Ende der 1950er-Jahre sind Symptome einer beginnenden Krise in der "Großen Koalition" erkennbar. Das System vorparlamentarisch akkordierter Politik und proporzmäßiger Aufteilung der Einflusssphären war in der ersten Nachkriegszeit Ausdruck des Kooperationswillens und strategischer Einsicht. Um die dringend notwendige Modernisierung Österreichs auf den Weg zu bringen ist es ungeeignet.
Proporzsystem in der Krise
Mehrheiten für die Weiterführung der "Großen Koalition"
Die erste Nationalratswahl nach Abschluss des Staatsvertrags bringt der ÖVP große Zuwächse: Ihr Vorsprung gegenüber dem Koalitionspartner wächst auf acht Mandate. Verlierer der Wahl 1956 ist die nunmehr als FPÖ kandidierende Rechtspartei. Sie verliert mehr als die Hälfte ihrer Mandate.
Bei den Wahlgängen 1959 und 1962 büßt die ÖVP einen Teil ihres Vorsprungs wieder ein, bleibt aber mandatsstärkste Partei. Die Kommunisten verfehlen bei der Wahl 1959 die für den Einzug in den Nationalrat erforderliche Stimmenanzahl, sodass diesem nur mehr drei Fraktionen – ÖVP, SPÖ und FPÖ – angehören. Die FPÖ legt an Stimmen zu, bleibt aber weit unter der Mandatsstärke ihrer Vorgängerpartei WdU.
Koalitionsvereinbarungen
ÖVP und SPÖ bilden wieder Regierungskoalitionen. In den ausgehandelten Koalitionsvereinbarungen legen sie die politischen Vorhaben und die proporzmäßig aufzuteilenden Einflussbereiche für die jeweilige Gesetzgebungsperiode fest.
Die Vereinbarungen enthalten zudem eine Klausel, dass bei strittigen Themen der Koalitionsausschuss zu konsultieren sei, dem auch die Klubobleute angehören müssen. Die politische Entscheidungsfindung erfolgt wie bisher im Wesentlichen außerhalb des Parlaments.
1956 wird der Koalitionspakt erstmals in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Der Koalitionsausschuss tagt im Bundeskanzleramt – ein symbolischer Ausdruck der Stellung der Regierung als Zentrum der politischen Macht. 1961 wird der Tagungsort ins Parlament verlegt, was aber keine Aufwertung der Volksvertretung bedeutet, sondern einen Bedeutungsverlust des Koalitionsausschusses zugunsten der Sozialpartner.
Proporzsystem verliert Funktionsfähigkeit
Ende der 1950er-Jahre mehren sich Anzeichen einer Krise der Proporzdemokratie. Mangelnde Reformbereitschaft, der bestimmende Einfluss der Politik auf die Wirtschaft und die nun vielfach als "Packelei" wahrgenommene Kompromisskultur lassen den Ruf nach einer "Versachlichung" der Politik und nach einer Aufwertung des Parlaments im politischen Prozess laut werden.
Die Regierungsparteien versuchen im Regierungsübereinkommen vom 16. Juli 1959 einen "koalitionsfreien Raum" bereitzustellen, in dem "beide Koalitionsparteien für die Behandlung im Parlament freie Hand" haben sollen.
Damit wollen die Koalitionspartner mehr Freiraum für die jeweils eigene politische Profilierung auf der parlamentarischen Bühne schaffen.
Nachholbedarf: direkte Demokratie und parlamentarische Kontrolle
1958 verhandelt der Nationalrat Durchführungsregelungen für die Instrumente der direkten Demokratie, die in der Bundesverfassung verankert waren. Während die Fraktionen beim Volksabstimmungsgesetz bald eine Einigung erzielen, ziehen sich die Beratungen zum Volksbegehrengesetz hin. Erst in der übernächsten Legislaturperiode kommt ein Gesetzesbeschluss zustande (BGBl. Nr. 197/1963). In den Debatten zur Vorlage äußern die Großparteien ÖVP und SPÖ Bedenken gegenüber einem möglichen propagandistischen Einsatz von Volksbegehren.
Einen wichtigen Schritt zum Ausbau der parlamentarischen Kontroll- und Minderheitsrechte setzt der Nationalrat mit der Reform des Geschäftsordnungsgesetzes 1961 (BGBl. Nr. 178/1961). Die neu eingeführte Fragestunde am Beginn einer Nationalratssitzung erlaubt den Mandatar:innen, kurze mündliche Anfragen an die Regierung zu richten.
Auch im Bundesrat wird dieses Instrument der parlamentarischen Kontrolle eingeführt. Erstmals ausdrücklich in der neuen Geschäftsordnung des Nationalrats verankert wird die für die parlamentarische Arbeit wichtigen, bereits im Reichsrat der Monarchie bestehenden, Parlamentsklubs bzw. Fraktionen.
