Fachinfos - Fachdossiers 11.11.2024

Wie kann demokratischer Zusammenhalt gestärkt werden?

Was steht im Mittelpunkt demokratischer Politik?

"Demokratie braucht Zukunft. Zukunft braucht Herkunft" ist das Motto von Bundesratspräsident Franz Ebner für den oberösterreichischen Vorsitz im Bundesrat von Juli bis Dezember 2024. Im Zentrum steht die Frage, wie das Miteinander innerhalb der Gesellschaft gestärkt und verloren gegangenes Vertrauen in politische Institutionen wieder aufgebaut werden kann.

Der soziale Zusammenhalt sowie die Grundlagen und die Gefährdungen der Demokratie gehören zu den zentralen Forschungsfeldern der Sozialwissenschaften und der politischen Philosophie. Sie befassen sich besonders mit der in vielen Teilen Europas und Nordamerikas beobachteten Auflösung traditioneller sozialer Milieus und den Veränderungen von Wirtschaft, Medien und Politik. Wissenschaftler:innen arbeiten daran, diese Entwicklungen mit empirischen Methoden möglichst genau zu erfassen. Sie setzen sich mit den in vielen Gesellschaften gebrauchten Vorstellungen von Zusammenhalt, Demokratie und Werten auseinander und fragen, ob und wie diese weiterentwickelt werden können.

Das Fachdossier gibt einen Überblick darüber und legt den Schwerpunkt auf empirische Befunde und wissenschaftliche Debatten zu bzw. in Österreich.

Wie steht es um Demokratie in Österreich?

In Österreich wird regelmäßig untersucht, wie Menschen über Demokratie, Zusammenhalt und staatliche Institutionen denken. Das passiert etwa mit dem Demokratie Monitor, dessen Kooperationspartner das Parlament ist. Bis 2023 gab es auch ein jährliches Demokratieradar. Dazu kommen weitere Untersuchungen wie die Europäische Wertestudie.

In all diesen Studien zeigt sich eine konstant hohe Zustimmung zu Demokratie in Österreich. Es wird auch deutlich, dass es in vielen gesellschaftspolitischen Themen (wie z. B. staatliche Maßnahmen, um Einkommensunterschiede zu verringern, oder sexuelle Orientierung) eine hohe Übereinstimmung – also wenig Polarisierung – quer durch die Bevölkerung und über Parteigrenzen hinweg gibt. Polarisierung ist jedoch höher, wenn Themen wie Migration oder Klimawandel gleichbleibender Teil politischer Kampagnen sind (Demokratie Monitor 2023 – Sonderauswertung Polarisierung; vgl. auch Mau u. a. 2023).

In Umfragen zu Demokratie, Zusammenhalt und Werten werden in der Regel einzelne Themen abgefragt. Ein Gesamtbild kann sich erst dann ergeben, wenn verschiedene Fragen und Antworten in Beziehung gesetzt werden. Dann kann sich etwa zeigen, dass für viele Menschen ein grundsätzliches Bekenntnis zu Demokratie eine Ablehnung von Parlamenten oder Menschenrechten nicht ausschließt (Pickel/Pickel 2023).

Die Politikwissenschaftlerin Susanne Pickel hat das in einem Vortrag in Wien für verschiedene Studien über Österreich im europäischen Vergleich gezeigt. Obwohl die Zustimmung zu Demokratie hoch bleibt, geht hier das Vertrauen in demokratische Institutionen (z. B. Parlament, Regierung, Parteien) kontinuierlich zurück. Damit ist die Einschätzung verbunden, dass die Qualität der Demokratie im eigenen Land sinkt, und dass es immer weniger Möglichkeiten gibt, selbst das Zusammenleben mitzugestalten. Die Studiendaten weisen für Pickel darauf hin, dass die Unterstützung von Demokratie sehr viel mit unmittelbaren Erfahrungen und kurzfristigen Ereignissen zu tun hat. Wenn darauf nicht reagiert wird, können sich diese Erfahrungen verfestigen und das Vertrauen in demokratische Institutionen langfristig schwächen.

Wer kann Konflikte aushalten und austragen?

Sozialwissenschaftliche Methoden und politische Theorien können helfen, gesellschaftliche Strukturen, Mechanismen und Ideen zu identifizieren und zu ordnen. Wissenschaften können damit Orientierung vermitteln und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen (Blühdorn 2024, S. 175).

Das bewusst zu halten, ist, wie der Wiener Soziologe Georg Vobruba betont, mit Blick auf gesellschaftliche Konflikte und Polarisierung von großer Bedeutung. Die Sozialwissenschaften weisen darauf hin, dass es nicht eine Theorie oder eine Denkweise gibt, die unsere gesamte Welt erklären kann. In polarisierten Auseinandersetzungen bestehen hingegen Tendenzen, alles auf die Absichten einer Gruppe zurückzuführen. Meinungsvielfalt, Zufälle oder Ambivalenzen gibt es dann nicht, sondern alles folgt einem – oft als geheim angesehenen – Plan (Vobruba 2024).

