intensiv diskutierten Maßnahmen deutlich zugenommen, wie Tabelle 1 exemplarisch zeigt. Viele Eingaben waren jedoch sehr kurz oder auch ident, was darauf schließen lässt, dass eine organisierte Form des Protests vorliegt. In der Praxis bietet die Unterstützung einer Stellungnahme durch eine Zustimmung gegenüber der Einbringung einer gleichlautenden Stellungnahme den Vorteil, dass auf der Website des Parlaments das Ausmaß der Unterstützung transparent dargestellt ist und die Stellungnahmen nach der Anzahl der jeweils abgegebenen Zustimmungen sortiert werden können.

Tabelle 1: Ministerialentwürfe mit den meisten Stellungnahmen

Einlangen Betreff Anzahl Stellungnahmen
3.3.2021 Epidemiegesetz, COVID-19-Maßnahmengesetz, Änderung (98/ME) 35.346
12.5.2021 Epidemiegesetz, COVID-19-Maßnahmengesetz, Änderung (122/ME) 16.555
31.12.2020 Epidemiegesetz, COVID-19-Maßnahmengesetz, Änderung (88/ME) 14.365
26.3.2021 Polizeiliche Staatsschutzgesetz, Sicherheitspolizeigesetz u. a., Änderung (104/ME) 8.877
12.8.2020 Epidemiegesetz, Tuberkolosegesetz u. a., Änderung (41/ME) 8.281

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