Während der Gründungsphase der Republik ist das parlamentarische Geschehen von Kompromissfindung zwischen den Parteien bestimmt, um das Fundament für den neuen Staat zu sichern. Mit dem Wegfall der Revolutionsgefahr, der Klärung der Staatsgrenzen und der Einrichtung der Staatsorgane rückt die politische Profilierung in den Vordergrund.
Zwischen Ideologie und realpolitischer Vernunft
Neue politische Kräfteverhältnisse
Als im Sommer 1920 die Regierungskoalition aus Christlichsozialen und Sozialdemokrat:innen zerbricht, begrüßen beide Parteien die Chance für die eigene Profilierung.
Die Sozialdemokrat:innen setzen auf offensive Oppositionspolitik, um einer drohenden Spaltung zu entgehen und langfristig eine Stimmenmehrheit zu erreichen. Die Christlichsozialen forcieren die Rückeroberung der politischen Vorherrschaft und den Rückbau von Reformen, die unter dem Druck radikaler politischer Kräfte zustande gekommen waren.
Das Ergebnis der im Herbst 1920 durchgeführten erstmaligen Wahl zum Nationalrat bestätigt das veränderte politische Kräfteverhältnis. Gewinner der Wahl sind die Christlichsozialen.
Die Regierungsgeschäfte führt nun ein Kabinett aus Christlichsozialen, Großdeutschen und Fachleuten. Diese Konstellation – politische Vormacht der bürgerlichen Parteien und eine starke sozialdemokratische Opposition – bleibt bis zum Ende der Ersten Republik erhalten.
Parteienkonkurrenz und Kompromiss
Die Politik in der Ersten Republik ist durch starke ideologische Bindungen geprägt. Sie reichen in die Alltags- und Lebenswelt der Menschen hinein und finden Ausdruck in der Zugehörigkeit zu weltanschaulichen Lagern, die sich scharf voneinander abgrenzen und um die Mehrheit im Staat konkurrieren.
Die Sozialdemokrat:innen setzen auf den Gewinn politischer Macht durch die Arbeiter:innenklasse. Ihr Ziel ist die Überwindung des kapitalistischen Systems auf demokratischem Weg. Gewaltanwendung im Falle der Verhinderung eines Machtwechsels durch die Gegenseite schließen sie jedoch nicht aus.
Das katholisch-konservative christlichsoziale und das deutschnationale Lager finden eine gemeinsame Basis in der Ablehnung des Marxismus. Beide sind skeptisch gegenüber der Parteienvielfalt und dem Parlamentarismus. Sie bevorzugen einen einheitlichen Staat mit einer starken Regierung. Viele aus diesen Partei haben Sympathien für autoritäre Staats- und Regierungsformen.
Ideologische Verwerfungen
Die scharfen weltanschaulichen Trennlinien spiegeln sich auch in der parlamentarischen Arbeit wider. Die Parteien nutzen das Parlament als Tribüne für ideologische Profilierung, übertragen gesellschaftliche Spaltungen in das Hohe Haus und scheuen sich vor der Übernahme von Verantwortung im Staat.
Als scharfe Kritikerin der Regierung tritt nicht nur die sozialdemokratische Opposition auf. Auch die seit 1920 in der Großdeutschen Volkspartei (GDVP) zusammengeschlossenen Deutschnationalen votieren in einigen Fällen gegen Gesetzesinitiativen von Regierungen, die sie selbst mitgewählt haben.
Zwar finden die konkurrierenden politischen Lager in wichtigen Fragen letztlich doch oft zu einem Konsens, wechselnde Mehrheiten im Nationalrat, mangelnde Dialogfähigkeit der Parteien und wiederholte Regierungsumbildungen erschweren aber rasche Lösungen anstehender Probleme und mindern das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie.
Parlamentarische Sonderkonstruktion für Budgetsanierung
Mehrere Versuche, die Sanierung des schwer defizitären Staatshaushalts anzugehen, scheitern, weil keine parlamentarische Mehrheit für eine Budgetreform zu finden ist. Hyperinflation und Staatsbankrott drohen.
Im August 1922 ersucht Bundeskanzler Ignaz Seipel den Völkerbund um Finanzhilfe und spezielle Vollmachten für die Regierung, um einschneidende Sparmaßnahmen ohne Zustimmung des Parlaments durchsetzen zu können. Die sozialdemokratischen Abgeordneten stimmen den hierfür geplanten Verfassungsänderungen im Nationalrat nicht zu.
Letztlich kommt mit der Einsetzung eines von allen Parlamentsparteien beschickten "Außerordentlichen Kabinettsrates" und einer Abänderung der Geschäftsordnung des Nationalrats ein Kompromiss zustande: Der Nationalrat ist auf Verlangen eines Viertels der Mitglieder oder der Bundesregierung jederzeit sofort einzuberufen (BGBl. 847/1922).
Bundespräsident Michael Hainisch unterstreicht in einem am 18. Juli 1923 aufgenommenen Phonogramm die Leistung der Regierung Seipel bei der Bekämpfung der Inflationskrise.