Allerdings gibt es im Zusammenhang mit der Frage nach sozialem Zusammenhalt auch in politischen und wissenschaftlichen Debatten die Tendenz, einzelne Erklärungen wie z. B. Migration besonders hervorzuheben. Damit befasst sich der dänische Philosoph Nils Holtug. Er weist in seinen Analysen darauf hin, dass solche Argumente zwar zwingend erscheinen können, aber dass sie sehr oft auf wenigen empirischen Daten beruhen und ein enges Verständnis von Ideen wie Gerechtigkeit oder Zusammenhalt vertreten. Er argumentiert, dass eine Politik des sozialen Zusammenhalts nur dann wirksam werden kann, wenn sie

(1) sich auf die komplexen und konflikthaften Lebensverhältnisse in modernen Gesellschaften einlässt,

(2) ein klares Bild von der Rolle des Staates für den Zusammenhalt entwickelt, und

(3) bereit ist, die damit verbundenen Konflikte in demokratischer Weise auszutragen (Holtug 2021).

Vor diesem Hintergrund geht es in vielen Beiträgen zur Frage des sozialen Zusammenhalts und der Zukunft demokratischer Gesellschaften darum, wie Konflikte über unterschiedliche Auffassungen von Politik und Werten ausgetragen werden können. Die Wiener Theologin und Werteforscherin Regina Polak betont in Bezug auf Wertestudien in Österreich und Europa (Polak 2023a und 2023b) die folgenden drei Punkte:

(1) Wenn in politischen Debatten mit Werten argumentiert wird, werden diese nicht näher bestimmt. Sie sind Platzhalter für eine Fülle politischer Meinungen.

(2) Die Bezugnahme auf – gemeinsame – Werte kann große Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Es bedarf aber einer kritischen Auseinandersetzung mit den Eigenschaften, Erwartungen, Gütern und Zielen, die mit Werten umschrieben werden.

(3) Damit eine solche Auseinandersetzung gelingen kann, braucht es die Bereitschaft, Werte und die damit verbundenen Handlungen und Ziele ethisch zu reflektieren. In Staaten wie Österreich geschieht dies nur selten, und Schulen bereiten wenig darauf vor. In politischen Debatten wird die Bezugnahme auf ethische Argumente häufig als Moralisierung bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit diesen Argumenten wird damit erschwert oder sogar verunmöglicht.

Die Innsbrucker Philosophin Marie-Luisa Frick sieht die große Herausforderung für demokratische Gesellschaften darin, eine "Ethik der politischen Gegnerschaft" zu entwickeln. Demokratie ist immer von Konflikten geprägt, und diese sollen nicht überdeckt oder zugeschüttet werden. Gegner:innen sind aber bereit, Konflikte in einem bestimmten Rahmen auszutragen. Sie sind keine Feinde, die einander zerstören wollen. Damit Gegnerschaft funktioniert, kann Politik nicht auf Durchsetzung und Machterhalt reduziert werden. Jede:r in einer demokratischen Gesellschaft muss sich auch der ethischen Frage stellen können, was er und sie dem Gegenüber schuldet, und wie er und sie einen Beitrag zur fairen Austragung von Konflikten leisten kann (Frick 2017 und 2020).

Was ist konkret möglich?

Verstärkt widmen sich Sozialwissenschaftler:innen verschiedener Disziplinen der Frage, wie Konflikte in komplexen und von Polarisierung geprägten Gesellschaften ausgehalten und respektvoll ausgetragen werden können.

Der Historiker Till van Rahden schlägt vor, Demokratie in erster Linie als Lebensform zu verstehen. Den Ausgangspunkt dafür bildet für ihn die Frage, wie es gelingen konnte, nach der Nazizeit und dem Zweiten Weltkrieg eine demokratische Gesellschaft in Deutschland aufzubauen (van Rahden 2019). Dazu befasst er sich mit Entwicklungen in Städten und Gemeinden, in denen Kindergärten, Parks und Schwimmbäder errichtet oder öffentliche Verkehrsmittel gefördert wurden. Sie alle haben gemeinsame Orte für sehr unterschiedliche, oft verfeindete Menschen geschaffen. Demokratie ist für van Rahden zunächst eine Frage der Umgangsformen und Rituale, die Menschen Sicherheit geben, um mit Konflikten, Widersprüchen und Enttäuschungen umgehen zu können. Sie können eine Möglichkeit schaffen, mit Menschen zusammenzuleben, die man eigentlich ablehnt oder als störend empfindet.

Dieser Ansatz findet sich auch in zahlreichen Büchern, die mithilfe von Szenarien Auswege aus polarisierten Verhältnissen zeigen wollen. Am Beispiel Deutschlands tut dies aktuell Andrea Römmele, indem sie erklärt, wie Wissen über Megatrends wie Digitalisierung, Urbanisierung oder demografischer Wandel zum Anstoß für die Einbindung vieler unterschiedlicher Menschen in kleine und lokale Projekte werden kann (Römmele 2024). Ein wichtiger Bezugspunkt solcher Vorschläge sind häufig die Erfahrungen mit Partizipation und Bürger:innenräten in Vorarlberg (Nanz/Leggewie 2018).

