Fachinfos - Parlamentsforschung 05.07.2024

Das war der Tag der Parlamentsforschung 2024

Mehr als 150 Teilnehmer:innen und Gäste gingen gemeinsam der Frage nach, wie Performance von Parlamenten interpretiert werden kann und welche Herangehensweisen sich in Zeiten wandelnder Anforderungen an Politik und Forschung dazu eignen, sie zu untersuchen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka betonte in seinen Eröffnungsworten die große Bedeutung der Wissenschaft für die Politik. Letztere sei im Sinne der Stabilität der Demokratie gefordert, wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka begrüßt die Gäste des diesjährigen Tag der Parlamentsforschung

Keynote and Response

Der Keynote-Vortrag wurde dieses Jahr von der Anthropologin Emma Crewe (SOAS University of London) gehalten. Sie fragte danach: "What are parliaments for and how do they perform?". Dabei betonte sie die vielfältigen Rollen und Performances, in die Politiker:innen je nach Setting regelmäßig wechseln müssen und wie wichtig daher der anthropologische Blick auf die Beziehungsarbeit der Politiker:innen sei. Kollaboration und interdisziplinäre Zusammenarbeit seien für sie selbst und für deren wissenschaftliche Betrachtung unerlässlich.

Anthropologin Emma Crewe

Der Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik ergänzte diesen Vortrag mit einer Replik aus Sicht der quantitativen Forschung. Der Vortrag Emma Crewes zeige, wie wichtig es sei, in der eigenen wissenschaftlichen Praxis immer zu reflektieren, wie quantitative Daten entstanden seien: Als Beispiel führte er die Parlamentsdirektion und die parlamentarischen Materialien, die sie zur Verfügung stellt, an. In diesem Fall seien es die Mitarbeiter:innen dieser Institution, die die komplexe, einzigartige Interaktion der Menschen in der politischen Arena in sorgfältig aufbereitete, klar definierte Objekte und Kategorien bündeln. Um das Material, das für wissenschaftliche Forschung herangezogen wird, entsprechend verstehen und kontextualisieren zu können, plädierte daher auch Ennser-Jedenastik in seinem Vortrag für einen interdisziplinären Zugang in der Forschung.

Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik

In der anschließenden Diskussion, die von Christoph Konrath (Parlamentsdirektion) moderiert wurde, sprachen sich sowohl Emma Crewe als auch Laurenz Ennser-Jedenastik dafür aus, die Zusammenarbeit zu suchen und durch gemeinsame Fiktionen der Zukunft mehr Hoffnung zu säen, um den vorherrschenden Zynismus und die Negativität zu überwinden.

Die Präsentation zum Vortrag von Emma Crewe sowie ein lektoriertes und bearbeitetes Transkript des Vortrags, der Antwort darauf sowie der anschließenden Diskussion (alles in englischer Sprache) finden Sie hier:

Crewe: Keynote: What are parliaments for and how do they perform? / PDF, 3 MB

Day of Parliamentary Research 2024 – Keynote speech, response and discussion / PDF, 262 KB

Von links: Emma Crewe, Christoph Konrath und Laurenz Ennser-Jedenastik

Im Anschluss folgten vier abwechslungsreiche Panels. Dabei wurde über folgende Themen diskutiert (die Autor:innen sind für die Inhalte ihrer jeweiligen Präsentationen selbst verantwortlich):

Panel I: How do parliaments strengthen and/or undermine democratic resilience?

In Panel I stand die Resilienz von Demokratie zur Diskussion. Stanislav Ivasyk (USAID RADA Next Generation Program, University of Kyiv-Mohyla Academy, Kiew) von der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, stellte die Herausforderungen dar, mit denen Parlamente in Kriegszeiten konfrontiert sind. Cristina Leston-Bandeira (University of Leeds) legte die Rolle von Parlamenten zur Stärkung von Demokratie dar und betonte, wie wichtig es sei, dass Bürger:innen und ihre Anliegen gehört würden. Giovanni Rizzoni (Italian Chamber of Deputies Research Service, LUISS  University of Rome) verglich Parlamente mit generativer künstlicher Intelligenz, denn sie produzierten durch Deliberation politische und intellektuelle Outputs, die am Ende oft anders aussehen, als man anfänglich annehmen hätte können. Sven T. Siefken (Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Berlin) führte durch die anschließende Diskussion.

