Fachinfos - Fachdossiers 27.03.2025

Wie können zukünftige Generationen heute berücksichtigt werden?

Politische Entscheidungsträger:innen müssen oft schnell auf aktuelle Herausforderungen wie wirtschaftliche Engpässe, Gesundheitskrisen oder geopolitische Spannungen reagieren. Dabei stehen die Bedürfnisse der Gegenwart im Fokus. Langfristige Herausforderungen wie der Klimawandel, der Erhalt und die Entwicklung von Infrastruktur oder die Nachhaltigkeit von Pensions-, Gesundheits- und Bildungssystemen können dabei aus den Augen verloren werden. Dass künftige Generationen stark von heutigen Entscheidungen betroffen sein werden, aber keinerlei Einfluss darauf haben, kann Fragen betreffend intergenerationaler Gerechtigkeit aufwerfen. Welche Verantwortung tragen heutige Gesellschaften für die langfristigen Auswirkungen ihres Handelns? Und wie kann die Politik die Anliegen zukünftiger Generationen berücksichtigen?

Das Fachdossier erläutert zunächst die Praxis des sogenannten politischen Präsentismus und skizziert die zentralen Faktoren dahinter. Anschließend skizziert es sowohl gerechtigkeitstheoretische Ansatzpunkte der Sozial-, Geistes- und Rechtswissenschaften als auch bereits existierende institutionelle Ansätze zum zukunftsorientierten Planen.

Was bedeutet politischer Präsentismus?

Das Spannungsverhältnis zwischen kurzfristigem Handeln und langfristigen Konsequenzen spiegelt sich weltweit in politischen Entscheidungsprozessen wider – in autoritären und hybriden Systemen, aber auch in Demokratien (vgl. Krznaric 2024). Empirische Studien zeigen, dass sowohl direkte als auch repräsentative demokratische Verfahren ausgeprägte Tendenzen zum politischen Präsentismus (presentism oder auch political shortism) aufweisen (vgl. Tremmel 2021). Politischer Präsentismus bezeichnet eine Praxis der Politikgestaltung, die kurzfristige Vorteile anstrebt. Dabei wird auf langfristige Investitionen und Maßnahmen verzichtet, die auf lange Sicht Probleme lösen könnten, aber kurzfristige Kosten verursachen (Ogami 2024). Wie der Philosoph Jörg Tremmel (2021) betont, unterscheiden sich die Folgen dieser Praxis je nach Zeithorizont der adressierten Probleme. Staatsschulden, ausbleibende Investitionen in Bildungssysteme oder nicht getätigte Anpassungen der Pensions- und Sozialversicherungssysteme können schwerwiegende, jedoch korrigierbare Folgen für den Wohlstand einer Gesellschaft haben. Kurzfristiges Denken in anderen Bereichen – z. B. der Umweltpolitik – könnte hingegen zu Schäden führen, die irreversibel sind, oder deren Behebung Jahrtausende in Anspruch nehmen würde, weswegen sie die Lebenswelten zukünftiger Generationen beeinflussen.

Welche Faktoren begünstigen politischen Präsentismus?

Forscher:innen sehen hinter politischem Präsentismus in demokratischen Systemen unterschiedliche Triebfedern: Wahlzyklen (Nordhaus, 1975; MacKenzie 2016; Ogami 2024; Krznaric 2024), fehlendes Vertrauen der Wähler:innen in die Umsetzung langfristiger Projekte (Saijo 2024), den kontinuierlichen Nachrichtenstrom (Caney 2016) sowie Unsicherheit als psychologischen Faktor, der zu Präferenzen für die Gegenwart auf Kosten der Zukunft führt (auch Diskontierung genannt; Krznaric 2024). Im Zusammenhang mit dieser Präferenz gibt es empirische Belege, die den Einfluss sogenannter spezieller Interessengruppen nahelegen. Forscher:innen identifizieren als solche Interessengruppen v. a. ältere Generationen (Wilkoszewski 2008; Thompson 2010) und wirtschaftliche Akteur:innen (Shearman und Smith 2007; Mansbridge 2012; Ogami 2024). Die Nichtrepräsentation künftiger Generationen spielt ebenfalls eine Rolle (Setälä 2024). Zukünftige, besonders junge oder gar ungeborene Generationen sind weder anwesend noch haben sie eine Lobby oder organisierte Verbündete, die sich für sie einsetzen könnten. Zudem ist auch der Versuch, die Interessen nicht existenter Menschen zu repräsentieren, ein heikles Anliegen: Einerseits gibt es nicht die eine Generation, sondern "nahe und ferne" Generationen mit entsprechend unterschiedlichen Interessen. Andererseits würde es selbst bei der Festlegung auf eine Generation verschiedene, gar konträre Interessen geben (Setälä 2024).