Das Ende der "Großen Koalition"
Schon die ungewöhnlich lange Dauer der Koalitionsverhandlungen nach der Nationalratswahl vom November 1962 zeigt, dass die Konsensfindung zwischen den beiden Parteien zunehmend schwieriger wird. Die ÖVP hatte in den Wahlen zugelegt, die SPÖ leicht verloren. Es dauert vier Monate, bis sich die beiden Parteien schließlich auf ein Regierungsprogramm einigen.
Bereits in den ersten Monaten des neuen Regierungsbündnisses zeichnet sich ein Bruch der Koalition ab: Es geht um die Frage der Einreise von Otto Habsburg-Lothringen nach Österreich. Gemeinsam mit der FPÖ wendet sich die SPÖ in der von ihr verlangten Sondersitzung des Nationalrates gegen den Koalitionspartner ÖVP.
Hintergrund der Auseinandersetzung ist die Frage, ob die vom Kaisersohn abgegebene Erklärung des Verzichts auf Herrschaftsansprüche und der Loyalität zur Republik im Sinne des Habsburgergesetzes die Bedingungen für eine Aufhebung der Landesverweisung erfüllt.
Die "Habsburg-Krise"
Im Nationalrat entfacht die "Habsburg-Krise" eine Grundsatzdebatte über die Gewaltenteilung, die Revision höchstgerichtlicher Urteile und das parlamentarische Selbstverständnis.
Auch im Bundesrat gibt es eine lebhafte Debatte zu dieser Causa. Auszüge aus den Wortmeldungen der Abgeordneten Karl Czernetz (SPÖ) und Theodor Piffl-Percevic (ÖVP) in der Sitzung vom 5. Juni 1963 geben einen Eindruck von den Positionen der beiden Koalitionspartner.
Bürgerliche Beteiligung
In dieser Gesetzgebungsperiode machen erstmals auch Bürger:innen von ihrem Recht auf Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens Gebrauch. Mehr als 830.000 unterschreiben Anfang Oktober 1964 ein von rund 50 Zeitungen initiiertes Volksbegehren gegen Proporzsystem und Parteieneinfluss in Rundfunk und Fernsehen.
Über ein Jahr lang verhandeln die Koalitionsparteien eine in Aussicht gestellte Reform, ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Die SPÖ fürchtet, unter dem Deckmantel der Unabhängigkeit des Rundfunks um ihren Einfluss gebracht zu werden; die ÖVP wirft der SPÖ vor, mit ihren Vorschlägen jede Reform verhindern zu wollen.
Angesichts des unerwartet hohen Votums der Bürger:innen setzt sich der zuständige parlamentarische Sonderausschuss eine Frist für den abschließenden Bericht. Die Regierungsparteien finden zu keinem Konsens. Das Gesetz wird erst in der nächsten Gesetzgebungsperiode unter der ÖVP-Alleinregierung mit den Stimmen von ÖVP und FPÖ beschlossen (BGBl. Nr. 195/1966).
Ende des Proporzsystems
In der Nationalratsdebatte vom 8. Juni 1966 fasst der Abgeordnete Alfons Gorbach (ÖVP) die Geschichte der parlamentarischen Verhandlungen zur Rundfunkreform und dem Volksbegehren aus Sicht der ÖVP zusammen. Der Abgeordnete Willi Liwanec (SPÖ) legt den Standpunkt der sozialdemokratischen Opposition dar.
Die Anzeichen für das Ende des Proporzsystems sind unübersehbar. Innerhalb der beiden Parteien drängen Reformer:innen an die Spitze; eine zusehends kritische Öffentlichkeit macht nachdrücklich von ihren Rechten auf demokratische Partizipation Gebrauch.
Der Wechsel kommt mit den Wahlen im März 1966, als die ÖVP unerwartet hoch gewinnt und mit 85 Abgeordneten eine absolute Mehrheit im Nationalrat erlangt.
Alleinregierung und starke Opposition
Die SPÖ, durch innerparteiliche Machtkämpfe geschwächt, verliert zwei Mandate. Dennoch führt die ÖVP Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ, die am 18. April 1966 scheitern.
Abgeordneter und Noch-Außenminister Bruno Kreisky kündigt den Gang in die Opposition an und antwortet auf Fragen eines Journalisten zur neuen Rolle seiner Partei.
Mit der Angelobung der Alleinregierung Josef Klaus am Tag darauf beginnt auch eine neue parlamentarische Ära, in der die Mehrheitsfraktion erstmals in der Zweiten Republik einer starken Opposition gegenübersteht.