Ivasyk: Wartime parliament in operation: Lessons learned from Ukrainian democracy / PDF, 1 MB

Leston-Bandeira: Parliaments’ role in strengthening democratic resilience / PDF, 1 MB

Rizzoni: Parliaments as an example of "generative artificial intelligence" / PDF, 441 KB

Von links: Anna Rathmair (Panel chair), Stanislav Ivasyk, Cristina Leston-Bandeira, Giovanni Rizzoni und Sven T. Siefken

Panel II: What do plenary debates tell us about power relations and democratic culture?

In Panel II präsentierte Karin Bischof (Universität für Weiterbildung Krems) ein Forschungsprojekt, das anhand von Antisemitismus in parlamentarischer Rhetorik untersucht, welchen Änderungen demokratische Kultur unterliegt. Albert Erik Gruber (Universität Wien) untersucht die linguistischen Merkmale von Reden im Nationalrat und wie sich diese in der Zeit von 1945 bis heute verändert haben. Teresa Hailer (Universität Heidelberg) untersuchte Debatten im Deutschen Bundestag von 1949 bis 2021 mit Fokus auf Gender-Dynamiken. Zuletzt präsentierten Nada Ragheb, Maria Schreiner und Julia Leitner (alle Universität Innsbruck) ihre Untersuchung zum Redeverhalten von Nationalratsabgeordneten in Zusammenhang mit deren Sitzplätzen im Nationalratssaal. Katrin Praprotnik (Universität Graz) leitete die Diskussion im Anschluss.

Bischof and Löffler: What parliamentary rhetoric tells us about changing democratic culture / PDF, 489 KB

Gruber: Speeches of the Austrian National Council and their linguistic change / PDF, 111 KB

Hailer: Decoding discourse: Gender dynamics in German Bundestag debates / PDF, 1 MB

Ragheb, Schreiner and Leitner: Speech and spatial dynamics in the Austrian Parliament / PDF, 3 MB

Von links: Katrin Praprotnik, Julia Heiss (Panel chair), Nada Ragheb, Teresa Hailer, Albert Erik Gruber und Karin Bischof

Panel III: New ways of understanding and supporting (pre-)parliamentary decision-making processes?

Dmitry Erokhin (International Institute for Applied System Analysis, IIASA) eröffnete das Panel III. Er gab Einblicke in ein Modell, mit dem maschinelles Lernen genutzt werden kann, um zu untersuchen, für welche Staaten gemeinsame Steuerabkommen sinnvoll wären. Katrin Praprotnik (Universität Graz) zeigte auf, wie wichtig die Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte von Wahlversprechen bei der Analyse von Wahlprogrammen ist. Im Anschluss präsentierte Sven T. Siefken (Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Berlin) ein interdisziplinäres Projekt, in dem angestrebt wird, den Gesetzgebungsprozess zu kartographieren. Cristina Leston-Bandeira (University of Leeds) führte durch die Diskussion.

Erokhin: Predicting tax treaty formation using machine learning / PDF, 996 KB

Praprotnik and Ennser-Jedenastik: Narratives of election pledges in Austria / PDF, 301 KB

Siefken and Kampe: Cartography of legislation: An interdisciplinary research project / PDF, 7 MB

Von links: Anna Rathmair (Panel chair), Dmitry Erokhin, Katrin Praprotnik, Sven T. Siefken und Cristina Leston-Bandeira

Panel IV: How do MPs navigate between various kinds of pressure (public, party, voters)?