Gerechtigkeit für zukünftige Generationen

Laut Schwarz (2022) liegt der zentrale Konflikt der intergenerationalen Gerechtigkeit darin begründet, dass es schwierig ist, die Interessen der von den gewählten politischen Maßnahmen Betroffenen zu identifizieren. Es stellt sich demnach die Frage, ob es gerecht ist, die Rechte heutiger Generationen für das Wohl abstrakter und unbekannter zukünftiger Generationen einzuschränken (Schwarz 2022). Diese Frage kann ebenso andersherum gefragt werden, d. h. ob es gerecht ist, mit heutigen Taten die Verletzung von Rechten künftiger Generationen in Kauf zu nehmen (Tremmel 2021).

Um Gerechtigkeit zwischen heute lebenden und noch ungeborenen Generationen zu adressieren, wird die zeitliche Dimension in bestehenden Gerechtigkeitstheorien mitgedacht. Obwohl (ungeborene) künftige Generationen noch keine konkreten Interessen haben, ist es möglich, ihre potenziellen Interessen wirkungsvoll zu berücksichtigen, bspw. über Institutionen, die Akteur:innen die Möglichkeit geben, im Namen der künftigen Generationen zu sprechen (vgl. Ekeli 2005).

Warum sollten künftige Generationen in der heutigen Entscheidung mitgedacht werden? Dafür gibt es verschiedene (theoretische) Begründungen:

  • Das Alle-Betroffenen-Prinzip (all-affected principle; siehe z. B. Näsström 2011; Setälä 2024) fordert, dass die Interessen aller, die von politischen Entscheidungen maßgeblich betroffen sind, bei der Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Da Auswirkungen von Entscheidungen in vielen Politikbereichen (weit) in die Zukunft reichen, könne das Alle-Betroffenen-Prinzip auch über zeitliche Grenzen hinweg angewendet werden.
  • Basierend auf John Rawls "Theorie der Gerechtigkeit" (1971) schlagen Überlegungen in Richtung einer unparteiischen Gerechtigkeit (impartial justice; vgl. Tremmel 2012; Setälä 2024) vor, ein Gedankenexperiment anzustellen: Gehe man davon aus, dass man nicht weiß, welcher Generation man angehört oder angehören wird, könne man eine stärkere Empathie für zukünftige Generationen entwickeln und Entscheidungen viel langfristiger denken.
  • Meyer (2024) betont über das Prinzip der bedürfnisbasierten Suffizienzauffassung, dass Angehörige aller Generationen über ein bestimmtes Mindestmaß an Wasser, Nahrung, Unterkunft, Kleidung und Bildung verfügen müssen. Dem Rechtsphilosophen geht es darum, "genug" für ein minimal gutes Leben zu haben. Menschen seien nämlich nur dann ausreichend autonom, um selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. In der Gegenwart müssten daher Bedingungen geschaffen werden, die das auch für zukünftige Generationen gewährleistet.

Welche zukunftsweisenden Ansätze gibt es in der Praxis?

Trotz Neigungen zum Präsentismus sind Traditionen langfristigen Denkens dem Menschen ebenfalls vertraut. Das sogenannte Kathedralendenken bezieht sich auf die Praxis von Kathedralenbauenden, die mit dem Bau begannen, obwohl sie wussten, dass sie dessen Fertigstellung wahrscheinlich nicht mehr erleben würden (Krznaric 2024). Mit Blick auf heutige politische Projekte bedeutet dies eine langfristige Vision, die eine Zukunft gestaltet, die über kurzfristige Ziele und Gewinne hinausgeht und kommende Generationen berücksichtigt (vgl. Krznaric 2024). Wie kann Kathedralendenken in politische Gestaltungsprozesse einfließen?

