Sozialwissenschaftliche Methoden und politische Theorien können helfen, gesellschaftliche Strukturen, Mechanismen und Ideen zu identifizieren und zu ordnen. Wissenschaften können damit Orientierung vermitteln und neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen (Blühdorn 2024, S. 175).
Das bewusst zu halten, ist, wie der Wiener Soziologe Georg Vobruba betont, mit Blick auf gesellschaftliche Konflikte und Polarisierung von großer Bedeutung. Die Sozialwissenschaften weisen darauf hin, dass es nicht eine Theorie oder eine Denkweise gibt, die unsere gesamte Welt erklären kann. In polarisierten Auseinandersetzungen bestehen hingegen Tendenzen, alles auf die Absichten einer Gruppe zurückzuführen. Meinungsvielfalt, Zufälle oder Ambivalenzen gibt es dann nicht, sondern alles folgt einem – oft als geheim angesehenen – Plan (Vobruba 2024).
Allerdings gibt es im Zusammenhang mit der Frage nach sozialem Zusammenhalt auch in politischen und wissenschaftlichen Debatten die Tendenz, einzelne Erklärungen wie z. B. Migration besonders hervorzuheben. Damit befasst sich der dänische Philosoph Nils Holtug. Er weist in seinen Analysen darauf hin, dass solche Argumente zwar zwingend erscheinen können, aber dass sie sehr oft auf wenigen empirischen Daten beruhen und ein enges Verständnis von Ideen wie Gerechtigkeit oder Zusammenhalt vertreten. Er argumentiert, dass eine Politik des sozialen Zusammenhalts nur dann wirksam werden kann, wenn sie
(1) sich auf die komplexen und konflikthaften Lebensverhältnisse in modernen Gesellschaften einlässt,
(2) ein klares Bild von der Rolle des Staates für den Zusammenhalt entwickelt, und
(3) bereit ist, die damit verbundenen Konflikte in demokratischer Weise auszutragen (Holtug 2021).
Vor diesem Hintergrund geht es in vielen Beiträgen zur Frage des sozialen Zusammenhalts und der Zukunft demokratischer Gesellschaften darum, wie Konflikte über unterschiedliche Auffassungen von Politik und Werten ausgetragen werden können. Die Wiener Theologin und Werteforscherin Regina Polak betont in Bezug auf Wertestudien in Österreich und Europa (Polak 2023a und 2023b) die folgenden drei Punkte:
(1) Wenn in politischen Debatten mit Werten argumentiert wird, werden diese nicht näher bestimmt. Sie sind Platzhalter für eine Fülle politischer Meinungen.
(2) Die Bezugnahme auf – gemeinsame – Werte kann große Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt haben. Es bedarf aber einer kritischen Auseinandersetzung mit den Eigenschaften, Erwartungen, Gütern und Zielen, die mit Werten umschrieben werden.
(3) Damit eine solche Auseinandersetzung gelingen kann, braucht es die Bereitschaft, Werte und die damit verbundenen Handlungen und Ziele ethisch zu reflektieren. In Staaten wie Österreich geschieht dies nur selten, und Schulen bereiten wenig darauf vor. In politischen Debatten wird die Bezugnahme auf ethische Argumente häufig als Moralisierung bezeichnet. Die Auseinandersetzung mit diesen Argumenten wird damit erschwert oder sogar verunmöglicht.
Die Innsbrucker Philosophin Marie-Luisa Frick sieht die große Herausforderung für demokratische Gesellschaften darin, eine "Ethik der politischen Gegnerschaft" zu entwickeln. Demokratie ist immer von Konflikten geprägt, und diese sollen nicht überdeckt oder zugeschüttet werden. Gegner:innen sind aber bereit, Konflikte in einem bestimmten Rahmen auszutragen. Sie sind keine Feinde, die einander zerstören wollen. Damit Gegnerschaft funktioniert, kann Politik nicht auf Durchsetzung und Machterhalt reduziert werden. Jede:r in einer demokratischen Gesellschaft muss sich auch der ethischen Frage stellen können, was er und sie dem Gegenüber schuldet, und wie er und sie einen Beitrag zur fairen Austragung von Konflikten leisten kann (Frick 2017 und 2020).