In Panel IV fragte Nina Bianca Dohr (Andrássy Universität Budapest) danach, ob Parteien ihre politischen Positionen ändern, wenn sie mit entsprechendem Druck durch die Öffentlichkeit konfrontiert sind. Sie untersucht das speziell am Thema der Parteienfinanzierung. Marcelo Jenny (Universität Innsbruck) zeigte in seiner Präsentation auf, wie die Abwesenheit von Mandatar:innen bei Abstimmungen in Plenarsitzungen interpretiert werden kann und welche Gründe es dafür geben könnte. Danny Schindler (Institut für Parlamentarismusforschung, Berlin) fragte danach, in welchem Ausmaß und warum es in Deutschland häufig zu einem Fraktionswechsel in den Parlamenten (Bund sowie Bundesländer) kommt. Zum Abschluss präsentierte David Willumsen (Universität Innsbruck) seine Forschung darüber, wie über den geeigneten Standort für ein Parlament nachgedacht wird und was man aus diesen Diskussionen lernen kann. Christoph Konrath (Parlamentsdirektion) führte die Diskussion.

Dohr: Political changes of position under public pressure / PDF, 398 KB

Jenny and Habersack: Party cohesion, absences, and the scaling of MPs' ideological positions / PDF, 648 KB

Schindler: Parliamentary party switching in Germany / PDF, 1 MB

Willumsen: Explaining capital re-location decisions / PDF, 7 MB

Von links: Christoph Konrath, Julia Heiss (Panel chair), David Willumsen, Danny Schindler, Nina Bianca Dohr und Marcelo Jenny

Poster Session

In einer Poster Session hatten die Teilnehmer:innen und Besucher:innen die Möglichkeit, sich direkt mit Forscher:innen zu ihren laufenden Arbeiten auszutauschen. Die folgenden Themen wurden diskutiert:

Hofer: Showcases and the Open Data offer of the Austrian Parliament / PDF, 354 KB

Vladi, Gijka and Babasi: Comparative assessment of women and youth representation in parliaments / PDF, 482 KB

Link zur interaktiven Visualisierung der Budgetdaten / HTML, 35 KB (präsentiert von Friedrich Sindermann)

"Forschungsjahr im Parlament" 2023 und 2024

Als weiterer Programmpunkt stand die Initiative der Parlamentsdirektion "Forschungsjahr im Parlament" im Mittelpunkt. Zu Beginn stellte Bianca Winkler (Universität Wien) die vorläufigen Ergebnisse ihres Projekts "Die Rezeption von Wissenschaftsdiskursen in der Debattenkultur des Parlaments" vor. Es war das erste Projekt, das im Rahmen der Initiative (2023) ausgewählt wurde. Dann präsentierte Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák das Projekt, das 2024 vom wissenschaftlichen Beirat ausgewählt wurde. Der Forscher Josef Lolacher (University of Oxford) gab im Anschluss einen ersten Einblick in sein Forschungsvorhaben, das die Frage stellt: "Do parliamentarians listen to experts or ordinary citizens?"

Die Präsentationen der beiden Vorträge finden Sie hier:

Forschungsjahr im Parlament 2023: Winkler / PDF, 275 KB

Forschungsjahr im Parlament 2024: Lolacher / PDF, 1 MB

Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák bei der Präsentation des ausgewählten Projekts für das "Forschungsjahr im Parlament" 2024

Podiumsdiskussion

Den Abschluss machten Emma Crewe, die Direktorin der Volksoper Lotte de Beer und der Experte für politische Kommunikation Thomas Hofer in einer Podiumsdiskussion, die vom Historiker und Autor Philipp Blom moderiert wurde. Sie gingen gemeinsam der Frage nach: "Why does performance matter? Different perspectives on performance and parliaments."

Einen Bericht über diese Diskussion (in englischer Sprache) finden Sie hier:

Day of Parliamentary Research 2024 – Report of the panel discussion / PDF, 213 KB

Von links: Thomas Hofer, Philipp Blom, Emma Crewe und Lotte de Beer