Im folgenden Abschnitt wird auf Beispiele verwiesen, in denen das Abschätzen von (möglichen) kurz-, mittel- und sogar langfristigen Folgen von Maßnahmen in demokratische Entscheidungsfindungen integriert wird.

Zukunftsorientierte Institutionen – Finnlands Zukunftsausschuss

Im Bereich der Exekutive (v. a. von Regierungen und Ministerien) ist Technikfolgenabschätzung ein bekanntes Mittel für langfristiges Planen. Zunehmend zeichnen sich auch in Parlamenten Ansätze zur zukunftsorientierten Politikgestaltung ab (Koskimaa und Raunio 2020). Das bekannteste Beispiel sehen Koskimaa und Raunio (2020; 2023) im Zukunftsausschuss (Committee for the Future) des finnischen Parlaments (Eduskunta), der 1993 eingesetzt wurde. Als eine Art Thinktank ermöglicht der Zukunftsausschuss einen Dialog zwischen Parlament und Regierung zu Themen der Zukunft, Wissenschaft und Technologie.

Die finnische Regierung legt mindestens einmal innerhalb einer Gesetzgebungsperiode ihren Zukunftsbericht dem Parlament vor. Der Zukunftsausschuss des Parlaments antwortet anschließend mit einem eigenen Zukunftsbericht. Dabei kann der Zukunftsausschuss zu einer Bandbreite an Themen eigene Schwerpunkte setzen – von Nanotechnologie bis hin zur kommunalen Demokratie. Das Ziel dabei ist es, frühzeitig politische Themen zu erkennen und dadurch politische Entscheidungsträger:innen mit mehr Handlungsspielraum auszustatten. Der Zukunftsausschuss agiert parteiunabhängig und -übergreifend, was eine Beständigkeit von Zukunftsthemen und institutionelle Kontinuität des Zukunftsausschusses über Wahlzyklen hinaus ermöglichen soll. Eine wissenschaftlich fundierte Zukunftsplanung soll durch die Einbindung nichtstaatlicher Akteur:innen und die Zusammenarbeit zwischen Ministerien, NGOs, Wissenschaftler:innen sowie Unternehmen gewährleistet werden.

Partizipative Inklusion zukünftiger Interessen – Zukunftsperspektive aus Japan

Das Konzept des Zukunftsdesigns (Future Design) fordert das Sackgassendenken in Bezug auf die Berücksichtigung künftiger Generationen heraus (Saijo 2022). Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass Eltern die Fähigkeit besitzen, das Wohlergehen der eigenen Kinder über das eigene zu stellen. Diese Fähigkeit soll im Sinne der Zukunftsfähigkeit (futurability) über partizipative Elemente auf Entscheidungsprozesse übertragen werden (Saijo 2019; 2022; Saijo u. a. 2022).

In Japan sollten die Teilnehmer:innen von experimentellen partizipativen Studien mit einer imaginären Zeitmaschine in die Zukunft reisen, beispielsweise in das Jahr 2050, ohne ihr Alter zu verändern. Sie sollten in dieser Zukunftsvorstellung eine Gesellschaft und Lebensstile entwerfen, aber auch ein zu dieser Vorstellung führendes Geschichtsszenario konstruieren. Davon ausgehend sollten sie Ratschläge an die gegenwärtig lebende Generation geben.

Das Konzept des Zukunftsdesigns und der Zukunftsfähigkeit findet in Japan seit 2018 zunehmend Anwendung in der Praxis. Die Stadt Yahaba führte mit einer Abteilung für Zukunftsstrategien die Zukunftsfähigkeit auf kommunaler Ebene ein (Hara u. a. 2019). Später rief das Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie eine Arbeitsgruppe ins Leben, die den Einsatz von Zukunftsdesign ausbauen und damit zur Revitalisierung von Regionen und Unternehmen sowie zur Lösung sozialer Probleme beitragen soll.

Verfassungspolitische Spielräume – Deutschlands Klimaurteil

Auch bestehende Institutionen wie Verfassungen oder Verfassungsgerichte und deren Interpretationsspielräume können einen Lösungsansatz für die strukturelle Nichtrepräsentation von künftigen Generationen darstellen (Tremmel 2021; Hartwig 2024). In diesem Sinne erkennt Hartwig (2024) im sogenannten Klimaurteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) einen progressiven Ansatz zur Integration der Interessen künftiger Generationen in bestehende Rechtsprechung.