Solche Zugänge werden aber auch kritisiert, vor allem weil sie sich auf überschaubare Gruppen konzentrieren. Häufig gehen sie nicht darauf ein, was die Sichtweisen einer viel größeren Zahl von Menschen auf Demokratie und Wirtschaft prägt. Medienkonsum und digitale Kommunikation heben vor allem die großen Ereignisse und Krisen hervor. Lokale Initiativen können dann als bloße "Simulation von Demokratie" gesehen werden, weil viele Menschen der Meinung sind, dass die Versprechen der Demokratie von Politiker:innen ohnehin nicht mehr eingehalten werden (Blühdorn 2024).

Cristina Leston-Bandeira und David Judge, die Politikwissenschaft im Vereinigten Königreich lehren, setzen sich seit Langem mit der Frage auseinander, ob Parlamente unter diesen Umständen einen Beitrag leisten können und welchen. Leston-Bandeira sprach darüber am Tag der Parlamentsforschung 2024 im österreichischen Parlament. Parlamente seien das, was ein Großteil der Menschen mit Demokratie verbinde. Allerdings hätten die wenigsten von ihnen je die Möglichkeit, in einen direkten Austausch mit Parlamenten und Parlamentarier:innen zu treten. Parlamente hätten aber die Chance, durch verschiedene Projekte und Initiativen auch "zu den Menschen zu kommen" und z. B. jene anzusprechen, die sich wenig für Politik interessieren. Dafür bräuchte es den Aufbau stabiler Beziehungen (eine Rolle besonders für Parlamentsverwaltungen) und Möglichkeiten des Engagements, in denen Menschen die Erfahrung machen, dass sie selbst wirksam werden können (Leston-Bandeira/Judge 2024). Solche Ansätze werden bereits in regionalen Parlamenten verfolgt (siehe das Fachdossier "Wie funktionieren BürgerInnenräte zu Gesetzesvorhaben in Europa?")

Das 2024 gegründete Berkeley Center for American Democracy will im Unterschied dazu die Erneuerung von sozialem Zusammenhalt und Demokratie mit großen Datenbanken und digitalen Applikationen unterstützen. Eines der Projekte, die es unterstützt, hat gezeigt, dass Polarisierung häufig dadurch entsteht, dass Menschen überzeugt sind, dass politische Gegner die Demokratie zerstören wollen. Damit steigt bei vielen die eigene Neigung, demokratische Prozesse einzuschränken, um so die vermeintlichen Gegner:innen zu schwächen (Braley u. a. 2023). Mithilfe kleiner Interventionen wie etwa einem Quizspiel könnte es, wie die Forscher:innen zeigen, aber gelingen, dass Menschen die Bereitschaft entwickeln, ihre Ansichten zu überdenken und wieder miteinander ins Gespräch zu kommen.

Weitere Ansätze, um auf die Gefährdungen von Demokratie zu reagieren, werden auch im Fachdossier "Was ist eine wehrhafte Demokratie?" vorgestellt.

Bundes­ratsenquete: "Demokratie braucht Zukunft"

Zeit: Dienstag, 12. November 2024, 9.00 Uhr

Ort: Sitzungssaal des Bundesrats, Parlament

Die Parlamentarische Enquete wird live in der Mediathek und im ORF III übertragen.

Quellenauswahl

Blühdorn, Ingolfur (2024), Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne.

Braley, Alia u. a. (2023), Why voters who value democracy participate in democratic backsliding, Nature Human Behaviour 7, S. 1282–1293.

Frick, Marie-Luisa (2017), Zivilisiert streiten. Zur Ethik der politischen Gegnerschaft.

Frick, Marie-Luisa (2020), Mutig denken. Aufklärung als Prozess.

Holtug, Nils (2021), The Politics of Social Cohesion. Immigration, Community, and Justice.

Leston-Bandeira, Cristina/David Judge (2024), Reimagining Parliament.

Mau, Steffen/Thomas Lux/Linus Westheuser (2024), Triggerpunkte: Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft.

Nanz, Patricia/Claus Leggewie (2018), Die Konsultative: Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung.

Pickel, Susanne/Gert Pickel (2023), Political Values and Religion: A Comparison Between Western and Eastern Europe, in: Polak, Regina/Patrick Rohs (Hrsg.), Values – Politics – Religion: The European Values Study, S. 157–203.

Polak, Regina (2023a), "Values matter": Zur Bewährungsprobe der "Europäischen Werte" in einer säkularen und religiös pluralen Gesellschaft, in: Feldbauer-Durstmüller, Birgit u. a. (Hrsg.), Unternehmen, Organisationen und Werte, S. 165–200.

Polak, Regina (2023b), Values: A Contested Concept, in: Polak, Regina/Patrick Rohs (Hrsg.), Values – Politics – Religion: The European Values Study, S. 33–93.

Römmele, Andrea (2024), Demokratie neu denken. Szenarien unserer Welt von morgen.

Van Rahden, Till (2019), Demokratie: eine gefährdete Lebensform.

Vobruba, Georg (2024), Das Verschwörungsweltbild. Denken gegen die Moderne.