Das deutsche Grundgesetz definiert seit 1994 mit dem Artikel 20a den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und damit des Klimas in Verantwortung auch für zukünftige Generationen als eines der Staatsziele. Dies bot den Richter:innen des BVerfG die institutionelle Grundlage für ihren Beschluss von 2021 in der historischen Zukunftsklage bzw. Klimaklage.

Die Richter:innen interpretierten die Verfassung teilweise im Sinne der Beschwerdeführenden. Damit erkannte der BVerfG in einem Beschluss vom 24. März 2021 die Verbindlichkeit der Rechtsnorm des Artikel 20a für den politischen Prozess "zugunsten ökologischer Belange auch mit Blick auf die besonders betroffenen künftigen Generationen".

Wie macht sich das österreichische Parlament zukunftsfit?

Die Technikfolgenabschätzung wird in Österreich seit den 1980er-Jahren als Politikberatungsinstrument eingesetzt. Das Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurde 1985 zunächst als Arbeitsgruppe eingesetzt und 1994 als eigenes Institut etabliert. Während das ITA in seinen Anfängen direkt für das Parlament arbeitete, erfolgte die Beratung in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren auf nicht institutionalisierter Ebene, etwa durch einzelne ITA-Mitarbeiter:innen als Expert:innen in parlamentarischen Hearings (Peissl & Nentwich 2005).

Im Herbst 2014 gab das österreichische Parlament die Pilotstudie "Zur Institutionalisierung von Foresight und Technikfolgenabschätzung für das österreichische Parlament" an das ITA in Auftrag. Aus dem Pilotstudienbericht (2015), der u. a. auf Interviews mit Parlamentarier:innen, parlamentarischen Mitarbeiter:innen sowie Mitarbeiter:innen der Parlamentsdirektion basiert, ging der Wunsch nach einer stärkeren Ausrichtung des Nationalrates in die Zukunft hervor. So legen besagte Interviews Vorschläge nahe wie einen Zukunftsausschuss nach dem Beispiel Finnlands nahe, eine Enquete-Kommission 2050, die sich mit zukünftigen Entwicklungen auseinandersetzt, oder eine Zukunftsthemendatenbank, die mit internen und externen Quellen gespeist werden sollte (S. 12).

Infolge der Pilotstudie und anschließender Ausschreibung kam die Institutionalisierung der Kooperation zwischen Parlament und ITA zustande. Im Rahmen der Zukunftsthemen wird halbjährlich das Monitoring zu Foresight & Technikfolgenabschätzung (FTA) veröffentlicht – ein wissenschaftlich fundierter Bericht zu soziotechnischen Entwicklungen und Trends sowie deren potenziellen Auswirkungen (Details zum gegenwärtig aktuellsten Bericht siehe hier: Foresight & Technikfolgenabschätzung: Monitoring November 2024).

Darüber hinaus wurde im Dezember 2015 der Ausschuss für Innovation, Technologie und Zukunft des Bundesrates konstituiert. Dieser Ausschuss berät überwiegend über digitale Themen wie Cybersicherheit, Telekommunikation und Technologieförderung, aber auch über Umweltthemen.

Zudem analysiert der Budgetdienst der österreichischen Parlamentsdirektion die Umsetzung des Haushaltsgrundsatzes der Wirkungsorientierung unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gleichstellung von Frauen und Männern (siehe dazu hier). Das umfasst insbesondere auch die Plausibilisierung von Wirkungsorientierten Folgenabschätzungen der Bundesverwaltung, die Auswirkungen sowie erwartete Kosten von geplanten Regelungsvorhaben und größeren Projekten darstellen. Die untersuchten Auswirkungen beziehen sich in der Regel auf Zeiträume von fünf Jahren, können jedoch in manchen Fällen sogar Horizonte von über 20 Jahren abdecken.

Beide Instrumente bieten wissenschaftlich fundierte Möglichkeiten zur vorausschauenden Politikgestaltung im kurz- und mittelfristigen Zeitrahmen.

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